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Von welchen Gesichtspunkten ist auszugehen, um einen Einblick in das Wesen des Prinzen Hamlet zu gewinnen?

Ein Beitrag zum Verständniß Shakespeare's.

Von

Rektor Th. Gessner.

Das Shakespeare-Jahrbuch hat sich im Laufe der Jahre zu einem, jedem Forscher auf unserem Gebiete unentbehrlichen Repertorium entwickelt. Die Grenze Dessen also, was es als seine Leistungsaufgabe zu betrachten hat, würde zweifellos nicht überschritten werden, wenn es versuchte, Publikationen einem weitern Leserkreise zugängig zu machen, deren Veröffentlichungsform ihre Verbreitung erschwerte, und die es doch in hohem Grade verdienen, den Kreisen bekannt zu werden, welche, sei es als Forscher, sei es als Freunde des Schönen, sich dem Studium Shakespeare's und seiner Zeit widmen.

Eine Fundgrube trefflicher Arbeit sind oft die Abhandlungen, die, vergraben in Schulprogrammen, nur selten vor's Tageslicht, oder vor das Licht der Studirlampe kommen, und es ist gewiß weder unerwünscht, noch unverdienstlich, die werthvollsten unter ihnen der Vergessenheit zu entreißen.

Im XIII. Bande des Jahrbuches lesen wir, von Elze geschrieben:
Nicht mindere Anerkennung verdient die Abhandlung von
Th. Gessner: „Von welchen Gesichtspunkten ist auszugehen,
um einen Einblick in das Wesen des Prinzen Hamlet zu ge-

winnen? Ein Beitrag zum Verständniß Shakespeare's (Programm der höheren Bürgerschule zu Quakenbrück, 1877).“ Der Verfasser beschäftigt sich nicht mit den Zeitbeziehungen, die im Hamlet möglicher Weise enthalten sind, sondern sucht aus der Dichtung selbst und ausschließlich aus ihr, eine eigene scharf ausgeprägte Auffassung zu gewinnen und den Sinn des großen Räthsels in seiner Weise zu enträthseln. Er giebt scharfsinnige und beherzigenswerthe Winke und weist nebenbei die Werder'sche Auffassung ebenso ruhig als bestimmt ab. Im dritten Jahres-Supplement-Bande des Meyer'schen Konversations-Lexikon, pag. 873, ist von derselben Abhandlung im Zusammenhange mit anderen die Rede, und der Verfasser des Referates fährt also fort:

Obschon die drei letzten der hier aufgezählten Abhandlungen als Programm-Arbeiten dem Publikum schwer erreichbar sind, so nehmen sie doch einen zu hohen Werth für sich in Anspruch, als daß sie hier übergangen werden dürften. Vielleicht nimmt auch der eine oder der andere der genannten Verfasser aus unserer literarischen Uebersicht Veranlassung, seine Schrift im Buchhandel erscheinen zu lassen.

Wir werden also den Versuch machen, dessen wir oben Erwähnung thaten, und hoffen, uns damit den Dank Derer zu erwerben, welchen das Jahrbuch zur Lektüre oder zum Studium dient. Das Urtheil unserer Leser wird ja darüber zu entscheiden haben, ob dieser Versuch vereinzelt bleibt, oder sich weiter entwickelt. Sollte das Letztere der Fall sein, so würden Vorschläge in Bezug auf die fernere Auswahl mit allerbestem Danke angenommen. Daß wir mit der Gessner'schen Abhandlung beginnen, bedarf, nach dem obigen Ausspruche zweier Sachkundiger, wohl kaum eines rechtfertigenden Wortes, sowie es auch selbstverständlich ist, daß der Abdruck erst die Folge eines Vertrages mit den Rechtsnachfolgern des verstorbenen Autors wurde.

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Die Redaktion.

Hamlet ist eine Festung; wer dieselbe nehmen will, hat sie zunächst von den verschiedensten Punkten aus zu beobachten. Mit dem Finden des Schlüssels zu dem natürlichsten Eingangsthore ist der Sieg strategisch entschieden. Die Feste muß kapituliren.

