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hängnißvollen Katastrophe übergeht, sein leidenschaftlicher Affekt, der doch nur eine Kunst der Verstellung (but an art of craft) war, meine Vernunft in Thränen aufgelöst. Das weiße Gewand meiner Keuschheit legte ich ab, meine besonnene Hut und ehrbaren Bedenken schüttelte ich ab und erschien ihm wie er mir, ganz aufgelöst in Thränen, nur daß unsere Thränen sich darin unterschieden, daß die seinigen mich vergifteten und die meinigen ihn wieder herstellten.

Str. 44. Die mannigfach wechselnde Kunst der Verstellung, die dem Verführer zu Gebote stand, wird hier geschildert als eine Fülle (a plenitude) von schlauem Stoff, die, zu hinterlistigen Zwecken angewandt (applied to cautels), alle auffallenden Gestalten annimmt, von brennendem Erröthen, von Thränenwasser (weeping water) oder von ohnmachtgleicher Blässe (swooning paleness); und alle diese Formen nimmt er an und giebt sie wieder auf, wie sie gerade passen und am besten täuschen: er erröthet bei lockern Reden, weint bei Leiden, oder er erblaßt bis zur Ohnmacht bei tragischen Darstellungen (at tragic shows).

Str. 45. Das schon vorher von den Augen des Mädchens angewandte Bild von einem Geschütz wird nun wieder gebraucht. Kein Herz, sagt sie, das in seine Schußweite kam, konnte dem Kugelhagel seines allverwundenden Geschützes entgehen (could scape the hail of his all-hurting aim). So gewann er, die er verstümmelte, mit seiner ehebrecherischen Verstellungskunst. Gegen das, was er suchte, pflegte er laut loszuziehen. Wenn er in der Wollust, die sein Herz begehrte, entbrannte, so predigte er erbaulich von jungfräulicher Reinheit (he preach'd pure maid).

Str. 46-47. So ganz und gar (thus merely) barg er in dem Gewande einer personificirten Frömmigkeit (Grace) den nackten und heimlichen Teufel, daß die Unerfahrenen (the unexperient) dem Versucher Raum gaben, der über ihnen schwebte, als ob er ein Cherub, ein Schutzgeist wäre. Welches Mädchen, jung und arglos, hätte nicht einen solchen Liebhaber haben wollen (would not be so lover'd)? In den letzten Versen dieser Strophe und in der folgenden Schlußstrophe spricht sich der höchste Grad pessimistischer Verzweiflung des Mädchens aus in dem Bewußtsein und Bekenntniß der Unwiderstehlichkeit ihres Verführers auch für alle Zukunft. Trotzdem, daß sie fiel, erscheint es ihr fraglich, was sie in schwerer Versuchung wieder thun wird? Das giftige Naß

seiner Augen, das falsche Feuer in seiner Wange, das donnergleiche Gestöhne, das aus seinem Herzen kam (that forced thunder from his heart did fly), der weiche feuchte Hauch, der seiner Lunge enströmte, alle diese erborgten Regungen, die doch schienen, als ob sie wirklich sein wären (seeming ow'd), würden, meint sie, die schon einmal Betrogene wiederum betrügen und von Neuem verderben ein Mädchen, das sich schon wieder ausgesöhnt, sich bekehrt hatte (and new pervert a reconciled maid).

Die Würdigung Shakespeare's in England

und Deutschland.

Von

Wilhelm Oechelhäuser. *)

Wenn enn früher kein Vorwurf öfter gegen die Deutschen erhoben wurde, als daß sie des nationalen Selbstgefühls entbehren, zum Ausländischen neigen sollten, so dürfen wir jetzt sagen, daß er uns weder auf dem politischen noch dem Gebiete der Wissenschaft und Kunst, seit Lessing's Zeiten wenigstens, mit Recht träfe. Mit Stolz und Selbstbewußtsein würdigen wir unsere herrliche nationale Literatur, verehren wir die Heroen deutschen Geistes. Daneben vermag allerdings der Deutsche in neidloser Gerechtigkeit die Geistesarbeit anderer Völker so warm und freudig anzuerkennen, wie dessen keine Nation der Erde, am wenigsten ein Volk romanischen Ursprungs im Stande ist. Bei welcher andern Nation lassen sich Schriftsteller ersten Ranges zu Uebersetzungen von Werken derselben, oder kaum vergangener Kulturperioden herbei? Welches andere Volk hat die Uebertragung aus fremden Sprachen zu einem so ehrenvollen Zweige der Literatur, ja man möchte sagen, zu einer Kunst ausgebildet, von der Schlegel, der Altmeister dieser Kunst,

*) Der nachfolgende Aufsatz wurde im Jahre 1869 als Manuskript gedruckt, und nur im engsten Kreise vertheilt. Daß der Verfasser ihn redaktionellen Aenderungen unterwarf, ist selbstverständlich; die Sonne des 2. September 1870 war noch nicht aufgegangen! Der Kernpunkt Dessen aber, was dem Gedankengange des Autors, in Bezug auf England, zu Grunde liegt, besteht heute, wie er damals bestand ja, scheint sich leider zum Schlimmeren entwickeln zu wollen. D. R.

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mit stolzem Selbstbewüßtsein sagen durfte: „Der echte Uebersetzer, der nicht nur den Gehalt eines Meisterwerks zu übertragen, sondern auch die edle Form, das eigenthümliche Gepräge zu bewahren weiß, ist ein Herold des Genius, der über die engen Schranken hinaus, welche die Absonderung der Sprachen setzt, dessen Ruhm verbreitet, dessen hohe Gaben vertheilt."

