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Wir gewinnen einen genügenden Einblick in die geführten Verhandlungen, wenn wir die Auszüge aus den Zeitschriften jener Zeit betrachten, welche die Herausgeber der Werke Nivelle's de la Chaussée (Paris 1762) in der Vorrede des ersten Bandes zusammengestellt haben. Und ebenso hat Lessing eine sehr schåhenswerthe Uebersicht über das Für und Wider gegeben, indem er in der theatralischen Bibliothek die französische Abhandlung Chassiron's und die akademische Schrift Gellert's pro comoedia commovente übersetzte und diesen Uebersehungen seine eigenen Anmerkungen beifügte; Lachm. Bd. 4, S. 109 ff.

Nivelle de la Chaussée hatte seine Stücke als „Comédie" bezeichnet; er glaubte sich dabei auf die Haute Comédie Molière's berufen zu können, namentlich auf den Misanthrope, welcher ja in der That eine tragische Grundfärbung hat. Die französische Kunstlehre erfand zur nåheren Unterscheidung den Beinamen Comédie larmoyante, welchen, wie Lessing meint, die Anhånger als »rührendes«, die Widersacher als »weinerliches« Lustspiel deuten konnten. Andere wählten den Namen der Tragédie bourgeoise, um bei der Aehnlichkeit des Inhalts diese Kunstart nåher an das bürgerliche Trauerspiel der Engländer heranzurücken. Diese Bezeichnung fand am wenigsten Eingang; sie verstieß allzu schroff gegen das alte Herkommen, welches die tragische Würde ausschließlich an die Hoffåhigkeit der tragischen Helden knüpfte. Endlich sekte sich der allgemeine Gattungsname „Drame", Schauspiel, fest, wie Voltaire schon von den Drames bourgeois du néologue Marivaux gesprochen hatte. Und dieser Name ist überall bis auf den heutigen Tag geblieben.

Wir haben diese Erscheinung lediglich als geschichtliche Thatsache oder, besser gesagt, als geschichtliche Nothwendigkeit zu begreifen. Durch Diderot fand sie ihre wirksamste Fortbildung und hat sich seitdem über alle Literaturen verbreitet. Diese Kunstart wird überall willige Zuschauer finden, und ebenso werden

brauchbare Schriftsteller, welche weder zur tragischen Vertiefung noch zur komischen Erheiterung die nöthige Kraft haben, sich mit Vorliebe solchen dramatischen Sittengemålden zuwenden. Aber künstlerisch bleibt nichtsdestoweniger diese Kunstart untergeordnet. Die Entartung in fade Weinerlichkeit und in die naturwirklichste Alltäglichkeit sind grade hier nur allzu gefährliche Klippen. Daher veralten diese Stücke so leicht. Marivaur, Destouches, Nivelle de la Chaussée, einst vielbewundert, gehören jetzt nur noch der Geschichte, nicht mehr dem lebendigen Bühnenverkehr an.

Eine tiefe Ahnung des Richtigen aber ist trokalledem hier. Die dramatische Darstellung kann in alle Leiden und Verwicklungen des gewöhnlichen bürgerlichen Lebens eingehen und doch dabei auf der reinsten Höhe der Komik und Tragik verharren. Es kommt nur darauf an, daß der åchte Genius sich dieser Stoffe hemächtigt. Weder im weinerlichen Lustspiel der Franzosen, noch im moralisirenden Trauerspiel George Lillo's ist der an sich richtige und tiefe Gedanke der dramatischen Spiegelung der mittleren Stånde künstlerisch verwirklicht. Lessing ist aus denselben Anregungen und Stimmungen hervorgegangen; aber er hat erreicht und zu fester künstlerischer That durchgebildet, was Jenen nur unbestimmt und unvollkommen durch die gåhrende Zeitstimmung zugekommen. Der künstlerische Abschluß dieser keimkråftigen, aber unklaren Bestrebungen sind »Minna von Barnhelm« und »Emilia Salotti.«

2.

Die bildenden Künste.

Coypel, Subleyras, Parrocel, Watteau und feine Schule, Vanloo, Boucher, Chardin.

In der Kunstgeschichte ist die Zeit der Regentschaft und Ludwigs XV. als die Zeit des årgsten Verfalls bekannt. Man nennt sie die Zeit des Zopfes und man bezeichnet damit die unbedingteste Verwerfung. Was kann die Kunst sein in einer Zeit ohne gläubige Schwärmerei und doch ohne die Erleuchtung åcht menschlicher Bildung? Aber so entartet und manierirt diese Kunst ist, sie ist in dieser Manierirtheit naiv und naturwüchsig. Sie spiegelt die Sitte und Denkweise ihrer Zeit mit einer Treue und Lebendigkeit, daß sie in ihrer Art sogar monumentaler wirkt als viele andere Kunstrichtungen, welche an reiner Schönheit weit über sie hinausragen. Es ist daher tief bedeutsam, daß das Kirchliche der bildenden Kunst, das schon unter Ludwig XIV. nur zu widerlich theatralischer Darstellung kam, jest fast gänzlich verschwindet oder, wo es versucht wird, auch den letzten Rest innerer Hoheit abstreift. Man wendet sich an das wirkliche Leben. Und auch hier sind die Gegensähe des liederlich Vornehmen und des schlicht Bürgerlichen scharf ausgeprägt, obgleich es allerdings in der Natur der bildenden Künste liegt, daß sie mehr als die Dichtung auf äußere Gunst angewiesen, dem aristokratischen Einfluß breiteren Raum geben als dem bürgerlichen.

