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leugnung, besser sei als der Aberglaube, und daß daher der Staat auch den Atheisten unumschränkte Duldung zu gewähren habe. Dieselbe Forderung der Duldung auch für Juden, Türken und Gottesleugner wiederholt er in den trefflichen Flugschriften, welche er auf Grund der französischen Protestantenverfolgungen schrieb, namentlich in der kleinen Flugschrift „Ce que c'est la France toute catholique sous Louis le Grand" und in dem,,Commentaire philosophique sur les Paroles: Contrains-les d'entrer." »>Was soll man,« ruft er entrüstet aus, »bei derartigen Gewaltthätigkeiten vom Christenthum urtheilen? Muß man nicht meinen, daß es eine blutdürftige Religion sei, welche, um ihren Gewissenszwang voll ins Werk zu sehen, selbst nicht Lug und Trug, nicht falsche Eide, Dragonaden, Henker und Inquisition scheut?« Bayle hat durch seine verschiedenen Zeitschriften und durch sein philosophisches Wörterbuch wie kein Anderer dahin gewirkt, daß der ausschließlich theologische Gesichtskreis des Zeitalters endlich durchbrochen und der Blick erweitert wurde. Aber die eigenste epochemachende Bedeutung Bayle's besteht darin, daß er den Widerspruch zwischen Denken und Glauben, Vernunft und Offenbarung mit einer Tiefe und Schårfe, mit einer Kühnheit und Unerschrockenheit hervorhebt, wie außer Spinoza dieser Bruch mit der Scholastik noch nie so entschieden und, was schwer ins Gewicht fållt, noch nie so allgemeinfaßlich vollzogen war. Bayle blieb sein ganzes Leben hindurch Cartesianer; die im Jahre 1737 aus seinem Nachlaß als Système de philosophie herausgege= benen philosophischen Vorträge, welche er in Sedan und Rotterdam gehalten, sind durchaus nichts anderes als eine klare und übersichtliche Darlegung der cartesischen Grundsätze. Aber, wåhrend Descartes sein Denken entweder der Kirche schlechthin unterwirft oder doch die Kluft, welche ihn von der Kirche trennt, verhüllt und überdeckt, macht Bayle gerade diese, wie es ihm scheint, unausfüllbare Kluft zum vornehmsten Gegenstande seines

Empfindens und Denkens. fittlichem Gebiet, wenn er biblische Charaktere wie David nach Maßgabe der Vernunft tadeln und andererseits unter Heiden und selbst unter offenen Gottesleugnern untadelhafte Größe anerkennen muß; er findet ihn auf dem Gebiete der Glaubenssåße, wenn er den Urgrund des auf die Erlösungsbedürftigkeit gebauten Christenthums in der Sünde suchen soll und die Sünde sowie das Uebel überhaupt doch weder mit der Allmacht noch mit der Güte und Heiligkeit Gottes vereinbaren kann. Zwischen diesen Gegensåten wird Bayle ruhelos umhergetrieben. Meist ist er im Text glåubig und in den Anmerkungen voll der gewichtigsten Einwürfe. Wohin in dieser Kreuzung der Wege sich wenden? Bayle allerdings brüstet sich trohalledem mit seiner protestantischen Rechtgläubigkeit; wie Pascal schließt er aus dem Zweifel nicht auf die Nichtigkeit des Glaubens, sondern auf die Nichtigkeit der Vernunft. Aber immerhin. Der Wurm bohrt tiefer. Wie durchgreifend die Ansichten Bayle's die Denkweise der Zeitgenossen beherrschten, ersieht man am besten daraus, daß die Frage nach dem Wesen und Ursprung des Uebels für lange Zeit der Ausgangspunkt und die Grundfrage alles religiösen und philosophischen Denkens wurde. Nicht blos Leibniz in der Theodicee, sondern die gesammte englische, französische und deutsche Aufklärungsphilosophie hielt das Dasein Gottes nicht für erwiesen und gesichert, bevor nicht die Nothwendigkeit des Uebels in der göttlichen Weltordnung auf die eine oder die andere Weise gerechtfertigt schien.

Er findet diesen Widerspruch auf

Es war daher ein durchaus folgerichtiger Fortschritt, daß sogleich dicht neben und nach Bayle die Anfånge der sogenannten Vernunftreligion sich erhoben. Der Glaube kann den Zweifel durchhauen, aber lösen kann ihn nur das Denken selbst.

In der französischen Literatur geschieht diese Fortbildung zuerst in Le Clerc. Jean Le Clerc, aus einer alten Genfer Gelehrtenfamilie stammend, war seit 1684 als Professor der Philo

sophie an der Arminianerschule zu Amsterdam angestellt, woselbst er auch 1737, achtundsiebzig Jahre alt, starb. Am bekanntesten unter seinen vielfachen Schriften sind die „Entretiens sur diverses matières de theologie" und der „Traité de l'incredulité,“ besonders aber seine Zeitschriften: „Bibliothèque universelle et historique", 1686-1693, „Bibliothèque choisie", 1703—13, „Bibliothèque ancienne et moderne," 1714-27. An Gelehrsamkeit und Scharfsinn steht Le Clerc weit hinter Bayle zurück; an Klarheit und Entschiedenheit überragt er ihn. Wo Bayle Skeptiker ist, ist Le Clerc Rationalist. Er unterwirft das Denken nicht dem Glauben, sondern den Glauben dem Denken. Die Offenbarung gilt ihm nur, insoweit sie der Vernunft entspricht.