Dieser schöne Zug deutschen Wesens gipfelt aber in der Begeisterung für Shakespeare. Auf gleichem Boden gewachsen, wie die Sympathien für die Geistesheroen anderer Länder, anderer Zeiten, ragt doch die allgemeine Theilnahme für diesen Einen durch ihre Verbreitung und ihre Tiefe so hoch über alle gleichartigen Erscheinungen auf diesem Gebiete hervor, daß sie geradezu in der Literaturgeschichte einzig dasteht. Die Gründung einer besonderen Gesellschaft für den Kultus eines ausländischen Dichters war überhaupt nur in Deutschland möglich, aber auch in Deutschland war es nur der Name Shakespeare, welcher den Versuch, wenigstens den ersten Versuch zu solchen Vereinigungen, mit Aussicht auf Erfolg wagen ließ. Und diese Gesellschaft hat sich nicht etwa einen farblosen, oder gar nach außen neigenden Mittelpunkt für ihre Thätigkeit gewählt; nein, sie pflanzte ihr Reis mitten in den klassischen Hain echt deutschen Geisteslebens, dicht. neben die Dichtergräber Schiller's und Göthe's; sie erbat und erhielt den Schutz der deutschen Fürstenfamilie, in welcher die Pflege nationaler Kunst und Literatur zu einer traditionellen Tugend geworden ist. So bildet unser, auf Weimar's Boden gegründeter Verein ein bedeutsames Symbol für einen der eigenthümlichsten und schönsten Züge germanischen Geisteslebens: die harmonische Verschmelzung des Kultus eigner und fremder Grösse.

Was aber die deutsche Nation so mächtig für den großen brittischen Dichter begeistert, das ist die Fülle germanischen Wesens, die uns aus seinen Werken entgegenströmt. Unsere ureigensten Gedanken und Empfindungen haben durch ihn den mustergiltigen Ausdruck für alle Zeiten erhalten, unsre eigene nationale Literatur und dramatische Kunst haben sich an ihm zur Selbstständigkeit emporgerankt. Es ist nicht blos der Zoll der Bewunderung, nein, auch der Dankbarkeit, den wir ihm schulden. Und so sehr sich auch der Gebildete jeder Nation angeregt fühlen mag, wenn er sich in diesen Wald hoher Gedanken und Empfindungen vertieft, so viel Gemeingiltiges für alle Völker, alle Zeiten darin

enthalten ist, so ward doch dem Germanen allein der Schlüssel zur Erkenntniß seiner vollen Größe und Schönheit gegeben, so sind seine höchsten poetischen Gebilde und Charaktere ausschließlich nur für den germanischen Stammesgenossen verständlich.

Und diese Begeisterung der Deutschen für Shakespeare ist keine Erscheinung, die den Charakter des Gemachten, des Vorübergehenden trägt. Aus der Reaktion gegen die damals weltbeherrschende französische Geschmacksrichtung wuchs die Würdigung Shakespeare's seit etwa einem Jahrhundert langsam und stetig heran. Lessing trug ihm die Fahne voraus, Schröder zeigte ihn von der Bühne herab dem erstaunten Volke und leitete durch den brittischen Dichter den Aufschwung der nationalen deutschen Schauspielkunst ein. Schiller und Göthe zur Seite zog er triumphirend bei uns ein durch das goldene Thor, welches ihm Schlegel und Tieck gebaut - die vielgeschmähten Romantiker, denen wir doch die Einbürgerung Shakespeare's beim deutschen Volke ausschließlich verdanken. Unaufhaltsam und ohne Unterbrechung ging seitdem die Würdigung Shakespeare's in die Breite und Tiefe. Eine glänzende Reihe von Namen widmete sich seinem Dienste, rühmlich für ihn, rühmlich für sie selbst.

Sogar auf dem Gebiet der Sprachforschung, die sonst doch die ausschließliche Domäne der engeren Stammesgenossen eines Dichters zu bleiben pflegt, traten deutsche Gelehrte, Delius an ihrer Spitze, den brittischen ebenbürtig zur Seite. Die deutsche Bühne aber ertheilte Shakespeare das Bürgerrecht in ausgedehntester Weise; die Darstellung Shakespeare'scher Charaktere ist der Maßstab geworden, woran wir die Tüchtigkeit deutscher Künstler messen. Daneben wurde das öffentliche Vorlesen seiner Dramen zu einer wirklichen Kunst ausgebildet.

Shakespeare war — und Niemand hat dies schlagender nachgewiesen als Ulrici — ein ächter Sohn seines Landes und seiner Zeit. Seine Werke sind der treue Abdruck seines eigenen Jahrhunderts, der Gedanken, der Gefühle, die seine Zeit bewegten. Darum und nur darum zündeten sie auch so gewaltig. Aber in diesen Werken lebt zugleich ein idealer Gehalt, den die Menge damals noch nicht voll zu würdigen wußte, der ihnen aber gerade den Werth für unser Jahrhundert giebt, der ihn vor dem Vergessen bewahrte, welchem die Dichtungen der Zeitgenossen, damals zum Theil nicht weniger bewundert, anheimgefallen sind. Das Humanitätsprogramm künftiger Jahrhunderte lag vor seinem prophetischen Geiste aufge

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