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und wie er sich mit Wünschen für die Zukunft vorbereitet, wird abgespiegelt: das ist also sicherlich Lyrik. Nun nennt GOETHE das Gedicht aber Wanderers Nachtlied", wir können zweifeln, ob das eine Rolle sein soll, die er spielt, oder eine Maske, die er vornimmt; ist das erste der Fall, dann rückt unser Gedicht nach SCHERER (S. 250) zum Drama und von der Lyrik weg, und so bliebe selbst ein Gedicht, an dessen echt lyrischem Charakter niemand irre wird, auch SCHERER nicht man vgl. in seiner Litteraturgeschichte S. 541 mit S. 799, für die Lyrik verloren. Auch SCHILLER und GOETHE fafsten, wie sich aus ihrem Fragment: Über epische und dramatische Dichtung" (Nr. 391) ergibt, Epos und Drama zusammen, weil sie beide ähnliche Gegenstände" behandeln und alle Arten von Motiven brauchen können"; von der Lyrik sprechen sie leider dabei gar nicht, aber sie fassen die drei Momente Stoff, Dichter und Publikum scharf ins Auge und entwickeln daraus den Unterschied von Epos und Drama; wir dürfen wohl sagen: „sie", da GOETHE selbst die Arbeit als eine gemeinsame bezeichnete. SCHILLER Wollte den Unterschied zwischen Epos und Drama nicht blofs aus der Stellung des Rhapsoden und Mimen zu seinem Auditorium ableiten, sondern schlug als zweites Hilfsmittel zur Anschaulichmachung dieses Unterschieds" vor: das Verhältnis des Dichters zu seinem Stoffe; die dramatische Handlung, so sagt er (Nr. 392), bewegt sich vor mir, um die epische bewege ich mich selbst, und sie scheint gleichsam stille zu stehn.“ Mit beiden Hilfsmitteln" richten wir bei der Lyrik nichts aus, denn weder ein Rhapsode noch ein Mime, „beide als Dichter", können uns den Vortrag des lyrischen Gedichtes versinnlichen, weder ein ruhig horchender", noch ein „ungeduldig schauender und hörender Kreis" umgiebt ihn, er denkt an kein Publikum, höchstens ist er der Vorsänger, welcher nur im Namen seines Hörerkreises singt, vom refrainwiederholenden Chorus begleitet. Auch die Stellung zu seinem Stoffe läfst sich nicht mit SCHILLER verwerten, denn er bewegt sich nicht um die Handlung, noch bewegt sie sich vor ihm, sondern alles, was er vorbringt, muss das Echo seines Innern sein, welches auf das aufser ihm erwidert. Schon AUGUST WILHELM SCHLEGEL hat diese Meinung in einem Athenäumsfragment angedeutet (MINOR, Friedrich Schlegel. II. S. 225. Nr. 140): „Die Eigenschaft des dramatischen Dichters scheint es zu seyn, sich selbst mit freygebiger Grossmuth an andere Personen zu verlieren, des lyrischen, mit liebevollem Egois

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mus alles zu sich herüber zu ziehn."

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Und GEIBEL hat ähnliches

in zwei Distichen seiner Dichtungen in antiker Form" (V. S. 36) ausgesprochen:

Das ist des Lyrikers Kunst, aussprechen, was allen gemein ist,
Wie er's im tiefsten Gemüth neu und besonders erschuf;
Oder dem Eigensten auch solch' allverständlich Gepräge
Leihn, dafs jeglicher drin staunend sich selber erkennt.

Und in dem folgenden:

Unübersetzbar dünkt mich das Lyrische. Ist doch der Ausdruck
Hier von des Dichters Geblüt bis in das Kleinste getränkt.
Auch in verwandelter Form noch wirken Bericht und Gedanke,
Doch die Empfindung schwebt einzig im eigensten Wort.

GOETHE hat die höchste Lyrik entschieden historisch" genannt (29, 654); ist dies richtig, und wenn ja, wie ist es zu verstehen? Er begründet diese Behauptung nicht scharf, sagt aber: „man versuche die mythologisch-geschichtlichen Elemente von PINDARS Oden abzusondern, und man wird finden, dafs man ihnen durchaus das innere Leben abschneidet." Meiner Ansicht nach läfst sich dies mit allem, was wir bisher sahen, vortrefflich in Einklang bringen.