Von jezt ab wachsen diese Neuerungen mit reißender Schnelle und beginnen sogar sogleich zu entarten. Tyssot de Patot, Professor der Mathematik in Deventer, ebenfalls ein reformirter Flüchtling, schreibt 1710 einen Roman: „Voyages et aventures de Jacques Massé," welcher die Möglichkeit der Offenbarung und die Möglichkeit der Unsterblichkeit und Auferste hung leugnet und bereits die derbsten Spöttereien gegen das Christenthum enthält. Freilich zeigen die im Jahre 1727 in zwei Bånden erschienenen ,,Lettres choisies" deutlich, daß er ein durchaus leichtfertiger und oberflächlicher Mensch ist, in welchem die schöngeistige Sucht steckt, nur immer möglichst neu und auffallend zu sein.

Wie bedeutsam, daß schon hier in diesem ersten Entstehen des freien Denkens die Verbindung mit England, welche für die Folgezeit maßgebend wurde, sogleich sehr anregend auftritt! Locke, dem König Jacob II. als Freund und Schüßling des alten Grafen Shaftesbury verdächtig, war von der Universitåt Orford ausgestoßen und lebte lange Jahre hindurch zu Amsterdam in stiller Verborgenheit. Es wird berichtet, daß er allnächtlich dort mit einem Kreise von Gelehrten und Denkern verkehrte, an welchem

Gegen

Le Clerc einer der hervorragendsten Theilnehmer war. das Ende des Jahres 1687 schrieb Locke den ersten Entwurf seines großen Werkes über das menschliche Erkenntnißvermögen. Le Clerc übersetzte denselben und veröffentlichte ihn 1688 im Januarheft der Bibliothèque universelle.

So standen die religiösen Kåmpfe in den letzten Jahren Ludwigs XIV. Nicht blos das Kirchenthum, sondern die Gläubigkeit selbst war erschüttert. Alles kündigte, an, daß ein neues Zeitalter gekommen sei.

Drittes Capitel.

Der Verfall des Klassizismus und das Uebergewicht der Satire in der Dichtung.

Crebillon der Weltere und Regnard. La Bruyère und Lesage.

Wollen wir wissen, wo der Schwerpunkt eines Zeitalters liegt, so müssen wir fragen, in welchen Bestrebungen es die vorangegangenen Zeitalter überflügelt und in welchen es hinter den anderen zurückbleibt. Heutzutage z. B. haben wir Geschichtschreiber und Naturforscher, so groß und scharfblickend wie bisher niemals, während keiner unserer Dichter und Philosophen auch nur annåhernd an die Größe Goethe's und Schiller's, Kant's, Schelling's und Hegel's hinanreicht.

Von diesem Gesichtspunkt erscheint die Wendung, welche die französische Dichtung in den letzten Jahren Ludwigs XIV. nimmt, äußerst denkwürdig. Weder Corneille und Racine noch Molière

haben einen nur irgend ebenbürtigen Nachfolger gefunden; dagegen kommt eine neue Dichtart zu höchst glücklicher Ausbildung, die Satire und der satirische Roman.

Es ist in der That auffallend, wie rasch sich jener hochstrebende Stil, welcher den stolzen Namen des Klassizismus trågt, in Frankreich erschöpft hatte. Lafosse und Lagrange-Chancel_bewahren zwar die alten Formen der Tragik, aber der belebende Geist fehlt. Crebillon, unter diesen nachgeborenen Tragikern der hervorragendste, wird von den Franzosen der Schreckliche genannt, weil er, wie alle schlechten tragischen Dichter, das Tragische in dem Peinigenden und Martervollen sucht; Corneille, pflegte er zu sagen, habe den Himmel, Racine die Erde geschildert, ihm bleibe daher nur die Schilderung der Hölle. Schüchtern regen sich bereits einige waghalsige Kehereien. Lamotte bekämpft die Allgemeingiltigkeit der drei Einheiten, beklagt den Ueberfluß der langen Reden und den Mangel an Handlung, ja er glaubt sogar, um dem Jagen nach falscher Erhabenheit die Verlockung zu nehmen, den Vers verdrången und dafür die Prosa einführen zu müssen; doch auch er beharrt noch unwandelbar bei der hergebrachten Etikette, für die tragischen Helden åußere Hoheit und vornehmen Rang zu fordern. Und Louis Racine, der Sohn des Tragikers, dichtet zwar religiöse Oden und Lehrgedichte nach der alten Tonart, zugleich aber verweist er in seinen kritischen Schriften auf Lope de Vega und Shakespeare und überseht sogar bereits Milton, welchen Boileau vielleicht nicht einmal dem Namen nach kannte.

Frischer und lebenskräftiger ist das Lustspiel. Boursault liefert ansprechende Kleinigkeiten, Legrand hat einen kecken Zug nach dem Phantastischen; Regnard pflegen die Franzosen sogar dicht neben Molière zu stellen. Regnard hat von 1694-1708 zehn Lustspiele gedichtet; die bekanntesten derselben sind: „Le Joueur 1696, Le Distrait 1697, Les Menéchmes 1705, Le

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