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Der Rattenfänger. 1)
Ich bin der wohlbekannte Sänger,
Der vielgereiste Rattenfänger,
Den diese altberühmte Stadt
Gewiß besonders nöthig hat.
Und wären's Ratten noch so viele,
Und wären Wiesel mit im Spiele,
Von allen säubr' ich diesen Ort,
Sie müssen mit einander fort.

Dann ist der gutgelaunte Sänger
Mitunter auch ein Kinderfänger,
Der selbst die wildesten bezwingt,
Wenn er die goldnen Märchen singt.
Und wären Knaben noch so trußig,
Und wären Mädchen noch so stußig, 2)
In meine Saiten greif' ich ein,
Sie müssen alle hinterdrein.

Dann ist der vielgewandte Sänger
Gelegentlich ein Mädchenfänger;
In keinem Städtchen langt er an,
Wo er's nicht Mancher angethan.

1) Zuerst im „Taschenbuch auf das Jahr 1804", jedoch nach Riemers „Mittheilungen über Goethe" schon vor 1791 als Einlage zu einem Kinderballet ge= dichtet. · Gottfrieds „Historische Chronika“, welche Goethe als Knabe gelesen, ers zählt: „Im Jahr 1284 hat sich der traurige Fall mit den Kindern zu Hameln im Braunschweigischen Lande begeben. Es hatte ein Landstreicher sich mit den Bürgern um ein gewisses Geld verglichen, daß er mit einer kleinen Pfeife alle Ratten und Mäuse aus der Stadt führen und sie dieses Ungeziefers entladen wollte. Er that solches und führete Ratten und Mäuse hinüber in ein Wasser, worin sie ersauffen mußten. Da ihm aber die Bürger zu Hameln (wie man saget) seinen Lohn nicht gaben, kam er auf einen Freytag, im Monat Junio, in die Stadt, weil die Leute in der Kirche waren, und fieng wieder an zu pfeiffen Da sammelten sich 130 Kinder, die führete dieser Pfeiffer alle hinaus, gieng mit ihnen in das Thal Koppen= berg, und führete sie da in den Berg hinein, daß weder Stumpf noch Stiel von ihnen nach derselben Zeit gesehen worden. Es schreiben die von Hameln die JahrZahl noch vom Ausgang ihrer armen Kinder. Also lohnet der Satan, wenn man sich mit ihm einlässet."

2) Schen.

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Don wem ich es habe, das sag' ich euch nicht,

Das Kind in meinem Leib.

Pfui! speit ihr aus: die Hure da!

Bin doch ein ehrlich Weib.

1) Zuerst in den „Neuen Schriften" 1800. Die Veranlassung zu diesem Gedicht gab vielleicht ein Lied von Voß in seinem „Musenalmanach auf das Jahr 1792", welches beginnt:

Ich saß und spann vor meiner Thür,

Da kam ein junger Mann gegangen.

2) Der Flachs wird nach Stein gewogen, das daraus gesponnene Garn in Zahlen (Strähnen) getheilt. Ich spann aus dem Flachs noch viele Zahlen Garn. 3) Weil der Faden nicht mehr so gleich war, wegen ihrer innern Unruhe. 4) Dritte Ausgabe, 1815, jedoch spätestens 1778 gedichtet.

Mit wem ich mich traute, das sag' ich euch nicht.
Mein Schag ist lieb und gut,

Trägt er eine goldene Kett' um den Hals,

Trägt er einen strohernen Hut. 1)

Soll Spott und Hohn getragen sein,

Trag' ich allein den Hohn.

Ich kenn' ihn wohl, er kennt mich wohl,

Und Gott weiß auch davon.2)

Herr Pfarrer und Herr Amtmann ihr,
Ich bitte, laßt mich in Ruh!

Es ist mein Kind, es bleibt mein Kind,
Ihr gebt mir ja nichts dazu.

Der Edelknabe und die Müllerin. 3)

Edelknabe.

Wohin? wohin?

Schöne Müllerin!

Wie heißt du?

Müllerin.

Liese.

Edelknabe.

Wohin denn? Wohin,

Mit dem Rechen in der Hand?

1) Gleichviel ob er eine goldene Kette trägt oder einen Strohhut, ein Edelmann oder ein Bauer ist.

2) Vor Gott sind wir verheirathet, wenn auch nicht in Kirche und Amtsstube. 3) Auf seiner dritten Schweizerreise, am 31. August 1797 schreibt Goethe an Schiller: „Ich bin von Stuttgart unterwegs auf ein poetisches Genre gefallen, in welchem wir künftig mehr machen müssen. Es sind Gespräche in Liedern. Ich habe so ein Gespräch zwischen einem Knaben, der in eine Müllerin verliebt ist, und dem Mühlbach angefangen und hoffe ez bald zu überschicken." Dann im September bei Uebersendung des ersten mit der Aufschrift: „Der Edelknabe und die Müllerin. Englisch“: „Es folgen auf diese Introduction noch drei Lieder in deutscher, französischer und spanischer Art, die zusammen einen kleinen Roman ausmachen." Auch im Schillerschen Musenalmanach auf 1799, wo die vier Balladen zuerst abgedruckt sind, hat jeder Titel den entsprechenden Zusaß: Altenglisch, Altdeutsch, Altfranzösisch, Altspanisch. Ob diese Zusäße nur die Dichtungsart bezeichnen sollen, oder ob wirklich bei jedem derselben dem Dichter ein fremdes Lied vorgeschwebt habe, ist nicht ermittelt. Bekannt ist ein solches nur beim dritten: „Der Müllerin Verrath.“

Müllerin.

Auf des Vaters Land,
Auf des Vaters Wiese.

Edelknabe.

Und gehst so allein?

mällerin.

Das Heu soll herein,
Das bedeutet der Rechen;

Und im Garten daran

Fangen die Birnen zu reifen an,
Die will ich brechen.

Edelknabe.

Ist nicht eine stille Laube dabei?

mällerin.

Sogar ihrer zwei,

An beiden Ecken.

Edelknabe.

Ich komme dir nach,

Und am heißen Mittag

Wollen wir uns drein verstecken.

Nicht wahr, im grünen vertraulichen Haus

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Und weißt nicht, was ich junges Blut
Hier fühle.

Es blickt die schöne Müllerin

Wohl freundlich manchmal nach dir hin?

Bach.

Sie öffnet früh beim Morgenlicht

Den Laden

Und kommt, ihr liebes Angesicht

Zu baden.

Ihr Busen ist so voll und weiß;

Es wird mir gleich zum Dampfen heiß.

1) Dünger sagt, Goethe habe unmöglich meinen können, die vier Balladen sollten auf dasselbe Liebesverhältniß sich beziehen. Die oben (S. 126, Anm. 3) angeführte Aeußerung Goethe's, daß die Lieder „zusammen einen kleinen Roman ausmachen“, geht aber ausdrücklich nur auf die drei folgenden, welche in der That einen unverkennbaren innern Zusammenhang haben, wenn man es auch mit der Uebereinstimmung in allen Einzelheiten der Vorgänge nicht gar so genau nehmen darf; wie denn Goethe auch sonst einen kleinen Widerspruch im Einzelnen nicht scheute, wenn er der dichterischen Wirkung zu Gute kam.

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