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schiedenartigsten Uebersehungen, Bearbeitungen, Ergänzungen und Erläuterungen. Sulzer's Theorie der schönen Künste ruht wesentlich auf dieser Grundlage.

In Frankreich und Italien sieht man noch heut deutlich die Nachwirkungen. In Deutschland ist das Joch abgeschüttelt. Als sich die sogenannte Sturm- und Drangperiode vorbereitete, da erwachte auch der heftigste Widerwille gegen Batteur. Herder nannte 1772 Batteur in der allgemeinen deutschen Bibliothek »einen seichten Vernünftler und trocknen Metaphysiker, der uns für seine Trockenheit nicht einmal durch Schärfe und Bestimmtheit schadlos halte und der durch sein Buch für Deutschland sehr verderblich geworden.« Und mehr als die Kritik wirkte die künstlerische That. Lessing, Goethe und Schiller haben den französischen Klassizismus und mit diesem auch Boileau und Batteur gestürzt.

3 weiter Abschnitt.

Diderot und die Encyklopädisten.

Erstes Capitel.

Der Materialismus, die Encyklopädie und die Salons.

1.

Der Materialismus.

Voltaire und seine nächsten Vorgånger und Mitkämpfer waren innerhalb der von Newton und Locke festgehaltenen Schranken stehen geblieben. Es kam ein jungeres Geschlecht, welches diese Schranken niederriß; der Deismus wurde Atheismus und Materialismus.

Der Deismus behauptet die lebendige außerweltliche Persönlichkeit Gottes, der Materialismus verneint sie. Der Angelpunkt dieses Umschwungs ist der Begriff der Bewegung, oder, wie sich die heutige, von ähnlichen Fragen durchdrungene Naturwissenschaft ausdrückt, das Verhältniß von Stoff und Kraft. Für beide Anschauungsweisen, für die deistische und materialistische, war zunächst die Gravitationslehre Newton's die gemeinsame Wurzel. Der Deismus hatte die Worte Newton's zu seinen Gunsten, denn dieser war sogar streng offenbarungsgläubig gewesen; der Materialismus meinte die innere Folgerichtigkeit der großen Newton'schen Entdeckung, die Nothwendigkeit der Sache für sich zu

haben. Mit Recht hatte Voltaire (Goth. Ausg. Bd. 31, S. 256) als die Meinung Newton's bezeichnet, daß jede Materie, welche bewegt sei, auf ein immaterielles Wesen hinweist, das der Materie diese Bewegung gegeben habe (toute matière, qui agit, nous montre un être immatériel, qui agit sur elle); der Materialismus aber meinte über Newton hinausgehen zu müssen und leugnete die zwingende Beweiskraft dieser von Newton gezogenen Folgerung. Dem Materialismus gilt die Bewegtheit der Materie nicht als ein von außen kommender Anstoß, sondern als eine der Materie selbst angehörige, ihr von Ewigkeit innewohnende, von ihr unzertrennliche Eigenschaft. Die Materie, sagt der Materialist, kann gar nicht ohne Bewegung gedacht werden; die Bewegung ist ihr Wesen. Kein Stoff ohne Kraft, keine Kraft ohne Stoff.

Schon in England selbst war diese materialistische Anschauung aufgetreten. Toland hatte sie bereits 1704 in seinen Briefen an Serena und 1720 in seinem berüchtigten Pantheistikon mit unerschrockenster Schärfe ausgesprochen; vergl. Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrh. Th. 1, S. 168. Auch bei Toland sind die einzelnen Dinge und Erscheinungen, Form und Farbe, Wärme und Kålte, Luft und Schall, nur die Selbstbestimmung und der Niederschlag dieser eingeborenen Bewegtheit und Handlung. »Alles ist ein rastloses Auf und Ab, ein ewiger Stoffwechsel; was wir Ruhe nennen, ist Ruhe nur im Gegensatz gegen die außere mechanische Bewegung der Körper, die ihren zufälligen Standort verändern. Das Feste wird flüssig, das Flüssige fest; die Thiere, die wir vernichten, dienen zu unserer Nahrung, und wir selbst werden wieder Pflanzen, Luft, Wasser und Erde. Auch das Denken ist nur eine körperliche, an die Stoffwelt gebundene Bewegung, es ist reine Thätigkeit des Gehirns; eine Störung des Gehirns ist eine Störung des Denkens; ein Wesen, das kein Gehirn hat, denkt nicht.«

