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ungarischen Lebens, ungarischer Bräuche und ungarischer Geistesbildung. Wer im täglichen Leben herumhorcht, mit der nöthigen Aufmerksamkeit und mit scharfem, interessiertem Ohr, wird die erstere Supposition auch dann zurückweisen müssen, wenn seine literarische Bildung, die positive Kenntnis zahlloser Redensarten, die zwischen Citat und Sprichwort stehen, ihm dies nicht schon ohnehin gebieten würden. Durchaus annehmbar erscheint dagegen die zweite Voraussetzung, dass fremde Literaten, auch wenn sie uns die nöthige Sympathie entgegenbringen, aus ganz naheliegenden Gründen nicht in der Lage sind, dasjenige zu wissen, was schon der Natur der Sache nach absolute Vertrautheit mit dem Geistesleben der ungarischen Nation bedingt. Um einen ungarischen Büchmann zu schaffen, dazu bedurfte es eines Schriftstellers, der außer dem eigenen reichen Wissen Lust, Ehrgeiz, Scharffinn, an Pedanterie streifende Genauigkeit und unendliche Geduld an dieses Werk zu setzen unternahm. Und es ist eine ganz merkwürdige Fügung, dass es just einen der originellsten, freilich auch der begabtesten Schriftsteller Ungarns vorbehalten blieb, der Erklärer des «Geistes der Anderen» zu werden. Der ungarische Büchmann liegt fertig auf unserem Tische und mit einem Gefühle der Ueberraschung lesen wir unter dem Titel den Namen Béla Tóth's als den des Sammlers und Erläuterers der «geflügelten Worte des Ungarthums».

Der Journalismus, der auch das große Talent nur dann brauchen kann, wenn es den Geist in kleiner Münze auszugeben versteht, ist sonst nicht der Boden, worin die ruhige, schriftstellerische Sammlung gedeiht; und Béla Tóth ist diesem Boden entsprossen. Allein sein stets dem Exceptionellen zugekehrter Geist erhielt durch den Beruf nur immer neue Anregung, und da Tóth von jeher Allem aus dem Wege ging, was nach Schablone schmeckte, mied er auch in seinen Büchern die breitgetretenen Pfade. Eine reizende kleine Wiedergabe der Kindheit Jesu in unverfälschtem Chroniken-Stil und sein jetzt erschienenes Werk «Von Mund zu Mund» sind die beredtesten und erfreulichsten Zeugnisse für eine eigenartige und mit glänzender Begabung gepflegte Geistesrichtung. In einem Vorwort dankt der Autor jenen ungarischen Gelehrten, Schriftstellern und Künstlern, die ihm bei der Schaffung des ungarischen Büchmann zur Seite gestanden und bittet er Publikum und Kritik um die Aeußerung von Wünschen und Ausstellungen. Diese Bitte wird zweifellos Gehör finden und die Mitwirkung des gebildeten ungarischen Publikums wird denn auch sicherlich den Erfolg der künftigen Auflagen des Werkes nur erhöhen.

* Szájrul szájra. A magyarság szálló igéi. Gyűjtötte és magyarázza Tóth Béla. Budapest. Az Athenæum R.-Társulat kiadása. Ára kötve 3 forint. (Von Mund zu zu Mund. Die geflügelten Worte des Ungarthums. Gesammelt und erläutert von Béla Tóth. Budapest, Athenaeum. Preis geb. 3 fl.)

Ueberraschend reich ist das Buch an Hungarica, die von Büchmann beinahe vollständig ignoriert wurden. In den «Geflügelten Worten» finden sich deren zwei, und auch diese sind, wie Tóth nachweist, durchaus nicht. richtig, obgleich sie bereits in alle großen Lexici Eingang gefunden haben.