Wir könnten ganz gut GOETHE, SCHILLER und GEIBEL folgend sagen: Die Lyrik durchtränkt und durchdringt alles; was von aufsen kommt, geht in den Lyriker ein und wird verwandelt, so dafs Äufseres und Inneres ein untrennbares Ganze bilden. Die Quelle, welche krystallhelles Wasser spendet, schöpft nicht aus sich, von allen Seiten her durch geheimnisvolle Röhren und Gänge fliefsen ihr die Wasser zu; man sondere diese fremden Bestandteile von ihr ab, und man hat nicht mehr ihr krystallklares Wasser. So verwandelt der lyrische Dichter alles, was in ihn übergeht, aber er schöpft es nicht aus sich, es strömt ihm von allen Seiten zu, und man vermöchte nicht, es aus seinem Gedichte abzusondern, ohne das Gedicht zu zerstören. Wenn der Epiker um den Gegenstand herumgeht, der Dramatiker ihn vor sich sieht, so durchdringt ihn der Lyriker und durchsetzt ihn so mit seinem Gefühle, dafs er sich unlösbar mit ihm vereinigt. Während der Rhapsode sich zu einem ruhig horchenden, der Mime zu einem ungeduldig schauenden und hörenden Kreis wendet, spricht der Improvisator nur aus, was wortlos die Herzen eines tiefbewegten Kreises durchzuckt; nicht er allein steht einem Publikum gegenüber, sondern er ist mitten unter ihm, einer aus dem Kreise, dessen Verkörperung,

oder vielmehr, was ja damit identisch ist, er bedarf keines Publikums, er dichtet für sich selbst, nicht um Beifall oder Lohn, sondern weil er gar nicht anders kann, weil sich das Wort auf seine Lippen drängt. Selbst wenn wir auf fremdem Wege zur Lyrik weitergehen, überkommt uns die Überzeugung ihrer wesentlichen Verschiedenheit von Epik und Dramatik.

HEBBEL nennt die Lyrik mit vollstem Rechte das Elementarische der Poesie, die unmittelbarste Vermittelung zwischen Subjekt und Objekt" (Tagebuch I. S. 319) und bezeichnet als die „beste Definition": „Die lyrische Poesie soll das Menschenherz seiner schönsten, edelsten und erhabensten Gefühle teilhaftig machen“ (I. S. 112). Auch dies ist nur scheinbar ein Widerspruch in sich und im Hinblick auf das von uns Festgestellte. Gerade weil die Lyrik die untrennbarste Verbindung des Inneren und Äufseren ist, kann sie auf das allgemeinste Verständnis rechnen; sie spricht aus, was das Menschenherz am tiefsten bewegt, weil sie nur spricht, wenn ihr eigenes Herz am tiefsten bewegt ist; sie singt nicht, um zu gefallen, und gerade deshalb gefällt sie jedem; ein Herz, welches von der Lyrik ungerührt bleibt, wird keiner Poesie zugänglich sein. Das hat auch HEBBEL gemeint.

Fassen wir nun das Wesen der Lyrik in eine Definition, so müssen wir sagen: Gefühle, Empfindungen oder Betrachtungen bei einem bestimmten Anlafs, durch ihn oder über ihn in erhöhter Aufnahmsfähigkeit (Stimmung) nennen wir lyrisch; den Ausdruck solcher Gefühle, Empfindungen oder Betrachtungen in dichterischer Form: lyrische Poesie; wir unterscheiden reine Lyrik als poetischen Ausdruck von Gefühlen und Empfindungen, Gedankenlyrik als poetischen Ausdruck von Betrachtungen; wir sagen allgemein: dichterische Form, weil es keine bestimmte lyrische Form gibt, sondern alle poetischen Formen zum Ausdrucke des lyrischen tauglich sind, ebenso fehlt in der Definition der Begriff: subjektiv, weil sie sonst zu enge würde.

Gegenüber der Lyrik steht jene Gattung der Poesie, für welche wir keinen gemeinsamen Namen besitzen; sie ist die poetische Darstellung eines Geschehens, einer Handlung, eines Charakters, sei es durch einen Bericht, sei es durch lebendige Vorstellung; die eine Gattung heifst Epik, die andere Dramatik. So scheidet sich Lyrik von ihr scharf ab, ohne dafs wir irgendwie ihr Gebiet einschränken müfsten.

Wenn wir in einem Drama einen Monolog finden, welcher auch als Ausdruck von Gefühlen und Empfindungen in dichterischer Form bezeichnet werden mufs, so hat er eine durchaus andere Bedeutung; er fügt sich ins Ganze und dient ebenso wie das Gespräch der lebendigen Vorstellung einer Handlung, eines Geschehens, vor allem eines Charakters, ganz anders als die Darstellung in einem lyrischen Gedichte. Dagegen finden wir lyrische Gedichte sowohl im Drama als im Epos zu bestimmten Zwecken eingelegt, was sich gar nicht mit unserem Falle vergleichen läfst und im 3. Abschnitt des 8. Kapitels behandelt werden soll.

