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lernen, welche die Veränderungen der Anlässe bedingen und erst die Gedichte möglich machen; wir werden demnach bis zu einem gewissen Grad einen Einblick in das Innere des Dichters erhalten. Oder mit anderen Worten, wir können verschiedene Stadien im Werdeprozesse der lyrischen Gedichte beobachten und werden nicht fehl gehen, wenn wir sie als Stadien im Werdeprozesse des lyrischen Gedichtes überhaupt ansehen und sagen, das lyrische Gedicht entwickelt sich oder entsteht im Innern des Dichters gewöhnlich auf diesem oder jenem Wege. Dies ist wieder ein Punkt, welcher bisher nicht genügend im Zusammenhang erforscht ist.

Wir können endlich häufig genug beobachten, in welcher Weise sich nun das lyrische Gedicht aus dem Innern des Dichters losringt, wie er es abstöfst und, getrieben von einer Kraft, welche wir vielleicht nicht kennen, produzieren mufs. Es wird sich daher fragen, wie wir diesen Zustand aufzufassen haben und ob wir auch hierin eine gewisse Gleichheit oder Gesetzmäfsigkeit festzustellen vermögen. Auch dies ist ein Punkt, der uns die Möglichkeit der Erforschung giebt.

Es kann nicht daran gezweifelt werden, dafs jede Kunst etwas Erlernbares enthält, ja dafs vieles auch in der Lyrik erlernt werden muss. Freilich bleibt ein Etwas in jeder Kunst, auch in der Lyrik, was niemals gelernt wird oder gelernt werden kann, jenes Unbewusste nämlich, das in jedem Künstler steckt, jener göttliche Funke, durch welchen sich der Künstler vom Dilettanten unterscheidet. Durch diese beiden Worte, Künstler und Dilettant, bezeichnen wir nicht etwa Gradunterschiede, sondern eine Wesensverschiedenheit. Zwar sagt uns ein Dichter, HEYSE nämlich (Gedichte S. 469):

Dilettant heifst der curiose Mann
Der findet sein Vergnügen dran,
Etwas zu machen, was er nicht kann.

Zwar kennen wir das Wort: Es ist alles so Blick bei Euch, aber ihr könnt nichts machen, das HERDER GOETHEN einmal zurief; allein das kann unmöglich der Unterschied sein, denn „können“ heifst nichts anderes als erkannt haben", verstehen, setzt also eine bewufste Thätigkeit voraus und die liefse sich abgucken, erlernen. In erregten Momenten stöfst auch der Pfau Töne aus, aber wir nennen dies niemals Gesang; auch bei den Nachtigallen unterscheiden wir gute wie schlechte Schläger, aber wir nennen auch

das Schlagen des schlechtesten noch Gesang, während uns das schönste Pfau, Pfau" immer nur Geräusch bleibt. Dies ist der wirkliche Unterschied zwischen Künstler und Dilettant. Auch der Pfau will singen, ihm selber macht sein Schrei Vergnügen, er dilettiert sich daran, wie die Nachtigall, für uns jedoch ist sein Laut unangenehm, während uns der schmelzende Gesang der Nachtigall, welcher den gleichen Motiven entspringt, hinreifst und entzückt; der Pfau kann niemals singen lernen wie die Nachtigall, weil seine Natur es ihm nicht gestattet. Dasselbe nun ist beim Dichter der Fall, auch HOMER schläft mitunter, aber er bleibt auch dann Dichter; es ist nicht sein Verdienst, denn er hat sich jene Kraft nicht gegeben, welche den Dichter macht, er hat nur alles gethan, um sie zu üben. Wollte er uns Rechenschaft über diese Kraft geben, er vermöchte das selbst nicht, denn hier steckt jenes Unbewufste, das wir noch nicht erfassen können und vielleicht niemals erforschen werden.

Wir entdecken aber eine merkwürdige Übereinstimmung zwischen dem Psychischen und dem Physischen. Wir können auch den Werdeprozefs des einzelnen Individuums nur bis zu einem gewissen Punkt erforschen. Die Physiologie lehrt uns die Momente kennen, welche dazu gehören, um ein neues Individuum hervorzubringen, wir wissen, dafs ein Ei befruchtet wird, wir wissen, in welchen Stadien das Befruchtete sich entwickelt, wie es sich nährt und endlich geboren wird. Aber der Prozefs ist uns noch rätselhaft, warum das eine Mal der Same das Ei zu einem männlichen, das andere Mal zu einem weiblichen Keime befruchtet. Hier steckt ein Geheimnis, welches sich die Natur bisher noch nicht entreifsen liefs.