Das Vornehme, Lüfterne, Lächelnde, Gepuderte des fran-. zösischen Marquis liegt über allen Bauten und Bildwerken, und auch über den meisten Bildern, die aus dieser Zeit stammen.

Besonders gilt dies von der Baukunst. Unter Ludwig XIV. hatte sie vor Allem nach dem Mächtigen, Massenhaften, Prunkvollen gestrebt; unter der Regentschaft ist zwar auch Lust an Fülle und Reichthum, aber nicht als kalte Prachtliebe, sondern als Sucht nach Bequemlichkeit und üppigem Taumel. Man liebt nicht mehr die stolzen Prunkgemåcher, sondern die,,petites maisons", die Boudoirs, wo die geistvolle Plauderei der kleinen Soupers, das verliebte Scherzen, Schmollen und Genießen, die üppige Leichtfertigkeit und die Galanterie sich heimischer und ungebundener fühlt. Die großen einfachen Verhältnisse, die reinen und klaren Massenwirkungen verschwinden; Alles geht auf das Weiche, Schwellende, Ueppige, Breitausgeladene. Die Hårte und Schwere des Steins wird verleugnet; das Gradlinige und Winkelrechte verschwimmt in das Runde, Wellenförmige und Ausgeschweifte. Alle kräftigen Linien und Flächen werden durch vorspringende oder zurückweichende Abfäße, durch willkürliche und darum seltsam überraschende Pilaster, Fenster oder Bogenöffnungen durchbrochen. Die Grundform wird aufgelöst und von dem äußerlichen und aufdringlichen Ornament bunter und schnörkelhafter Thier- und Pflanzenarabesken überwuchert. Nirgends sachliche Nothwendigkeit und Charakteristik des Bauwerks nach seiner inneren Zweckbestimmung; immer nur Laune, immer nur das seltsame Belieben der genialen Persönlichkeit, welche auch die unverbrüchlichen Geseze der Mechanik und Statik in den kecken Rausch ihrer eigenen Leichtfertigkeit zieht. Der Barockstil, welcher sich durch die allmåliche Entartung der italienischen Renaissance herausgebildet hatte, ist hier an seiner åußersten Grenze angelangt. Es liegt ein großer Reiz in dieser rücksichtslosen und geschäftigen Lebendigkeit, aber diese Lebendigkeit ist ausschweifend, ohne Halt und Maß, ohne Ziel

und Wahrheit; es ist die Lebendigkeit koketter Blasirtheit, die Lebendigkeit des Raffinements. Der ernste und strenge Kirchenftil ist völlig abhanden gekommen. Das größte Meisterwerk dieser Richtung, die katholische Kirche in Dresden, wie feingegliedert und frisch lebendig, wie durchaus weltlich ist sie im Außenbau, wie kahl und nüchtern, wie salonartig im Innern! Auch der große Palastbau will sich nicht fügen; eines der berühmtesten Bauwerke jener Zeit, die Ecole militaire zu Paris, ist elegant und correct, aber niedrig und in kleinen Verhältnissen. Die feinste und eigenthümlichste Entfaltung finden diese wunderlichen, geschnörkelten und gekräuselten, aber bequem behaglichen Formen, für welche man spåter die ebenso wunderliche Bezeichnung des Rococo erfunden hat, in den kleinen Luftschlössern, in Petit Trianon und im Hôtel Choisy, an den Häusern von Faubourg Saint Germain, in Sanssouci zu Potsdam, im Zwinger zu Dresden, welcher als Gartenhaus für einen großen Königspalast beabsichtigt war, und besonders auch in den Möbeln, welche so bequem und einladend und von so raffinirt aristokratischer Weichlichkeit und Leichtlebigkeit durchhaucht sind, daß wir noch heut unter deren unmittelbarer Nachwirkung stehen.

Demselben schwelgerischen Zuge folgt die Plastik. Die Formen werden immer willkürlicher und ausschweifender, immer runder und schwellender. Man dünkt sich um so größer, je mehr man die Sprödigkeit des Steins und des Erzes überwindet; der naturalistische Hang zum Malerischen und Theatralischen, welcher seit den verderblichen Wagnissen Bernini's ungestört fortwuchert, wird bis zur unerträglichsten Ueberladung gesteigert. Die Frische und Entschlossenheit, mit welcher in den Portråtstatuen der verherrlichte Held in modischer Rococotracht erscheint, ist anziehend durch ihre treue Geschichtlichkeit, mit welcher sie uns lebendig in Zeit und Umgebung einführt; aber wer es weiß, was Kunst und was insbesondere plastischer Stil ist, wird abgestoßen durch den

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