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gekleidet. Eine schöne Dame hatte während der Gerichtsscene Candide erkannt und hatte ihm ihre Dienerin geschickt. Und diese schöne Dame war niemand anderes als die schöne Kunigunde, welche damals bei der Zerstörung des Schlosses ihrer Våter nicht, wie Pangloß fälschlich gemeint hatte, getödtet, sondern als Sklavin verkauft und nach allerlei Schicksalen in das Haus des Großinquisitors gebracht war. Candide tödtet den Inquisitor. Mit Schähen beladen entfliehen die Liebenden auf andalusischen Pferden nach Cadir. Unterwegs wurden sie bestohlen. Sie beschlos sen in die neue Welt zu wandern; vielleicht daß dort die beste Welt ist, welche Pangloß schon in Europa finden wollte. Aber auch in der neuen Welt ist Candide nicht glücklicher. Der Gouverneur von Buenos Ayres, Don Fernando d'Ibaroa, y Figuera, y Mascarmes, y Lampourdos, y Suza, stolz wie sein stolzer Name, ward von Kunigunden's Schönheit bezaubert. Candide muß vor der Ankunft der verfolgenden Inquisitionsschiffe schleunigst entfliehen. Mit einem Diener Cacambo geht er nach Paraguay. Im Vorsteher der Jefuiten erkennt er seinen alten Jugendfreund, den jungen Baron von Thundertentronckh, den Bruder Kunigunden's. Candide gesteht seine brennende Liebe. »Was, Unverschämter, Du erdreistest Dich, meine Schwester heirathen zu wollen, welche zweiundsiebzig Ahnen hat.« Er zieht den Degen gegen Candide, Candide wird zornig; auch er greift nach seinem Schwert und stößt es tief in den Leib des Beleidigers. Er ist der beste Bursch von der Welt und doch hat es das Unglück herbeigeführt, daß er nun schon mehrere Menschen und unter diesen sogar seinen Herrn und Freund und Schwager getödtet hat. Doch wozu diese Klage? Jeht ist es seine einzige Pflicht, an seine Rettung zu denken. Er entflieht, kommt in das Land der Wilden und hat hinlänglich Gelegenheit, den ge= priesenen Naturzustand zu bewundern, er kommt sogar, zufållig und rein aus Glück, in das gelobte Land von Eldorado, dessen

Einwohner ihn mit Ehren und Schäßen überhäufen. Aber die Einförmigkeit des Glücks ermüdet ihn. Reich beschenkt verlåßt er das Land und beschließt, nach Europa zurückzukehren und Kunigunden loszukaufen. Sehr bald aber sieht er sich um seine Schätze betrogen. Wiederholte Reisen in Frankreich, England und Italien machen ihm das Leben nur um so schwerer; überall nur Laster und Elend. Nach langem Irren findet er alle die Seinen, auch Pangloß und den jungen Baron, welche nur scheintodt gewesen, bei den Türken als Sklaven wieder. Die schöne Kunigunde ist sehr häßlich geworden. Er hätte sie schwerlich geheirathet, wenn nicht noch immer der Bruder, obgleich durch Candide von der Galeere befreit, aus adligem Stolz nach wie vor seine Einwendung machte. Candide kaufte für Alle ein kleines Landgut an den Ufern des schwarzen Meeres. Sahen sie die Grausamkeiten und Unordnungen der Türken ringsum, da stritten sie wohl auch noch über die beste Welt; aber der Streit war gewöhnlich sehr bald beendet. Pangloß bedauerte, daß er nicht auf irgend einer deutschen Universität glänzte. »Wåret Ihr nicht,« sagte er zu Candide, »aus dem Schloß des Barons wegen Eurer Liebe zu Kunigunde fortgejagt, wåret Ihr nicht in die Hände der Inquisition gefallen, håttet Ihr nicht ganz Amerika und sogar das Eldorado durchwandert, so wåret Ihr jetzt nicht hier; Leibniz konnte nicht Unrecht haben, die pråstabilirte Harmonie ist gerechtfertigt.« »Das ist wohl wahr,« meinte Candide, »aber wir wollen gehen, unseren Garten zu bauen.« Arbeiten, ohne zu vernünfteln, meinte er, ist das einzige Mittel, das Leben erträglich zu machen. Voltaire faßt die Grundidee in wenig Worte zusammen, wenn er 1763 an d'Argenson schreibt: ,,J'en reviens toujours à Candide; il faut finir par cultiver son jardin; tout le reste, excepté l'amitié, est bien peu de chose; et encore cultiver son jardin n'est pas grande chose."

Man kann diese Erzählungen in zwei Klassen sondern, welche durch die Grundstimmung des L'Ingénů und des Candide hinreichend bezeichnet sind. Die einen haben die Sehnsucht nach dem Glauben an die Unzerstörbarkeit der Menschennatur, die anderen verzweifeln an ihr. Zu jenen gehören die Geschichte Zadig's und der Prinzessin von Babylon und einige kleine Genrebilder, wie z. B. Les deux Consolés; zu diesen Memnon ou la Sagesse humaine, die Histoires des Voyages de Scarmantado und die Histoire d'un bon Bramin. Es ist bezeichnend, daß auch diese lehte Erzåhlung wieder auf den Schlußgedanken des Candide hinausläuft. »Ein Bramine, welcher viel gedacht und gelernt hat, ist unglücklich, weil er für alle Räthsel des Daseins nur Fragen und keine Antworten kennt; eine gute alte Frau, seine Nachbarin, ist glücklich, denn ihr ist es nie in den Sinn gekommen, über dergleichen Fragen zu grůbeln. Und doch wird Niemand den Zustand jener Frau dem 3ustand des Braminen vorziehen wollen. Wir legen Gewicht auf unser Glück, aber wir legen noch mehr Gewicht auf unsere Vernunft. Wie also diesen Widerspruch lösen? Ebenso wie alle anderen Widersprüche; il y a là de quoi parler beaucoup.<<