Freilich aber giebt es Berührungspunkte zwischen der Lyrik und den anderen beiden Dichtungsarten auch insofern, als nicht blofs im Epos und Drama Lyrisches vorkommt, sondern in das lyrische Gebiet aus Epos und Drama allmähliche Übergänge führen. Man könnte meinen, das sei unmöglich, wenn die Ansicht richtig ist, dafs durch den Namen Lyrik das Wesen, durch den Namen Epos und Drama die Form der betreffenden Dichtungsart ausgedrückt ist; darnach könnte wohl Lyrisches in epischer und dramatischer Form sich denken lassen, aber kein Übergang von Epik und Dramatik zu Lyrik. Und doch ist dies der Fall, man braucht nur an jene Dichtungen zu denken, welche bald als Romanzen, bald als Balladen bezeichnet werden, um einen Berührungspunkt zwischen Epos und Lyrik zu treffen. Widerspricht diese Thatsache der vorgetragenen Ansicht, dann müssten wir die Gleichstellung von Lyrik, Epik und Dramatik wohl billigen und uns nach einer anderen Definition der Lyrik umthun. Diese Frage mufs daher sogleich erwogen werden, obwohl dadurch manches aus der späteren Behandlung vorweg genommen

wird.

Das Epos haben wir als die poetische Vorstellung eines Geschehens, einer Handlung, eines Charakters durch einen Bericht kennen lernen; die Lyrik als den Ausdruck von Gefühlen, Empfindungen oder Betrachtungen, bei einem bestimmten Anlass, durch ihn oder über ihn während einer besonderen Stimmung (Aufnahmsfähigkeit) in dichterischer Form. Wir haben darin nicht nur die Form, sondern auch das Wesen der Epik bezeichnet und es nur durch die Form vom Drama unterschieden. Die Einteilung, welche wir als die allein richtige erkannten, war eben nur eine Zwei-, nicht wie bisher eine Dreiteilung. Epik und Lyrik grenzen sich nach unserer Ansicht in ihrem Wesen dadurch ab,

dafs jene Handlungen, diese Gefühle, Empfindungen oder Betrachtungen vorführt, bei jener kommen Gefühle, Empfindungen und Betrachtungen nur vor, um die Handlung, die Charaktere vorzustellen, bei dieser können Handlungen und Charaktere vorkommen, um Gefühle, Empfindungen oder Betrachtungen darzustellen. Es ist demnach sehr gut möglich, dafs sich Übergänge vom Epos zur Lyrik finden, denn mitunter kann es zweifelhaft sein, ob die Handlungen und Charaktere nur der Gefühle, Empfindungen, Betrachtungen wegen, und ob die Gefühle, Empfindungen, Betrachtungen wirklich nur der Handlungen und Charaktere wegen da sind.

Die einfachste Form des Überganges stellt sich ein, wenn Epik und Lyrik neben einander in demselben Gedichte vorkommen. Das ist der Fall etwa bei dem Gedichte von SIMON DACH No. 204 von OESTELEYS grofser Ausgabe (Bibliothek des litterarischen Vereins Bd. 130, S. 460 ff.) „Klage eines verliebten Schäfers über die Untreue seiner Phyllis." Es beginnt ganz episch:

Es fieng ein Schäfer an zu klagen,
Wie seine liebste Phyllis ihn
Noch lieb gehabt vor wenig tagen,
Und nun geschlossen aus dem sinn,
Auch ihren schönen krantz von myrthen
Gegeben einem andern hirten.

Dann wird weiter erzählt, wie er tobt, sich ins Gras wirft, und fieng erbärmlich an zu schreyen". Erst jetzt hebt das eigentliche Lied an. Auf einen rein epischen Eingang folgt das Lied, es stehen also Epos und Lyrik unvermittelt nebeneinander, wir werden dies als Lied mit (epischem) Situationseingang bezeichnen. Hier war die Darstellung von Gefühlen und Empfindungen das Ziel des Dichters, die Handlung und der Charakter dienen nur zur Einführung des lyrischen Elementes. Ähnlich ist UHLANDS

Entsagung" (S. 191).

Gerade das Umgekehrte bemerken wir etwa in BÜRGERS „Lied vom braven Manne", hier geht der Dichter von einem lyrischen Motiv aus:

Gottlob! Dafs ich singen und preisen kann:
Zu singen und preisen den braven Mann.

und gelangt dann zu einem epischen, das immer wieder lyrisch anklingt; BURGER selbst hat dieses Gedicht (Lehrbuch der

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