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atomistische Materialismus. Jener ist die aus der mittelalterlichen Scholastik überkommene, in der protestantischen Neuscholastik bis ins achtzehnte Jahrhundert fortgepflanzte Schulphilosophie der Kirchenlehre; sie trennt Körper und Geist als zwei nur zufällig und zeitweilig verbundene Substanzen, sie sucht Gott und Natur als zwei einander fremde Wirklichkeiten aus einander zu halten. Der atomistische Materialismus dagegen ist die Philosophie, in der die seit dem siebzehnten Jahrhundert aufgekommene mechanistische Naturerklärung nicht bloß ihre eigenen leßten Vorausseßungen, sondern die leßten Gedanken über die Welt überhaupt sieht.

Man kann die ganze Geschichte der neueren Philosophie als den fortgesetten Versuch, über diesen Gegensaß hinauszukommen, konstruieren. Der überkommene Supranaturalismus stellt Gott als ein extramundanes und anthropomorphes Einzelwesen der Welt gegenüber und läßt ihn, nachdem er sie erst in einem bestimmten Zeitpunkt aus nichts gemacht, dann noch gelegentlich auf sie einwirken. Dieser Anschauung wurde durch das Aufkommen der modernen Naturwissenschaft mehr und mehr der Boden unter den Füßen fortgezogen. Das Prinzip der Naturforschung ist die Naturgeseßmäßigkeit des Geschehens. Ein Gebiet nach dem andern wurde diesem Prinzip unterworfen und so sezte sich allmählich der Gedanke unwiderstehlich durch: alle Vorgänge in der Natur sind als Erfolg gefeßmäßig wirkender Kräfte zu betrachten. Diesem Gedanken giebt nun der Materialismus, in der Meinung, damit die leßte Konsequenz der wissenschaftlichen Erkenntnis der Dinge zu ziehen, die Form einer Metaphysik: die ganze Wirklichkeit ist nichts als ein System blind wirkender physischer Kräfte. Das alte supranaturalistische System wehrte sich hiergegen teils mit dem überkommenen Rüstzeug ontologisch-kosmologischer Spekulation, vor allem aber mit Verdächtigung und Verunglimpfung der materialistischen Philosophie und je nachdem auch der neuen Wissenschaften als gott loser, auch dem Staat und der Gesellschaft gefährlicher Neuerungen.

Die Philosophie nun sucht diesen Gegensaß innerlich zu überwinden; sie sucht überall, und man kann sagen, das ist das bewegende Moment in der ganzen Entwickelung der neueren Philosophie, die religiöse Weltanschauung und die wissenschaftliche Naturerklärung mit einander verträglich zu machen.

Nach der Ansicht vieler wird das heißen, die Quadratur des Zirkels suchen. Vielleicht hat die Aufgabe hiermit eine gewisse Ähnlichkeit; wie hier nur Annäherungswerte zu erreichen sind, so geht auch dort die Sache vielleicht niemals rein auf. Auf jeden Fall aber muß man es als geschichtliche Thatsache anerkennen, daß das philosophische Denken der leßten drei Jahrhunderte auf dieses Ziel gerichtet war.

Sein Ausgangspunkt und seine Vorausseßung ist die moderne - Naturwissenschaft und ihr Grundgedanke, die allgemeine Naturgeset= mäßigkeit des Geschehens. Was diesen Gedanken nicht anerkennt, liegt außerhalb dieser Entwickelungsreihe. Seine zweite Grundüberzeugung ist die: daß, was uns die Naturwissenschaften über die Wirklichkeit lehren, nicht alles ist, was von ihr zu sagen ist, daß die Wirklichkeit, noch ein Anderes und Mehreres ist, als eine nach den Geseßen der Mechanik bewegte Körperwelt. Auf sehr verschiedene Weise hat man dies Andere und Mehrere zu bestimmen oder auch seine Unbestimmbarkeit zu beweisen gesucht, aber anerkannt haben es im Grunde alle. Was es nicht anerkennt, liegt ebenfalls außerhalb der eigentlichen Entwickelungsreihe der neueren Philosophie.