In Gestalt, Haltung und Mienen spiegelt sich der Geist. Bewährt sich dieser Satz schon vielfach im gewöhnlichen Leben, auf dem Gebiete der Kunst hat er unbedingte Giltigkeit. Aus den Zügen und Formen eines Gemäldes, einer Bildsäule, müssen wir einen Schluß über das Geistesleben der dargestellten Person ziehen können, oder das Machwerk ist ein schlechtes. Dasselbe gilt von der Bühne. Der gutherzige Biedermann und der Schleicher, der König und der Narr, der Schwärmer und der eitle Geck, die hartherzige Frau und die hingebende Frau erscheinen auf ihr als wesentlich verschiedene Typen, und jeder einzelne König, Schwärmer und Schleicher ist seiner Rolle gemäß wieder in bestimmter Weise zu individualisiren. Oft läßt der Dichter dem Spieler für Durchführung der Aufgabe, das eigene Aeußere der Rolle anzupassen, vollkommen freien Spielraum. Setzt aber der gute Dramatiker einmal den Stift an, um mit einzelnen Strichen auch das Aeußere einer seiner Personen zu zeichnen, so wird jeder Strich werthvoll. Nicht die kleinste Nuance darf von dem Darsteller übersehen werden. Das trifft besonders bei Shakespeare zu. In wie lebhafter Weise Derselbe sich aber, gerade als er Hamlet schrieb, des Gedankens, mit dem wir begannen, bewußt war, zeigt eine ganze Reihe von Stellen in dem Stücke. Ich erinnere nur an die Unterredung mit dem ersten Schauspieler im Beginne der zweiten Scene des III. Aktes, an den Eingang des Schlußmonologes in Akt II, sowie an die schöne Stelle aus der Unterredung mit der Mutter III, 4: „Seht her auf dies Gemälde und auf dies" etc. Die Bildnisse beider Gatten zeigen mit unwiderstehlicher Kraft, viel lebendiger als Worte es vermöchten, der beschämten Königin die tiefe geistige und moralische Kluft zwischen dem abgeschiedenen Gemahle und Claudius.

Die erste Aufgabe, die man sich zu stellen hat, um einen Einblick in das Wesen Hamlet's zu gewinnen, ist daher: man suche mit größter Sorgfalt die Stellen auf, welche, sei es direkt, sei es indirekt, auf das Aeußere des dänischen Prinzen Licht fallen

lassen, und entwerfe möglichst lebendig auf Grund derselben ein Bild seiner Persönlichkeit. Dasselbe wird kein vollständig ausgeführtes sein können. Es gleicht dem eines Mannes, welchen wir in der Ferne wandeln sehen. Die Umrisse, Charakteristisches in der Bewegung treten indeß bereits hervor, und bei späterem, näherem Betrachten klärt und ergänzt sich Alles in natürlichster Weise. Das Bild aber, das wir bekommen, ist folgendes1): ein Mann von 30 Jahren, von kleiner Statur, wohlbeleibt, bei stärkerer Bewegung leicht in Schweiß gerathend und knapp im Athem, gewohnt sich täglich bestimmte Bewegung zu machen, aber bei alledem recht gewandt und beweglich, eine kräftige und wohlgeschulte Klinge schlagend und durchaus befähigt, als feinster Hofmann aufzutreten. Die Gesichtszüge sind des lebhaftesten Mienenspieles, tiefer Veränderungen fähig. Das Haar liegt in krausen Locken auf dem Haupte, hebt sich aber in Momenten gewaltiger Erregung steif empor. Haltung und Sprache sind in den verschiedenen Scenen vielfach wechselnd. Begründen wir kurz das Einzelne. Der erste Todtengräber erzählt V, 1, daß er seit 30 Jahren im Amte. und just an dem Tage dazu gekommen, an dem Hamlet geboren. Auch die Anspielung im Schauspiel auf der Bühne: „Schon 30 Mal hat den Apoll sein Wagen" etc., ist nicht zu verkennen. Ueber seine Natur spricht sich Hamlet I, 2 selbst aus: My father's brother, but no more like my father than I to Hercules. Der auffallende, dem Zuschauer klar vor Augen stehende Unterschied zwischen der eigenen Gestalt und der des Herkules soll den schroffen Gegensatz zwischen Vater und Ohm so recht zur Geltung bringen; da nun aber die Mutter V, 2 unwillkürlich ausruft: He's fat and scant of breath, und bereits im zweiten Gange des Zweikampfes, den allerdings Laertes auf Rath des Königs wohl etwas lebhaft gemacht haben wird, Hamlet die Schweißperlen so lebhaft auf die Stirn treten, daß die Königin zärtlich besorgt ihm das Gesicht trocknet, auch sonst Hamlet sich als kräftig und muskulös gebaut kund