Es ist nicht deutlich nachweisbar, ob die französischen Materialisten ihre ersten Anregungen unmittelbar von Toland ent= lehnt, oder ob sie, ebenso wie Jener in Newton und Locke wurzelnd, selbständig aus den gleichen Vordersåten die gleichen Schlußfäße gewonnen haben. Gewiß ist, daß die Wirkung der französischen Materialisten eine ungleich größere war als die Wirkung Toland's. Die Stimme Toland's war in England fast spurlos verhallt; die französischen Materialisten setten mit ihrer regsameren Rührigkeit, begünstigt durch die allgemeinere Verbreitung der französischen Sprache und Bildung, die ganze gebildete Welt in Aufruhr.

Hauptsächlich an Diderot knüpft sich die Bedeutung, das Haupt und der Heerführer dieser französischen Materialisten zu sein. Nicht blos, weil er in Wahrheit der Bedeutendste und Umfassendste dieser Schriftsteller ist, sondern besonders auch des. halb, weil er der Stifter und das Haupt jener großen Encyklopådie war, welche am wirksamsten diese neuen Gedanken und Anschauungen in die weite Welt trug und die öffentliche Meinung auf lange Zeit vorwiegend, um nicht zu sagen, ausschließlich bestimmte. An Diderot schlossen sich d'Alembert, Condillac, Holbach, Helvetius und eine große Reihe Underer, welche theils als Mitarbeiter der Encyklopädie, theils in selbständigen Büchern und Flugschriften auf das gleiche Ziel drangen. Philosophie und Materialismus galten fortan als gleichbedeutend.

Auf den Ruhm tieferer Wissenschaftlichkeit haben diese französischen Materialisten keinen Anspruch. Die Wissenschaft fordert Beweise; hier aber finden wir nur dreiste Behauptungen und, statt der Beweise, nur waghalsige Vermuthungen oder geistreiche, dem hohen Ernst der Sache wenig angemessene Spielereien und Selbstüberhebungen des Wizes. Sie wollten ernten, bevor gesåt, oder, wenn mit Rücksicht auf die epochemachenden Vorgånger dies Bild zu hart scheint, sie wollten die Frucht pflücken,

bevor sie reif war. Sie, die doch sonst so scharf die Nothwendigkeit der Sinnenerfahrung als ausschließlicher Erkenntnißquelle zu predigen wußten, wollten mit spißfindiger Begriffsklügelei oder mit leichtfertiger Hypothesenjagd endgiltig über Fragen entscheiden, deren lehte Entscheidung, wenn überhaupt erreichbar, doch nur der ernsten und strengen Beobachtung und Forschung, der durch Waagen, Luftpumpen und Vergrößerungsglåser unterstüßten Chemie, Physiologie und Psychologie vorbehalten bleibt. Daher das Abstoßende und Verlehende, das Rohe und Unzulängliche ihres absprechenden Wesens.

Immerhin aber bleibt diese Richtung trotz aller Einseitigkeiten und Ueberstürzungen von tiefeingreifender geschichtlicher Wichtigkeit. Sie hat viele alte inhaltslose Vorurtheile und Sahungen vernichtet, und sie hat der Chemie und Physiologie unleugbar den nachhaltigsten Anstoß gegeben. Sie hat Manches vorgeahnt, was spåter Gegenstand und Ergebniß der Wissenschaft wurde; sie hat Aufgaben gestellt, um deren Lösung sich noch heut der eifrigste Streit und Widerstreit alles Denkens und Forschens bewegt und bis auf ferne Zukunft bewegen wird. Dies ist der Grund, warum grade jeht mehr als je die geschichtliche Betrachtung dieser berühmten und berüchtigten, aber jest wenig gelesenen Materialisten an der Zeit ist.

2.

Die Encyklopädie.

Es waren zunächst äußere Umstände, welche das große Werk der Encyklopädie hervorriefen. In England hatte die „,Cyclopaedia" (2 Bde, Dublin 1728) von Ephraim Chambers den

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