Ganz ebenso ist es beim Gedicht; wir können erforschen, was ein Gedicht veranlafst, wie es im Innern des Dichters wächst und endlich produziert wird, aber wie die Veranlassung zum Keim wird, aus welchem sich das Gedicht entfaltet, das vermögen wir nicht zu erforschen, das kann uns auch der Dichter nicht sagen, weil er es selbst nicht weifs, hier liegt eben das Unbewufste der Kunst. Aber unser Bemühen ist natürlich darauf gerichtet, mit unserer Erkenntnis so weit als möglich zu dringen. Und dies kann man ebenso wenig als Entweihung des poetischen Schaffens bezeichnen, als die Physiologie, welche die physische Zeugung zu erforschen sucht. Sollen wir das Herrlichste, das auf psychischem Gebiete wird, nur bewundernd anstaunen, ohne

zu fragen, wie es geworden? Nein, wir haben ein Recht der Forschung, ebenso wie wir das Höchste, das die physische Welt hervorbringt, das neue Wesen, nicht blofs betrachten, sondern fragen: woher? Und die gröfsten Dichter sind uns vorangeschritten, haben geredet, Rechenschaft über das Werden ihrer Werke abgelegt, ohne Scheu vor Entweihung. Wir haben eine Möglichkeit und ein Recht der Erforschung.

Es fragt sich nur noch, haben wir bereits genügendes Material für unsere Forschung, besonders was das lyrische Gedicht betrifft? Die Antwort lautet: ja und nein. Ja, denn wir haben eine Reihe von Gedichten auf ihren Anlass zurückgeführt, sei es durch die eigenen Geständnisse der Dichter, sei es durch Forschungen der Gelehrten. Aber nein, denn meiner Ansicht nach sind bisher aus diesem Materiale noch nicht die nötigen. Schlüsse gezogen, und dies ist das Neue, das ich zu bieten glaube.

Auch das Quellenmaterial mufs noch besprochen werden. Wir erhalten nämlich nur in den seltensten Fällen fertiges Material. Die Geständnisse der Dichter sind zweierlei Art; entweder sie haben theoretisch über die Dichtkunst im allgemeinen oder über ihr eigenes Dichten im besonderen gehandelt, insofern sind sie Forscher, von denen wir erst erfahren müssen, ob ihre Beobachtungen richtig sind; die Selbstbeobachtungen freilich müssen für uns dann als klassische Zeugnisse gelten, wenn wir den Dichter aus seinen sonstigen Äufserungen als wissenschaftlich vertrauenerweckend kennen lernen und keinen Grund haben anzunehmen, dafs er absichtlich irre führen wollte. Neben diesen selteneren Geständnissen, die ich freiwillige nennen möchte, gehen aber andere, welche wir als unfreiwillige bezeichnen dürfen. Wir müssen sie dem Dichter wie Untersuchungsrichter durch Kreuzfragen gleichsam erpressen, das heifst, wir machen zufällige Gelegenheitsäufserungen durch Schlüsse, welche wir vergleichend ziehen, zu Geständnissen. Hiefür kommen hauptsächlich zwei Faktoren in Betracht: Tagebücher und Briefe, mitunter noch Gespräche. Alle jene Tagebücher werden verhältnismässig erträgnisarm sein, welche nur Thatsächliches festhalten, doch wird mitunter mehr zufällig auch dies bedeutsam und giebt uns wenigstens sichere Daten an die Hand. Wichtiger werden Tagebücher, wenn sie auch das Gefühlsgebiet streifen, wenn sie Gedanken, Empfindungen, vor allem Eindrücke, Einfälle verzeichnen. Hier können wir den Dichter durchaus bei der stillen Arbeit belauschen, insofern er

für sich notiert, was ihn bewegt; freilich wird dabei die Mache eine Rolle spielen, weil der Dichter unwillkürlich beim Niederschreiben des Momentanen schon formt und gestaltet, also etwas von der künstlerischen Thätigkeit merken läfst. Noch mehr wird dies bei Briefen der Fall sein, denn der Dichter will durch sie eine Wirkung auf einen anderen erzielen, er schafft also schon viel bewusster. Häufig können wir jedoch sehen, wie er dabei ein Erlebnis im Momente gestaltet und durch den Vergleich solcher Briefe mit Gedichten kann sich ergeben, wie das flüchtig Festgehaltene weiter verarbeitet wird; dabei müssen wir natürlich durchaus mit unserer Forschung nachhelfen.

