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begnügen uns, nur Destütt de Tracy zu besonderer Betrachtung hervorzuheben. Dieser ist unbestreitbar der hervorragendste. Wenigstens darf er das Verdienst in Anspruch nehmen, daß er sich seine Aufgabe am tiefsten und umfangreichsten gestellt hat..

Antoine Louis Claude, Graf Destütt de Tracy ist am 20. Juli 1754 geboren. Er betheiligte sich lebhaft an der französischen Revolution und ist, obgleich er unter der Herrschaft Napoleon's Senator, unter den Bourbons Pair war, doch niemals seinen freisinnigen Jugendidealen untreu geworden; noch als sechsundsiebzigjähriger, fast erblindeter Greis bestieg er, einen langen Stock in der Hand, die Barrikaden der Julirevolution. Er starb am 10. Mårz 1836. Sein Hauptwerk sind die Élémens d'Idéologie, welche 1801-15 in fünf Bånden erschienen. Außerdem hat er einen sehr geistvollen, von Morstadt übersetzten Commentaire sur l'Esprit des Lois de Montesquieu geschrieben. Wenn Napoleon seinen Haß gegen die vermeintlich unfruchtbare Wissenschaft als Haß gegen die Ideologen zu bezeichnen pflegte, so ist dieser Ausdruck unverkennbar der Ueberschrift von de Tracy's Werk entlehnt.

In der Widmung an Cabanis, welche Destütt de Tracy dem dritten Band seines Buches beigegeben hat, bekennt er ausdrücklich den bestimmenden Einfluß, welchen Cabanis auf ihn übte. Ebenso unzweideutig bezeugt das Buch selbst diesen Einfluß. Auch hier gilt die Wissenschaft vom menschlichen Geist wesentlich nur als ein Theil der Naturgeschichte oder, wie sich der Verfasser ausdrückt, der Zoologie; und auch hier erscheint das Denken und Wollen lediglich nur als Nervenempfindung, ganz und gar in den Eindrücken und Bedingungen des Nervenlebens aufgehend. Aber Destütt de Tracy spinnt den Faden selbståndig weiter, welchen Cabanis vorzeitig abgebrochen hatte. Cabanis hatte die wissenschaftliche Grundlegung zu einer Physiologie des Geistes gegeben; de Tracy legt Hand an den vollständigen

Hettner, Literaturgeschichte. II.

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Ausbau. Die Élémens de l'Idéologie sind der Versuch, von naturwissenschaftlichem Standpunkt aus die naturwissenschaftliche Beobachtungs- und Behandlungsweise auf die Beobachtung und Behandlung der geistigen Fähigkeiten und Thätigkeiten anzu

wenden.

Daher dieselben Fragen und Anschauungen, welche wir bereits bei Condillac fanden; nur materialistischer durchgebildet und mehr in die Verzweigung der einzelnen Wissenschaften eingehend. Die Sensibilität, das eigentliche Empfinden und Wahrnehmen, nach Cabanis' Lehre von den äußeren Eindrücken und den inneren Körpervorgången abhängig, ist das Erste und Ursprüngliche; aus ihr werden Gedächtniß, Urtheil und Wille abgeleitet. Aus dem Zusammenwirken dieser Seelenkräfte entspringt die Erkenntniß unserer selbst und der Außenwelt. Diese Erkenntniß ist die Wissenschaft. Die Wissenschaft zerfållt daher in drei Haupttheile. Der erste Haupttheil ist die Geschichte unserer Erkenntnißmittel, Histoire de nos Moyens de connaître. Er hat drei Unterabtheilungen: 1) die Lehre von der Bildung unserer Ideen, die eigentliche Ideenlehre oder Ideologie; 2) die Lehre von dem Ausdruck unserer Ideen, Grammatik; 3) die Lehre von der Verbindung unserer Ideen, Logik. Der zweite Haupttheil ist die Anwendung unserer Erkenntnißmittel auf die Betrachtung des Willens und dessen Wirkungen, Application de nos Moyens de connaître à l'Étude de notre Volonté et de ses Effets. Auch dieser hat drei Unterabtheilungen: 1) die Lehre von unseren Handlungen, Dekonomie; 2) die Lehre von unseren Gefühlen, Moral; 3) die Lehre von der Leitung und Regelung der Handlungen und Gefühle, Gouvernement. Der dritte Haupttheil ist die Anwendung unserer Erkenntnißmittel auf die Außenwelt, Application de nos Moyens de connaître à l'Étude des Êtres, qui ne sont pas nous. Auch hier wieder drei Unterabtheilungen: 1) die Lehre von den Körpern und deren Eigenschaften, Physik;

2) die Lehre von der Ausdehnung, Geometrie; 3) die Lehre von der Zahl, Calcůl. Der erste Haupttheil, Ideologie, Grammatik und Logik, ist vollständig ausgeführt; von dem zweiten Haupttheil liegen die Nationalwirthschaft und einige Bruchstücke der Moral vor; der dritte Haupttheil ist unberührt geblieben.

Einzelne Betrachtungen, wie besonders die logischen Untersuchungen über die Wahrscheinlichkeit und der Entwurf der Volkswirthschaftslehre, sind neu und eigenthümlich. Aber eine bleibende Bedeutung hat das Werk durchaus nicht. Ja, es ist sogar schwer zu begreifen, wie ein Denker, welcher Baco und d'Alembert kannte, mit breiter Selbstgefälligkeit eine Gliederung der Wissenschaft vortragen konnte, deren Aeußerlichkeit und Unvollständigkeit auf den ersten Blick in die Augen springt.

