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selbst auch den Stärksten erliegen läfst; der Kahlivizos wird zum Gotteslästerer und Mörder seiner Kinder am Ende seiner Taten. Nicht wie einst ward der Kindermord an den Anfang seines Lebens, als Schuld, gesetzt, die er durch sein mühenreiches Leben sühnt, sondern Euripides läfst den Weltenüberwinder, nachdem alles vollbracht ist, was er zu tun hatte im Leben, in Gröfsenwahnsinn, in Zerstörungswut weiter sich baden im Blut, im Blut seiner Kinder, um ihn so zum Propheten des Weltelends zu machen und in dumpfer Verzweiflung über des Lebens Nichtigkeit enden zu lassen. Wir sehen, die Weltanschauung der dorischen Sage hat einen gewaltigen Rifs erhalten; aber auch so wird diese noch die Trägerin der Anschauung nicht nur eines einzelnen Individuums, sondern einer ganzen Zeitepoche nemlich der glaubenslosen, sophistischen. Der Kontrast im Euripideischen Drama zwischen dem nach allen seinen Heldentaten hochgepriesenen Helden und seinem schaurigen Verbrechen, mit dem statt der Verklärung dies Leben endet, ist ein schneidender; der Held ist von seiner Höhe gestürzt, dies Dasein, das Weiterlebenmüssen ihm eine Qual. Und so stöhnt er im Schmerz und verflucht das menschliche Leben wie der von seiner Höhe gestürzte Hiob in seinem körperlichen Leid und in der ohnmächtigen Verzweiflung über Gottes unerforschliches Gericht, das auch den Schuldlosen trifft, den Tag seiner Geburt verwünscht und wie durch das ganze Altertum, ja durch die Poesie aller Völker jene Klage über die Schwäche und Nichtigkeit des Irdischen, über das Unbegreifliche des Menschendaseins hindurchgeht. „Mir war das Leben weder jetzt noch früher hold", das ist am Ende des Herakles Bekenntnis; ,,uns trotzt der Himmel, und dem Himmel trotzen wir", spricht er mit Titanengroll, um gleich darauf die Götter selbst als ,,armselige Dichtermärchen" zu bezeichnen. Sein Leben war ihm nur Leiden, aber jetzt hat die Freveltat, die Schuld ihn zermalmt:

Wohl hab' ich Leiden ohne Zahl schon durchgekämpft,
Und keines floh ich, keines auch hat Zähren mir
Entlockt, ich glaubte nimmermehr zu solcher Schmach,
Dafs Thränen mir entströmten, je mich aufbewahrt!

Nun muss ich, scheint es, untertan dem Schicksal sein.

Endlich ermannt er sich, er will das Elend tragen, wie er einst den Ruhm und den Sieg auf seine Schultern lud. Und was ist es, das dem Verzweifelten neuen Mut, neue Kraft einflöfst? Es ist die Freundesliebe und Dankbarkeit des Theseus, der dem Unseligen ein

Asyl darbietet. - ,,Die Menschheit", sagt v. Wilamowitz*),,,hat ihre eigene Unzulänglichkeit einsehen gelernt in bittersten Erfahrungen, darum genügt ihr die Heraklesreligion nicht mehr: aber sie hat auch die himmlische Kraft erkennen gelernt, mit welcher sie die Wunden lindern kann, die sie sich selbst in ihrer Überhebung schlägt: die Kraft der Liebe." So dämmert wenigstens in derjenigen Tragödie, welche uns die Zersetzung der Heraklessage am deutlichsten vor Augen führt, schon der Gedanke auf, den wir im Hiob als den erlösenden vergebens suchten, der aber im Faust zur Wahrheit wird. Die schrille Dissonanz, mit welcher das Herakles-Drama des Euripides die einst so tief erhabene Sage völlig zu vernichten droht, wird doch noch zu einer milder ausklingenden Harmonie durch den Segen der Freundesliebe, durch die Vergeltung des Guten, was der Held getan hat, ehe seine Sinne von der Lyssa, dem Wahnsinn, betört wurden. —Wir sahen also, in den mannigfachsten Umgestaltungen ward Herakles zu einem Typus der antiken Menschheit, ward die Heraklessage zu dem Gefäfse der antiken Weltanschauung verschiedener Epochen wie der Faust, wie vor allem der Goethesche Faust Träger der modernen wurde. Der altjüdische Geist suchte das Weltenrätsel seiner ganzen Anschauungsart gemäss in den engen Schranken seiner Religion - im Anschlufs an die Sage von Hiob zu lösen; der antike Geist formte keine andere Sage zu einem so bedeutsamen Vehikel seiner mannigfachen Manifestationen um wie die Herakles-Sage, und der moderne Geist, welcher Nation er auch sei, findet sich in niemandem deutlicher wieder als in der gröfsten modernen Dichtung, als im Goetheschen Faust, der das Sein des Menschen mit seinem Irren und Begehren, seinem Geniessen und Verzweifeln, seinem Ringen und Streben und Leiden bis auf den Grund ausschöpft. Ein typisches Menschheitsbild aus der antiken Welt, wie sie am höchsten im Judentum und Griechentum vertreten wird, bietet der Hiob, bietet der Herakles, ein typisches Menschheitsbild aus der modernen Welt der Faust. Trotz ihrer tiefen Verschiedenheiten sind sie Brüder desselben Stammes; allüberall bleiben die Rätsel dieselben, nur die Fragestellung und die Lösung wechseln, und allüberall wenn nicht die Religion, die in den ältesten Zeiten garnicht von ihnen zu trennen ist ist die Sage und mit ihr die Dichtung die Trägerin der grofsartigsten Ideen,

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*) A. a. O. S. 376.

das getreueste Spiegelbild der Weltanschauung. Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis, ein Gleichnis des Ewigen, Unwifsbaren: auch nur im Gleichnis der Sage und der Poesie vermag der Mensch das Tiefste und Höchste, was seine Brust füllt, zum Ausdruck zu bringen. Hiob, Herakles und Faust sind aber solche Gleichnisse, wie sie in ähnlicher Tiefe und Geistesverwandtschaft aus alter und neuer Zeit die Weltlitteratur nicht wieder bietet.