Was uns dagegen Forscher darbieten, ist selbstverständlich viel weniger zuverlässig, weil es sehr leicht geschehen kann, dafs nicht das richtige Erlebnis auf das Gedicht bezogen wird, wir können Fälle nachweisen, in denen sich ein Forscherschlufs als ein Trugschlufs ergiebt, es ist daher Vorsicht anzuwenden, auch bei den eigenen Schlüssen muss man sich hüten, nicht zu rasch und vorschnell das Resultat anzunehmen.

Aber soviel steht wohl fest, dafs nur auf dem geschilderten Wege, wenn überhaupt, etwas Licht über die dunklen Partien verbreitet werden kann. Bei umfangreichen Werken, Epen und Dramen, sind die verschiedenen Momente der Entstehung leichter zu beobachten, weil sie augenfälliger werden. Bei der Lyrik mit ihrem scheinbar ganz momentanen Charakter ist alles feiner, unsichtbarer, daher schwerer zu erfassen. Vielleicht ist dies auch der Grund, weshalb dieses Gebiet bisher so sehr vernachlässigt wurde.

Die

Diese Lücke soll im folgenden, soweit es bei einem ersten Versuche möglich ist, nach Thunlichkeit ausgefüllt werden. Resultate wurden auf Grund von sehr reichen Beobachtungen gewonnen und wiederholter Prüfung an immer neuem und verschiedenartigem Beobachtungsmaterial unterzogen. Bald ergaben sich mir immer nur neue Bestätigungen des früher schon Festgestellten, bald von dieser, bald von jener Seite gelangte die Untersuchung immer wieder zu demselben Ziele. Bei der schliefslichen Ausarbeitung konnte ich zweifeln, ob ich möglichst buntes oder möglichst einheitliches Material verwenden sollte. Gegen beide Möglichkeiten läfst sich mancherlei anführen; die erste Darstellungsart konnte den Schein erwecken, als sei der Beweis für jedes Resultat weit hergeholt, mühselig zusammengerafft und

entbehre deshalb der Allgemeingiltigkeit; die zweite dagegen, als pafsten die Beobachtungen nur auf wenige Dichter, nicht auf den lyrischen Dichter überhaupt. Es empfahl sich also ein Mittelweg, welchen ich auch eingeschlagen habe, die Resultate, soweit nur möglich, an denselben Dichtern zu erweisen, um zu zeigen, dafs bei jedem Lyriker dieselben Momente sich wiederholen, zugleich aber recht charakteristische Beispiele von anderen Dichtern vergleichsweise herbeizuziehen; zwar wird dadurch die Darstellung breiter, aber hoffentlich überzeugender. Sorgfältig war ich bestrebt, mich auf das lyrische Gebiet zu beschränken und nur jene Geständnisse zu verwerten, welche sich auf den lyrischen Prozefs beziehen, galt es doch festzustellen, wie ein lyrisches Gedicht wird. Es wäre mir ein Leichtes, für Drama und Epos viel reicheres Material fertig herüberzunehmen, denn diese beiden Gattungen waren von jeher Lieblingsgebiete der Forschung. Bei ihnen zweifelt niemand an der bewussten Arbeit des Dichters, das leichte Lied jedoch scheint so kunstlos aus dem Herzen des Dichters zu strömen, dafs man nicht an seine Mühe denkt. Epos und Drama verlangen so viele Vorbreitung, ein Aufwenden so grofser Kraft, so lange Zeit der Entstehung, dass wir unschwer Zeugen des Aufbaues werden können, während das lyrische Gedicht die Frucht des Augenblickes scheint, plötzlich entstanden als Eingebung der Stunde. Diesen Schein gilt es zu zerstören, das feine Räderwerk aufzudecken, das ineinander greift, um das lyrische Gedicht hervorzubringen, und deshalb war die strengste Beschränkung auf das lyrische Schaffen Pflicht meiner Untersuchungen.

3. Zur Orientierung.

Jeder Faden, den man ergreift, führt zum Mittelpunkt, wenn man ihn nur abzuwickeln versteht. Hebbel.

UHLAND schreibt am 7. November 1852 an einen unbekannten Schriftsetzer (Leben S. 425): „Es genügt nicht am Drang, an der angeregten Stimmung; der poetische Gedanke mufs klar vor dem Geiste stehen, der Gegenstand innerlich gestaltet sein, bevor zum Verse gegriffen wird, sonst giebt es nur Anklänge und verschwimmende Nebelbilder." Mit dieser stimmen andere Äusse

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