Kant hat die philosophische Erkenntnißlehre in völlig andere Bahnen gewiesen. Und diese mächtigen Einwirkungen sind jetzt auch in Frankreich die herrschenden.

Siebentes Capitel.

Die materialistische Sittenlehre.

La Mettrie. Helvetius. St. Lambert. Volney.

Unter der Herrschaft des englischen Deismus hatten die moralphilosophischen Untersuchungen einen sehr lebhaften Aufschwung genommen. Wer die Offenbarung leugnet, kann auch die Sittenlehre nicht als von außen kommendes Religionsgebot betrachten; der Drang nach Tugend und Sittlichkeit muß als im Wesen des Menschen selbst liegend erkannt werden. Und doch war grade hier die bedenklichste Schwäche Locke's gewesen. In

seinem Kampf gegen die angeborenen Ideen hatte er Tugend und Sittlichkeit als je nach der Verschiedenheit der Völker und Zeiten verschiedenartig und wechselnd bezeichnet. Shaftesbury und nach ihm die schottischen Moralphilosophen Hutcheson und Ferguson waren ergänzend eingetreten, die Nothwendigkeit und Stetigkeit fester Tugendbegriffe aus dem Streben des Menschen nach höchster Glückseligkeit ableitend. Sie, die die angeborenen Ideen verneinten, glaubten doch von einem angeborenen moralischen Sinn sprechen zu dürfen. Vergl. Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts, Ch. 1, S. 183 ff. 392 ff. Auf diesem Standpunkt verharrte fortan der gesammte Deismus. Auf ihm stand Voltaire und standen auch die deutschen Deisten.

Man sollte meinen, es sei von Hause aus klar, daß eine Sittenlehre, welche auf der Anschauungsweise des Materialismus ruht, eine andere Grundlage suchen müsse. Eine solche Sittenlehre hat ihrem innersten Wesen nach eine doppelte Aufgabe. Leugnet der Materialismus den freien Willen, so gilt es, alle jene vielverwickelten Naturbedingungen darzulegen, durch welche die allwaltende Nothwendigkeit auf das menschliche Handeln einwirkt; und leugnet der Materialismus mit der Freiheit des Willens folgerichtig auch das Dasein und die Kraft eines sittlich maßgebenden Naturtriebs, so muß er nur um so eindringlicher zeigen, daß trokalledem ein fester sittlicher Halt bleibt, ein unverrückbarer Unterschied zwischen Recht und Schlecht, zwischen Gut und Böse. Auffallender Weise aber wurde die Wichtigkeit dieser Aufgabe von den Stimmführern des Materialismus nicht genügend begriffen. Diderot hat immer nur vereinzelt und zusammenhangslos die Grundfragen der wissenschaftlichen Sittenlehre behandelt, und, wo er es thut, da nimmt er ohne weitere Begründung die überlieferte Anschauung auf, daß der Mensch nach der höchsten Glückseligkeit strebe und daß diese auf die Dauer nur durch die Tugend erreichbar. Und als Holbach spåter mit

seinen auf die Sittenlehre bezüglichen Schriften auftrat, da leitete auch er unbedenklich die Pflichten des Einzelnen immer nur von den Pflichten gegen die Gesammtheit ab. Nirgends aber wird der Versuch gemacht, vor Allem zu zeigen, wie der Mensch in seiner unentrinnbaren Naturnothwendigkeit überhaupt zu dem Entschluß des Handelns komme und warum das Wohl oder Uebel dieses Handelns von der steten Rücksicht auf das Wohl oder Uebel der Gesammtheit bestimmt sei.

Was Wunder daher, daß zunächst die leichtfertige Sophistik sich breitmachte und Folgerungen zog, vor welchen die ernstergesinnten Heerführer selbst am meisten erschraken?

Bei philosophischen Neuerungen fehlt es niemals an einzelnen unklaren und scandalsüchtigen Köpfen, welche sich um so bedeutender dünken, je greller fie årgernißgebende Gedanken auftragen. Die Sophisten der materialistischen Sittenlehre sind de La Mettrie und Helvetius.

La Mettrie ist ein frecher Wüstling, welcher im Materialismus nur die Rechtfertigung seiner Liederlichkeit sieht. Er war am 25. Dezember 1709 zu St. Malo geboren und hatte zu Rheims und dann spåter zu Leyden unter Boerhaave Medizin studirt. Seine ersten Schriften waren Satiren gegen die französischen Aerzte gewesen, so heftig, daß er Frankreich verlassen und wieder nach Holland fliehen mußte. Hier schrieb er, wie er selbst sagt, hauptsächlich durch Diderot's Pensées philosophiques angeregt, 1745 die Histoire naturelle de l'Ame und 1746 L'Homme Machine, welche einen so offenen und unerhörten Materialismus predigten, daß ihm selbst in Holland die Erlaubniß långeren Aufenthalts versagt wurde. Darauf ließ ihn Friedrich der Große durch Maupertuis nach Berlin rufen, machte ihn zu seinem Vorleser und verlieh ihm sogar eine Stelle an der Akademie. Die Schriften, welche er in Berlin schrieb, sind hinlänglich durch ihre Titel bezeichnet: L'Homme Plante, Traité de la Vie heureuse

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