Deutlich treten beide Züge in den beiden großen Richtungen hervor, in denen sich die Philosophie des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts bewegte. Die rationalistisch-metaphysische Entwickelungsreihe, deren Hauptverteter Descartes, Spinoza und Leibniz sind, geht von der Anerkennung der Wahrheit der neuen physischen Weltansicht aus, um sie dann durch eine metaphysische Ansicht zu ergänzen. Die in England einheimische empiristisch-positivistische Entwickelungsreihe, durch Locke, Berkeley, Hume repräsentiert, geht von derselben Vorausseßung aus, wird aber durch erkenntnistheoretische Reflexion auf die Ansicht geführt, daß die physikalische Ansicht nicht die absolute Wirklichkeit, sondern eine zufällige Ansicht, eine Projektion der Wirklichkeit auf unsere Sinnlichkeit sei. In Kant begegnen und durchdringen sich die beiden Ansichten auf höchst eigentümliche Weise; vor allem aber datiert von ihm die bedeutsame Wendung, die den Frieden zwischen der religiösen Weltansicht und der wissenschaftlichen Naturerklärung dadurch zu erreichen sucht, daß sie das religiöse Verhalten von der intellektuellen Funktion loslöst und auf die Willensseite gründet.

Eigentümlich gestaltet sich die Sache im neunzehnten Jahrhundert. Die Entwickelung des philosophischen Denkens zerfällt, wenigstens in Deutschland, in drei deutlich aus einander tretende Epochen. Das erste Drittel gehört der spekulativen Philosophie; sie ist der Versuch, die physische Weltansicht durch eine spekulativmetaphysische Deutung auf ein Geistig-Logisches nicht bloß zu ergänzen, sondern völlig zu überwältigen. Im zweiten Drittel, wo die Philosophie, nach dem Fehlschlagen der spekulativen Unternehmung, gleichmäßig von innerer Mutlosigkeit und äußerer Mißachtung gedrückt ist, erhebt sich die physikalische Ansicht und seßt sich in einer materialistischen Metaphysik als absolute Wahrheit. Bis auf diesen Tag ist diese Ansicht in breiten Kreisen der Gebildeten, neuerdings auch der zum Nachdenken über ihre Lage erwachten Massen herrschend. Daneben ist aber im legten Drittel des Jahrhunderts auch die Philosophie aus ihrer Lethargie zu neuem Leben erwacht, und hat sich an die alte Aufgabe gemacht: die physikalische Ansicht nicht zu verdrängen oder zu überwältigen, sondern durch eine weitere und tiefere Ansicht der Wirklichkeit, durch eine Metaphysik zu ergänzen und zu vollenden. Fechner und Loße mögen als Vertreter der älteren, Lange und Wundt einer jüngeren Generation genannt sein.

Versuche ich die philosophische Lage der Gegenwart, die in ihr hervortretenden Richtungslinien, noch etwas genauer zu bezeichnen, so finde ich die folgenden.

Die Philosophie der Gegenwart ist:

1) phänomenalistisch-positivistisch; ihr erkenntnistheoretisches Bekenntniß lautet: es giebt keine absolute Erkenntnis der Wirklichkeit; am wenigsten haben wir eine solche in der Physik; die Körperwelt ist Erscheinungswelt. Sie lehnt sich hiermit in Deutsch

land an Kant.

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2) Sie ist idealistisch - monistisch. Ihr metaphysisches Bekenntnis lautet: sofern eine Bestimmung des Wesens des Wirklichen an sich versucht werden kann, ist sie der Welt der inneren Erfahrung zu entnehmen; in der geistig-geschichtlichen Welt entfaltet die Wirklichkeit für uns am verständlichsten oder vielmehr allein verständlich ihren eigentlichen Gehalt. Der leßte Gedanke, auf den wir, den Spuren der Thatsachen nachgehend, geführt werden, ist der: das Wirkliche,

das in der Körperwelt unseren Sinnen sich als einheitliches Bewegungssystem darstellt, ist Erscheinung eines geistigen All-Lebens, das als Entwickelung eines einheitlichen, freilich unsere Begriffe unendlich weit übersteigenden Sinnes, einer Idee, zu denken ist. In diesem Stück hält sie an den allgemeinen Umrissen der Weltanschauung der spekulativen Philosophie oder vielmehr aller idealistischen Philosophie seit Plato fest.

3) Sie wendet sich von der intellektualistischen zu einer voluntaristischen Auffassung. Zunächst in der Psychologie; hierin ist zuerst der Einfluß Schopenhauers, zweitens das zunehmende Gewicht der neuen biologischen Betrachtung, zu erkennen. Sodann aber dringt diese Auffassung auch in der Metaphysik und Weltanschauung vor. Und hier kommt ihr jene Kantische Wendung entgegen, die dem Willen feinen legitimen Einfluß in der Weltanschauung wahren will. Auch die protestantische Theologie ist unter diesen Einflüssen in dem Übergang vom Intellektualismus zum Voluntarismus begriffen.

