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Légataire 1706.“ Diese Lustspiele sind überaus lebendig und zeitgetreu.

Regnard, aus einem wilden und abenteuerlichen Jugendleben hervorgegangen und zuletzt zu hoher und einträglicher Stellung gelangt, ist der lachende Philosoph des heiteren Lebensgenusses, der Vorläufer jener eleganten Epikuråer, welche unter der Regentschaft den Ton der feinen Welt bestimmen. Unerschöpflich an Einfällen und Verwicklungen, die glänzende und ausschweifende „jeunesse dorée" seines Zeitalters zu schildern, ist der Schauplah seiner Stücke das leichtfertige Hôtel garni; seine Haupthelden sind der »Chevalier,« der schöne, tapfere, leichtsinnige, verführende, spielende, trinkende, rauflustige junge Adliche, und der »Marquis,« welcher, gleich dem Parasiten des alten Lustspiels, durch Liederlichkeit und Verschwendung herabgekommen, von Spiel, Betrug und Schmeichelei lebt und als erfahrener Genosse die losen Streiche des jungen Herrn begünftigt und leitet. Es ist viel åchte Laune und Lustigkeit in diesen Stücken, aber nichtsdestoweniger kann uns in ihnen nicht wohl werden. Wer mag lachen über diese innere Fåulniß, über diese blasirte Verlumptheit, welche der Dichter nicht nur rechtfertigt, sondern sogar arglos als Ideal preist? Und der Eindruck wird um so verleßender, da, wie schon Lessing in seiner Dramaturgie (Lachm. Bd. 7, S. 126) hervorhebt, viele seiner Charaktere einseitig überladen find, mehr Masken als lebendige und warmblutige Menschen.

Grade angesichts solcher Haltlosigkeit und Zerfahrenheit ist es ein erquickendes Zeugniß für die Unverwüstlichkeit der sittlichen Menschennatur, daß die hervorragendsten Schriftsteller dieser Zeit Satiriker sind. Es sind La Bruyère und Lesage.

›Satirisch ist der Dichter,« sagt Schiller in seiner Abhandlung über naive und sentimentale Dichtkunst, »wenn er die Entfernung von der Natur und den Widerspruch der Wirklichkeit

Hettner, Literaturgeschichte. II,

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mit dem Ideale zu seinem Gegenstand macht. Dies kann er aber sowohl ernsthaft und mit Affect, als scherzhaft und mit Heiterkeit ausführen, je nachdem er entweder im Gebiete des Willens oder im Gebiete des Verstandes verweilt; jenes geschieht durch die strafende oder pathetische, dieses durch die scherzhafte Satire.« La Bruyère und Lesage gehören in die Klasse der scherzhaften Satiriker.

Jean de La Bruyère, 1639 oder, wie Andere sagen, 1644 zu Dourdan in der Normandie geboren, war unter Fenelon einer der Erzieher des Herzogs von Burgund. Sein angeborenes Talent der feinsten Menschenbeobachtung fand in der höfischen Umgebung die reichste Fülle; wie Fenelon staatsmånnisch, wurde La Bruyère sittlich zum heftigsten Widerstand wachgerufen. Im Jahre 1688 erschien sein Buch: „Les caractères de Théophraste traduits du grec, avec les caractères ou les moeurs de ce siècle." Diese erste Ausgabe enthält vorwiegend allgemeine Betrachtungen, äußerst feinsinnig und scharf beobachtete »Sentenzen und Marimen« nach der Art Pascal's und La Rochefoucauld's, wenn auch in durchaus anderer Sinnesweise. La Bruyère selbst sagt, er seinerseits suche die Menschen vernünftig zu machen, wåhrend Pascal sie glåubig, La Rochefoucauld sie selbstsüchtig ́ mache. Man kennt sein berühmtes Wort: „Un homme né chrétien et Français se trouve contraint dans la satire; les grands sujets lui sont défendus. Il les entâme quelquefois et se détourne ensuite sur de petites choses qu'il relève par la beauté de son génie et de son style." Gleichwohl verfolgt er, so viel nur irgend möglich, unerbittlich alle Schwächen und Erbårmlichkeiten der öffentlichen Verhältnisse. Seine Capitel: »Ueber den Herrscher und über den Staat,« »Ueber den Menschen,« »Ueber die Mode« sind nicht blos bewunderungsa ürdig durch ihre geistreiche Feinheit, sondern mehr noch durch ihre muthvolle Tapferkeit. La Bruyère, welcher vom Scheinheiligen die treffende Erklärung

hat: „Un Dévot est celui, qui sous un roi athée serait athée,“ scheut sich nicht, auf den König unmittelbar selbst zu zielen, indem er ihm folgenden Rath giebt: »Es ist für einen gottesfürchtigen König eine sehr peinliche Sache, den Hof bekehren und fromm machen zu wollen; da er weiß, daß der Höfling bestrebt ist, ihm um jeden Preis zu gefallen, wird er ihn klüglich schonen und geduldig tragen, weil er fürchten muß, ihn sonst in Heuchelei zu stürzen; er erwartet mehr von Gott und der Zeit als von seinem absichtlichen Eifer.« Von 1688 bis zu dem im Mai 1696 erfolgendem Tod La Bruyère's erschienen neun Auflagen; fie behalten dieselben Gedanken, aber eine jede wird immer reicher und tiefer in der künstlerischen Gestaltung, das Allgemeine wird unterstüßt und erläutert durch das Einzelne, das Wort durch das Bild. Der Sittenlehrer wird satirischer Charakterzeichner, wird Sittenmaler. Was Lafontaine nur unter der Maske der Thierfabel vorzutragen gewagt hatte, erscheint in der Form portråthafter Persönlichkeit. Und diese Bilder sind so fein umrissen, so sauber ausgeführt, so lebenswarm und bis in das innerste Herz getroffen, und über ihnen liegt eine so milde Beleuchtung, eine so anmuthige und schalkhafte Ironie, wie sie nur einer edlen und liebenswürdigen, einer im besten Sinn schdnen Seele gelingt. Regnard hat seinen Zerstreuten einem Charakterbilde Labruyère's nachgebildet.