Besonders wegen dieser satirischen Erzählungen hat man Voltaire oft mit Lucian verglichen. Die Unerschöpflichkeit seiner Formen, die Schärfe und Raschheit seines Blicks, die Muthwilligkeit seiner Laune, die Anmuth und breite Behaglichkeit seines Erzåhlens, die Kunst, wissenschaftliche Fragen in das leichte Gewand der Novelle zu kleiden, finden in der That nur in den geistreichen Spôttereien jenes alten Satirikers Ihresgleichen. Über Voltaire erreicht selbst in der besten dieser Erzählungen nicht die Höhe der åchten Komik, welche doch Lucian zuweilen so trefflich gelingt. Die Schlacken in Voltaire's Charakter råchen sich. Die Bildung kann unsere angeborenen Mångel mildern und verhüllen, aber nicht völlig aufheben. Es fehlt der warme Sonnenschein der Liebe, der lebensvolle Pulsschlag wirklichen Humors.

Von Voltaire gilt wie von Swift und Heinrich Heine das herrliche Wort des Apostels: »>Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und håtte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle.«<

Zweites Capitel.

Montesquieu.

Montesquieu wurzelt in denselben Stimmungen und Anregungen wie Voltaire; auch er holt sich den Abschluß seiner Bildung aus England. Aber wie Voltaire auf die religiöse, so legt Montesquieu vorzugsweise den Nachdruck auf die politische Seite.

Charles de Sécondat, Baron de la Brède und de Montesquieu war am 18. Januar 1689 auf seinem våterlichen Schloß Brède bei Bordeaux geboren. Im Jahre 1714 wurde er durch die Erbschaft eines Onkels Rath, 1716 Präsident des Parlamentes zu Bordeaux. Im Jahre 1721, also zweiunddreißig Jahre alt und bereits im Besiß eines hohen Amtes, trat Montesquieu mit den Lettres persanes auf. Zwei Perser berichten in ihre Heimath über die Eindrücke, welche sie in Paris empfangen. Diese Briefe sind eine glänzende Satire auf die herrschenden Meinungen, Sitten und Zustånde; in der Verneinung des Bestehenden spiegelt sich mit fester Klarheit die eigene religiöse und politische Ueberzeugung.

Fast ist es thöricht, wenn die Geschichtsschreiber erzählen, Montesquieu habe den Einfall, reisende Perser reden zu lassen, aus den Amusements sérieux et comiques von Düfresny entnom men, in welchen einem Siamesen Betrachtungen über Paris in

den Mund gelegt werden; und ebenso thöricht ist es, wenn Andere an einen Aufsatz Addison's im Spectator erinnern, in welchem ein Indier aus Java sich plöhlich nach London verseht sieht. Der Kern des Buches liegt nicht in dieser åußeren, ohnehin sehr naheliegenden Umrahmung; sondern einzig in dem eingreifenden Inhalt, welcher, wie Goethe in den Anmerkungen zu Rameau's Neffen (Bd. 29, S. 335) sich ausdrückt, unter dem Vehikel einer reizenden Sinnlichkeit die Nation auf die bedeutendsten, ja gefåhrlichsten Materien aufmerksam macht und schon ganz deutlich den Geist ankündigt, welcher dereinst den Esprit des Lois her vorbringen sollte. Noch nie war der religiöse und politische Freisinn kecker und durchgebildeter aufgetreten; zu einer Zeit, da Voltaire noch im ersten leichten Plånklergefecht stand, wurde hier bereits der volle und ganze Krieg eröffnet. Religiös werden die strenge Rechtgläubigkeit (Bf. 16 ff.), das Papstthum (24. 29), das Cölibat und die Klöster (116. 117), die Umtriebe der Beichtvåter (57), die Keßergerichte und Unduldsamkeiten (35. 85), die Sektenstreitigkeiten (135), ja die christlichen Glaubenssåße selbst, namentlich die Lehre von Christus (39) und vom Sündenfall (69) bitter und wißig verspottet; und es unterliegt keinem Zweifel, daß der Verfasser ein Deist ist, welcher an Gott und Unsterblichkeit glaubt, das Wesen der Religion aber ausschließlich in die werkthätige Ausübung von Liebe und Tugend legt. Politisch werden der Glanz Ludwigs XIV. (Bf. 37. 80. 92. 107), der Uebermuth des Adels und die Finanzschwindeleien Law's (98. 99. 123. 138), die drückende Last veralteter Rechte (100), die Sittenverwilderung (89. 90. 101), die Auswüchse der überfeinerten Bildung und des Lurus (105. 106) die geistlose Prunkrednerei der Akademie (73) in den mannichfachsten und durchschlagendsten Wendungen gegeißelt und vernichtet; und es ist wahrhaft überraschend zu sehen, von welchem entschlossenen volksthümlichen Geiste die Hinweisung auf eine bessere Staatsform durchhaucht

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