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1) Das hier gezeichnete Portrait der äußern Erscheinung stimmt wohl kaum mit dem überein, das im poetischen Sinne und in der allgemeinen Auffassung lebt; wenn es dennoch das richtige ist, so hat Shakespeare eben die Gestalt des actuellen Schauspielers seiner Zeit zum Vorbilde genommen, und die Beschreibung der Erscheinung angepaßt. Kein unbefangnes Leser-Gemüth glaubt an einen fetten, kurzathmigen Hamlet! Was die berühmten dreißig Jahre betrifft, siehe Jahrbuch XVII, pag. 290; betreffs He's fat and scant of breath, siehe Band XVI, pag. 394, sub. Nr. 192. D. R.

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giebt er nimmt es mit Laertes im Ring- und Fechtkampf auf, Horatio, Marcellus und Bernardo vermögen ihn nicht zurückzuhalten so ist die scharfe Differenz zwischen der eigenen Gestalt und der des Herkules allein in dem Höhenunterschiede zu suchen. Mit der etwas starken, untersetzten Figur harmoniren sehr wohl: die V, 2 Osrick gegenüber erwähnte Gewohnheit täglich eine Stunde frische Luft zu schöpfen, das stundenlange Aufund Abgehen in der Gallerie II, 2, die zweimal II, 2; V, 2, hervorgehobenen regelmäßigen ritterlichen Uebungen; mit ihr steht aber auch die Gewandtheit, Gelenkigkeit, ja Geschmeidigkeit, die Hamlet bei dem Austausch des Rosenkranz und Güldenstern übergebenen Aktenstückes, bei dem Sprunge und Kampfe im Grabe, dem Entern des Korsarenschiffes, dem Entreißen des Rapieres aus der Hand des Laertes offenbart, durchaus nicht in Widerspruch. Männer von Hamlet's Körperbau sind oft die gewandtesten und zierlichsten Turner. Ebensowenig widerstreitet der Figur die feine höfische Tournüre, die Hamlet nach Opheliens Schilderung, III, 1, im höchsten Grade besaß. Sie preist ihn in erster Linie als Hofmann, erst in zweiter als Krieger und Gelehrter, und wenn sie ihn the rose of the fair state nennt, the glass of fashion and the mould of form, th'observ'd of all observers, Rose, Spiegelbild und Modell feinster Form, unwillkürlich aller Augen auf sich ziehend, so muß, selbst wenn man in Rechnung setzt, daß die Schildernde ein junges liebendes Mädchen ist, doch ein eigenthümlicher Zauber über dem ganzen Wesen Hamlet's ausgebreitet gewesen sein, er in Haltung, Bewegung und Sprache das Bild eines vollkommenen Kavalieres dargeboten haben. Daß er die hofmännische Haltung auch im Stücke selbst, im Beisammensein mit den ehemaligen Schulgenossen hervorkehrt, bezeugt Rosenkranz III, 1. Dieselbe Haltung eignet sich ungemein für das Gespräch mit Osrick. Auch Laertes gegenüber V, 2 ist der sich entschuldigende Hamlet zum guten Theil Kavalier, und beim Empfange der Schauspieler paart sich meinem Empfinden nach das feine höfische Wesen so recht mit natürlicher Hoheit. Auf Stellen, in denen der zur Zeit Elisabeth's gebräuchliche gezierte und geschraubte Hofton Verwendung fand, hat Delius in seiner Hamletausgabe in verdienstlicher Weise hingewiesen. Hamlet bedient sich derselben mehrfach und ist also auch in dieser Beziehung Hofmann.

In wie weit Haltung und Mienen des Prinzen mit den verschiedenen Seelenstimmungen wechseln, können wir erst später

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