Lesage ist, wie man treffend gesagt hat, der in Scene geseşte La Bruyère. Die Studienblåtter werden ausgeführte Gemålde, die Satire wird satirischer Roman.

René Lesage war am 8. Mai 1668 zu Sarzeau auf der Halbinsel Rhuys in der Bretagne geboren. Durch einen treulosen Vormund um sein Vermögen betrogen, kam er 1693 nach Paris und lebte hier vom Ertrage seiner Arbeit. Er starb am 17. November 1747 zu Boulogne sur mer im Hause seiner Tochter. Zuerst hatte Lesage sein Glück als Lustspieldichter versucht; aber

ohne Erfolg. Selbst sein bestes Lustspiel »Turcaret,« eine Sa= tire gegen die Finanzmånner und Generalpåchter, war ohne lange Dauer. Desto gewaltiger wirkte sogleich sein erster Roman, „Le Diable boiteux," welcher 1707 erschien. Titel und Plan sind einer spanischen Novelle von Don Luiz Valez de Guevara „el diabolo cojuelo“ entlehnt; aber Auffassung und Fårbung ist durchaus französisch. Asmodi, ein schelmischer Diener des Teufels, führt einen jungen leichtsinnigen Spanier, Don Cleophas auf einen der Thürme von Madrid; auf seinen Zauberwink heben sich die Dächer der Häuser ab. Wir blicken in die Geheimnisse der innersten Gemächer, in die bunte Vielgeschäftigkeit der verschiedenen Stånde, Charaktere und Lebensalter, in das drångende Auf und Ab der Leidenschaften, Laster und Thorheiten; eine Reihe der ergöhlichsten und belehrendsten Bilder, Erzählungen und Betrachtungen. Walter Scott, welcher eine sehr anziehende Lebensbeschreibung unseres Dichters geschrieben hat, sagt mit Recht, daß es kaum irgend ein anderes Buch der Welt gebe, in welchem so tiefe Blicke in den menschlichen Charakter in so klarer und anmuthiger Darstellung geboten werden. Für die Zeitgenossen war die Wirkung um so blißartiger, je neuer ihnen diese Dichtart war, und je pikanter durch leicht erkennbare persönliche Anspielungen. Und noch bedeutender ist Lesage's zweiter Roman, Gil Blas de Santillane; er ist auch einheitsvoller in der Kunstform. Lesage wählte, wie schon früher Scarron in Frankreich und der Verfasser des Simplizissimus in Deutschland, die von Spanien ausgegangene Gattung der sogenannten Schelmenromane. Er hielt die spanischen Formen und Farben so streng fest und traf sie so naturgetreu, daß die Spanier gern, obwohl völlig grundlos, den Gil Blas als Uebersehung und Bearbeitung eines spanischen Urbildes ausgeben. Aber auch dieser Roman ist doch durch und durch französisch; in seinen Vorzügen sowohl wie in seinen Mångeln. Die beiden ersten Bånde erschienen 1715, der dritte

Band 1724, der vierte 1735. Die Grundstimmung ist bereits durch die ersten Bånde sicher vorgezeichnet und gehört den lehten Jahren Ludwigs XIV. an. Gil Blas ist ein begabter, aber vernachlässigter Knabe. Er zieht in die Welt, sein Glück zu suchen, wird sogleich bei seiner ersten Wanderung um alle seine Habe betrogen, wird von Räubern eingefangen, muß mit diesen rauben und stehlen, entflieht endlich, wird sodann bei den verschiedensten Menschen und unter den verschiedensten Stånden, bei Edelleuten, Geistlichen, Gecken und Schauspielerinnen als Diener umhergeworfen, arbeitet sich durch seine gutangebrachten Kenntnisse und muntere Anstelligkeit und durch die trok aller Schlacken unversehrte Bravheit seiner Gesinnung zuerst zum Schreiber, dann zum Vertrauensmann des ersten Ministers hinauf, wird dann wieder in Folge eigenen Leichtsinns und fremder Intrigue ins Elend und Gefängniß gestoßen, wird befreit, erhebt sich durch Gönner, die er sich durch wesentliche Dienste verpflichtete, zu wohlhåbigem Besit, gelangt darauf wieder zu hohen Staatsehren und beschließt endlich sein Leben in der zufriedenen Heiterkeit ländlichen Glückes. Es ist leicht zu sehen, daß unter einer solchen Fülle der buntesten Wechselfälle kein einziges irgend bedeutendes Lebensverhältniß unberührt bleibt. Wenn Lesage die Erschütterung des alten Reiches schildert, die Fehlgriffe und Eigensüchtigkeiten der Minister, die Gaunereien und Unterschlagungen der Unterbeamten, so erblicken wir entseßt die ganze verrottete Wirthschaft der öffentlichen Zustånde unter dem alternden König, ebenso wie die lebendigen Schilderungen des Stadtlebens, der Stußer, Schauspieler und Schriftsteller ein vernichtendes Abbild der tåglich wachsenden Sittenverwilderung geben. Und der reiche Inhalt hat seine volle, åcht dichterische Ausgestaltung gefunden. Indem Gil Blas ganz wie der englische Robinson seine eigenen Denkwürdigkeiten schreibt, führt er uns mit inniger Selbstvertiefung in seine Erlebnisse, Stimmungen und Wandlungen und weiß durch die schlichte, treu

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