Das Eine ist das berühmte Epigramm: «Bella gerant alii; tu felix Austria nube; Nam quae Mars aliis, dat tibi regna Venus» (Krieg mögen Andere führen; du glückliches Oesterreich, schließ' Ehen! Denn während Anderen Mars, gibt dir Venus Länder.) Dieses Epigramm wurde von dem Engländer William Stirling Mathias Corvinus zugeschrieben und im Büchmann, sowie in den Lexici von Meyer und Brockhaus figuriert Mathias der Gerechte als der Autor dieses Distichons, welches zweifellos aus der Zeit des großen Königs stammt. Allein dass Mathias es verfasst hätte, dafür fehlt jeder Beweis, ja sogar jeder Anhaltspunkt, da absolut nichts davon bekannt ist, dass der Ungarkönig jemals Verse gemacht hätte. Viel wahrscheinlicher ist die Annahme, dass Kaiser Maximilian I., der Zeitgenosse Mathias Corvinus' als «Theuerdank» auch in der deutschen Literaturgeschichte verewigt oder einer seiner Hofpoeten jenes Epigramm verfasste. Kann aber auch der Autor dieses Epigramms nicht genau festgestellt werden, so ist doch das Eine sicher, dass die Idee des Distichons: das Bella gerant alii von Ovid herrührt, während das Felix Austria auf einem Siegelabdruck aus dem Jahre 1364 Rudolf IV. ließ den Siegelring nach der Besitzergreifung von Tirol anfertigen sich vorfindet. Ein ähnliches Verslein enthält übrigens auch ein altes, im Nationalmuseum verwahrtes Büchlein Anton Szirmay's. Als Napoleon Bonaparte die Ehe mit Marie Louise einging, wurde in Ungarn der Stachelvers gemacht: «Was es kürzlich verlor mit des Säbels Schneide das gewann Oesterreich jetzt mit des Säbels Scheide. >>

Auch die Bezeichnung «Misera plebs contribuens» (das arme steuerzahlende Volk), welche, wie Büchmann behauptet, in Werböczy's «Decretum Tripartitum» vorkommt, ist in dem angegebenen Werke des großen ungarischen Codificators nicht enthalten. Von «miserae plebis» spricht bereits Horaz in den Satiren, auch in Szegedi's «Tirocinium» (Mitte des XVIII. Jahrhunderts), einer Bearbeitung von Werböczy's «Tripartitum», findet sich der Ausdruck «misera plebs » (im mitleidigen, nicht verächtlichen Sinne), allein das «contribuens» fehlt hier wie dort. Dieses geflügelte Wort scheint mithin aus einem alten Buche, vielleicht auch aus einer alten Deputiertenrede uns überkommen zu sein.

Ein vielcitiertes, zumeist unrichtig angewendetes Wort ist das aus dem corpus juris bekannte G setz Koloman's des Bücherkundigen: «De strigis, quae non sunt, nulla quaestio fiat», oder nach der für richtiger gehaltenen Endlicher'schen Lesart: «De strigis uero, quae non sunt, ne ulla questio fiat». Dieses Gesetz gilt allgemein als ein Beweis dafür, dass

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Koloman der Aufgeklärte die Einstellung des nothpeinlichen Verfahrens wider die Hexen anbefohlen habe. Das ist aber ein Irrthum. Die «Stigris», von denen hier die Rede, sind nicht Hexen, sondern böse Geister, welche Nachts die Schläfer bedrücken (die deutschen Alben etwa). Den Hexen wurde in den Zeiten Koloman's nach wie vor der Prozess gemacht, nur traf der König Bestimmungen, welche das in den Gesetzen St. Stefan's und St. Ladislaus' angeordnete peinliche Verfahren milderten. «Striga» und «Hexe waren in jedem Falle von einander verschiedene Begriffe.

«Siebenbürgische Praktik,» ist noch heute eine landläufige Bezeichnung für ein verdächitges Doppelspiel. Tóth findet den Ursprung dieser Redensart in einem Werke des alten Historikers Michael Cserey († 1756), der in seiner Geschichte Siebenbürgens der «teuflischen Praktik» Michael Teleki's eine Niederlage der siebenbürgischen Armee bei Hermannstadt zur Last legt.

Das geflügelte Wort «(Nem) Csáky szalmája» rührt aus dem XVII. Jarhrhundert, zu weleher Zeit der Judex Curiae Ladislaus Csáky (oder sein Sohn?) in seiner Herzensgüte die Vorräthe einer großen Scheune auf der Domäne Léva der Menge preisgab. Das Ende war, dass der gütige Herr schließlich von der ganzen Ernte nicht einen Halm übrig behielt. So sagt man denn bis auf den Tag auf ein Gut, das nicht herrenlos ist: «Das ist nicht Csáky's Stroh.»