4) Sie wendet sich einer evolutionistisch-teleologischen Betrachtungsweise zu. Die Wirkungen der neuen Kosmologie und Biologie strahlen, wie auf die Psychologie und Naturphilosophie, so auch auf die Metaphysik aus; hier kommt ihnen der idealistische Monismus entgegen. Sodann haben sie begonnen die praktische Philosophie zu durchdringen: Ethik und Soziologie, Rechts- und Staatslehre sind im Begriff, die alte formalistische Behandlung abzuschütteln und an ihrer Stelle die teleologische Betrachtungsweise durchzuführen: der Zweck beherrscht das Leben, also wird auch die Wissenschaft vom Leben, sowohl des Einzelnen als der Gesamtheit, dieser Kategorie sich bedienen müssen.

5) In Zusammenhang steht dieses Moment endlich noch mit einem Zug, welcher der ganzen Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts im Gegensaß zu der voraufgegangenen Periode das Gepräge giebt: die Richtung auf die Geschichte. Die ältere Philosophie ruht auf mathematisch-naturwissenschaftlicher Betrachtung der Wirklichkeit; sie ist abstrakt-rationalistisch. Die spekulative Philosophie geht aus von der Konstruktion der geistig-geschichtlichen Welt; sie versucht dann auch die Natur gleichsam geschichtlich zu konstruieren, wenigstens in einem logisch-genetischen Schematismus. Die Naturwissenschaften sind

diesem Zuge gefolgt und haben in der kosmischen und biologischen Entwickelungstheorie die Natur wirklich geschichtlich behandelt. Es ist augenscheinlich, wie sie hierdurch der alten Bemühung der Philosophie, die physische und die geistig-geschichtliche Welt in eine einheitliche Gesamtanschauung zusammenzubiegen, in die Hände arbeiten.

Das ist die Richtung, in der mir die Philosophie gegenwärtig sich zu bewegen scheint; auf jeden Fall ist es die Richtung, in der die hier vorgetragenen Gedanken sich bewegen.

Aus der angedeuteten Stellung der Philosophie zwischen der religiösen Weltanschauung und der mechanischen Naturerklärung ergiebt sich ihre schwierige Lage in der Neuzeit: die Rolle des Vermittlers geht hier, wie überall, leicht in einen Kampf mit zwei Fronten über. Auf der einen Seite ist sie den Angriffen der supranaturalistischen Theologie ausgesezt; sie wird beschuldigt, die Autorität der kirchlich anerkannten und staatlich geschüßten Lehre zu untergraben. Am Anfang wurde noch regelmäßig die Staatsgewalt zur Unterdrückung philosophischer Irrlehren in Anspruch genommen, nicht selten mit Erfolg. Heutzutage ist, wenigstens auf protestantischem Gebiet, diese Praxis so gut wie aufgegeben; allerdings erst seit kurzem, und in manchen Kreisen fehlt es auch jezt noch nicht an der Neigung, der Philosophie die Polizei auf den Hals zu heßen. Wer hätte nicht noch in jüngster Zeit die Anklage gehört, die Sozialdemokratie sei nicht eine soziale oder politische Partei, sondern eine Weltanschauung, ihr Dogma der Atheismus, und ihre eigentlichen Anpflanzer die ungläubigen Profefforen; woraus man denn dem Staatsanwalt die Konsequenz zu ziehen überließ. Und der Katholizismus hält offiziell auch heute noch die mittelalterliche Auffassung fest, daß es die Pflicht der geistlichen und weltlichen Obrigkeit sei, die Philosophie zu überwachen und je nachdem zu unterdrücken; der Unterschied ist nur, daß der weltliche Arm sich gegen die Keßerei nicht mit der alten Willfährigkeit in Bewegung bringen läßt.

Auf der anderen Seite wird die Philosophie von den Vertretern einer rein physikalischen Weltansicht angefeindet. Die „Philosophieprofessoren", seit Schopenhauer die bestverleumdeten Menschen, werden als Priester zweiter Klasse verhöhnt, die angestellt seien, der Kirche im Kampf gegen die Wissenschaft zu sekundieren, als Leute, die dafür bezahlt würden,

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