Kiel.

Ein hebräischer Reiseroman.

Von

Marcus Landau,

E

rwin Rohde hat in seinem vortrefflichen Werke: „Der griechische Roman und seine Vorläufer", den Reiseromanen, ethnographischen Utopien und Fabeln ein umfangreiches Kapitel gewidmet, in welchem er diesen Zweig der griechischen Litteratur von der Odyssee ausgehend bis zu den Byzantinern behandelt und auch die orientalischen, vorzüglich indischen Einflüsse berücksichtigt.

Von einem hebräischen Werke dieser Gattung erwähnt er aber nichts. Es sind ihm entweder die hiervon existierenden ungenügenden Übersetzungen ins lateinische und französische unbekannt geblieben oder er hat darin zu wenig Handlung gefunden, um es noch als Roman betrachten zu können.

Wenn der griechische Roman nach Rohde aus einer Verschmelzung des erotischen Elements mit einer ethnographisch-philosophischen Idylle oder einer eigenen Gattung abenteuerlicher Reisedichtung entstand, so erscheint uns diese hebräische Reisedichtung als eine chemische Verbindung ähnlicher Gattung, in welcher aber das erotische Element durch ein religiöses ersetzt ist. Ich will jedoch damit nicht gesagt haben, dafs der hebräische Autor die Griechen nachahmte, von denen manche jünger als er sind, während er von den ältern höchst wahrscheinlich nicht die geringste Kenntnis gehabt hat.

Aber der Jude sowohl als der Grieche, so wenig sie auch sonst miteinander harmonierten, lebten doch im frühern Mittelalter in derselben geistigen Atmosphäre und die orientalischen Einflüsse, die sich in den byzantinischen Romanen wahrnehmen lassen, wirkten auf den

Juden noch direkter und kräftiger. So brachten ähnliche Ursachen ähnliche Wirkungen hervor. Aus im Altertum und frühen Mittelalter verbreiteten, zum Teil durch mündliche Tradition fortgepflanzten abenteuerlichen Schilderungen von fernen Ländern und Völkern, aus teils speziell jüdischen, teils internationalen Sagen und Mythen setzt sich das dem Daniten Eldad zugeschriebene Reisewerk zusammen, dem sein Autor oder vielleicht ein späterer Bearbeiter manches zugesetzt hat, was er von den Riten und religiösen Bräuchen der Juden in Abessynien entweder selbst beim Besuche dieses Landes oder durch andere Reisende erfahren hat.*)

Das Werk selbst giebt sich als der Reisebericht des Juden Eldad vom Stamme Dan aus, der unter allerlei Abenteuern auch zu den übrigen der verlorenen zehn Stämme gelangte und was er dort von den frühern Schicksalen und den gegenwärtigen Zuständen derselben erfahren hat, seinen Glaubensbrüdern in Nordafrika erzählte.

Dieser Bericht ist in mehreren von einander in Einzelheiten verschiedenen aber im allgemeinen Plan ziemlich übereinstimmenden Versionen verbreitet und in einigen sehr selten gewordenen Ausgaben von Konstantinopel und Venedig aus der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts erhalten. Ein erster Druck vom Jahre 1480 ist nicht mehr aufzufinden. Die vorhandenen Handschriften scheinen auch nicht älter als die Drucke zu sein, nur eine unvollständige in Parma ist vom Jahre 1289 datiert. Das Werk selbst ist aber um ungefähr vierhundert Jahr älter, da sich die erste Kunde davon in einem Briefe der Judengemeinde von Kairwan (im Gebiete von Tunis) an einen berühmten Gelehrten, den Gaon Rabbi Zemach in Sura in Persien, welcher am Ende des neunten Jahrhunderts lebte, findet.

Nachdem bereits Rabbiner Dr. Jellinek in seinem Sammelwerke Bet ha-Midrasch (Leipzig und Wien 1853-1877) einige Recensionen des „Eldad“ veröffentlicht hat, giebt uns jetzt Herr Abraham Epstein eine kritische Ausgabe aller Recensionen, welche ihm in Drucken und Handschriften erreichbar waren, bereichert mit einer ausführlichen Einleitung, zahlreichen Anmerkungen und einem Anhang über die Juden in Abessynien. **)

*) Der neueste Herausgeber will aus manchen Umständen und besonders aus den vielen Arabismen schliessen, dafs der Verfasser aus Südarabien oder aus der gegenüberliegenden afrikanischen Küste, am Golfe von Aden, stammte. Für ein Werk, das zu einer Zeit entstand, in der Araber von Persien bis Spanien herrschten, sind aber Arabismen im Hebräischen kein Beweis für dessen Entstehung in Arabien.

**) Eldad ha Dani, seine Berichte über die X Stämme und deren Ritus in verschiedenen Versionen nach Handschriften und alten Drucken mit Einleitung und An

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