Der wienerische Kraftausdruck «Kruzitürken» ist gleichfalls ungarischen Ursprunges. Er ist eine Verstümmelung der Worte «Kuruczen und Türken aus der Zeit, als Rikóczi's Kuruczen 1704 die Umgebung der österreichischen Residenz verwüsteten.

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«Ungarn, die Grundlage der Monarchie» ist ein Wort, welches Prinz Eugen von Savoyen in einem Briefe vom 13. November 1720 an den Reichskanzler Fürsten Salm gebrauchte. In diesem Schreiben heißt es: «Wenn wir einmal die Niederlande verlieren, welche Frankreich mit seinem System zweifellos an sich reißen wird, dann wird Ungarn die Grundlage der österreichischen Monarchie bilden etc. » Dieser Satz dürfte wahrscheinlich auch das Original des Wortes sein: «Den Schwerpunkt nach Ofen verlegen.»

Von dem altberühmten Satze «Vitam et sanguinem! Moriamor pro rege nostro Maria Theresia» ist nur die erste Hälfte historisch verbürgt. Die Aufzeichnungen der zeitgenössischen Chronisten enthalten das «Moriamur etc.» nicht; auch Arneth führt es nicht an. Ein verbreiteter Irrthum ist es ferner, dass Maria Theresia mit dem Thronerben Josef vor den Ständen in Preßburg erschien. Der kleine Erzherzog und sein dreijähriges Schwesterchen Maria Anna wurden erst neun Tage später, am 20. September 1741, nach Preßburg gebracht. Die aus dem vorigen Jahrhundert stammenden Bilder, welche Maria Theresia mit

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ihren Kindern im Preßburger Reichstage erscheinen lassen, sind daher durchaus falsch.

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Unbekannt ist der Ursprung des vielcitierten Extra Hungariam non est vita; si est vita, non est ita». Die älteste Spur findet sich in dem von Stefan Losontzi in Nagy-Kőrös 1770 verfassten und elf Jahre später in Waitzen erschienenen Büchlein Hármas Kis Tükör». Professor Ludwig Thallóczy glaubt, es müsse noch eine ältere Spur geben, obgleich der Satz ganz den Stempel des selbstzufriedenen Theresianischen Zeitalters trägt.

Aus der Josefinischen Zeit her ist das berühmte «Risum teneatis, amici» aus der Ars poetica des Horaz in Ungarn zum geflügelten Worte geworden. «Wolltet ihr nicht auflachen, meine Freunde ?!» rief Kaiser Josef II. aus, als er die wider die Ueberführung der Sct. Stefanskrone nach Wien gerichtete Adresse der ungarischen Hofkanzlei erhielt. Anton Szirmay erwähnt übrigens in der «Historia arcana», Kaiser Josef habe den Horaz'schen Satz mit besonderer Vorliebe gebraucht.

Das Motto «Justitia regnorum fundamentum» (Das Recht ist die Grundlage der Länder) rührt von König. Franz I. her; auch der Ursprung des Ad audiendum verbum regium » -Citiert werdens ist auf dieses Herrschers Gewohnheit zurückzuführen, die Ungarn, deren Politik ihm nicht behagte, vor sich zu berufen und zu ermahnen.

Die Redensart: «Silberne Löffel stehlen» datiert von einer 1841-er Congregation des Weißenburger Comitats her, wo einem nachmaligen Minister der Vorwurf gemacht wurde, er habe «Löffel gestohlen». In einer Schmähschrift Josef P.-Thewrewk's «Beiträge zur Geschichte der ungarischen Revolution. I. Ludwig Kossuth, ungarischer Diebsvogel» (Preßburg, 1849) wird Ludwig Kossuth's Mutter des Diebstahls silberner Löffel bezichtigt. Tóth glaubt nicht mit Unrecht, das Unerhörte dieser gehässigen Verleumdung habe diesem geflügelten Worte die Bedeutung gegeben, welche ihm heute beigelegt wird.

Interessant ist die Curiosität, welche Tóth der Berichtigung des Széchenyi'schen Wortes: Magyarország nem volt, hanem lesz» (Richtiger citiert heißt es: Viele glauben, Ungarn sei — gewesen; ich möchte gern glauben: es wird sein!) beifügt. Im Ungarischen Simplicissimus (Nachahmung des Grimmelshausen'schen Romans) heißt es auf dem Titelblatte: Nem fod, nem isch lös: « Was nicht gewest ist, dass kann auch nicht seyn». Aus diesem merkwürdigen Motto erhellt in jedem Falle, dass das Nem volt, hanem lesz» schon vor Széchenyi ein geflügeltes Wort gewesen.

Die Bezeichnung Graf Stefan Széchenyi's als des «größten Ungars» rührt von Ludwig Kossuth her, der auch der Autor der Devise «Tengerre magyar!» (eigentlich schrieb er Tengerhez magyar! El a tengerhez!) ist. Ebenso stammen die in Parlamentsreden längst gang und gäbe geworde

nen Sätze: «Die Politik ist die Wissenschaft der Exigentien und «die Logik der Thatsachen» von Kossuth.

Nicht ohne Interesse ist die Aufklärung, dass Anton v. Schmerling die Autorschaft des «Wir können warten» abgelehnt und behauptet hätte, das Wort rühre von Franz Deák her und er, Schmerling, habe es erst später bei der parlamentarischen Verhandlung einer Novelle zum Pressgesetz gebraucht. Uns Ungarn ist hievon nichts bekannt. Dafür ist aber Franz Deák der unbestrittene Autor der classischen Sätze: «Wir können Alles für's Vaterland auf's Spiel setzen, nur das Vaterland nicht.» «Ich kann mein Vaterland mehr lieben, als meine Feinde hassen.» «Was man uns mit Gewalt nimmt, können wir zurückerwerben; auf immer verloren aber ist das, dem wir selbst entsagen.» Auch das «Breiten wir einen Schleier über die Vergangenheit», die Bezeichnung «ein providentieller Mann. (mit Anwendung auf Julius Andrássy) u. s. w, sind das geistige Eigenthum Deák's.

Der Weise des Vaterlandes», wie derzeit Franz Deák allgemein genannt wird, ist eine Bezeichnung, welche Lorenz Tóth in erweiterter Form (Der größte Weise unseres Vaterlandes) schon 1854 mit Bezug auf Deák niederschrieb. Moriz Jókai nannte in einem 1861 geschrieben Nekrolog den Grafen Ladislaus Teleki den «ersten Weisen des Vaterlandes».

Diese Proben werden genügen, um anzudeuten, mit welcher Gewissenhaftigkeit Tóth die Hungarica seines Werkes ausgearbeitet hat. Er ist dabei unseres Erachtens soger ein wenig zu weit gegangen, indem er (S. 124) ein Artikelchen aufgenommen hat, welches, bei allem Respekt vor der patriotischen Intention, nicht in das Buch passt. Das Artikelchen schildert die Scene, da einige Mitglieder des Athleten klubs am 20. März 1894 das Publikum, welches ins Nationaltheater wollte, im Foyer mit einem diskreten Hinweis auf die Landestrauer um Ludwig Kossuth empfingen: «Uraságod, ugy látszik idegen...?» (Sie sind wohl fremd hier, mein Herr?) So bemerkenswert dieser Appell, so gerechtfertigt er auch gewesen sein mag, in den historischen Abschnitt des ungarischen Büchmann passt er nicht hinein.

Mit gleicher Liebe, wie den historischen Theil, hat der Autor das ungarische Schriftthum und die fremden Literaturen behandelt. Bei Madách's «Tragödie des Menschen» wird ihm, der nach dem Ursprung des Satzes «hogy lényegében semmit sem fogok fel. (dass ich im Wesen nichts erfasse) der Fingerzeig nicht unwillkommen sein, dass es im «Faust» (erster Monolog) heißt: «Und sehe, dass wir nichts wissen können», gleichwie die Antwort Adam's «Ich auch nicht, siehst Du und glaubs, kein Anderer, wahrscheinlich von Faust's «Bilde mir nicht ein, was Rechts zu wissen, bilde mir nicht ein, ich könnte was lehren» inspiriert wurde... Mit seinem Reichthum an Citatenmaterial - - ganz abgesehen von

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