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2. Der Materialismus und seine Begründung.*)

Mit dem Namen des Materialismus wird hier also diejenige ontologische Theorie bezeichnet, die auf die Frage nach der Natur des Wirklichen antwortet: das Seiende als solches ist Körper, seine Bestimmungen find Ausdehnung und Undurchdringlichkeit; seine erste und eigentliche Bethätigungsform ist Bewegung. Aus diesen Prinzipien können und müssen alle Vorgänge in der Wirklichkeit erklärt werden, im besonderen auch die sogenannten Bewußtseinsvorgänge.

Der lettere Punkt, die Zurückführung der psychischen Vorgänge auf physische, ist die eigentliche These des Materialismus. Sie wird von ihm etwa in folgender Weise begründet.

Es ist eine durch die Erfahrung gegebene Thatsache, daß psychische Vorgänge nur in engster Verbindung mit gewissen physischen Vorgängen überhaupt vorkommen. So viel wir wissen können, sind nur organische oder vielmehr nur tierische Körper Träger der Bewußtseinsvorgänge, im besonderen erscheinen diese an die Thätigkeit des Nervensystems geknüpft. Hieraus folgt, daß die Wissenschaft/in der Besonderheit dieser Körper die Ursache jener Vorgänge suchen muß: seelische Vorgänge sind als eine Funktion des Nervensystems aufzufaffen.

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Der gewöhnliche Menschenverstand zog aus derselben Thatsache eine andere Folgerung; er folgerte, wie im vorigen Kapitel ausgeführt ist: also ist in den Tieren ein besonderes Etwas, eine Kraft oder ein Wesen, das diese Vorgänge bewirkt. Das ist die Auskunft, so sagt. der materialistische Philosoph, auf die das vorwissenschaftliche Denken ́ überall fällt; wo ihm eine Gruppe von eigentümlichen Erscheinungen entgegentritt, da nimmt es zu ihrer Erklärung eine besondere Kraft oder ein Wesen an. So führt das primitive Denken die Erscheinungen des Gewitters auf einen Donnergott, der im Himmel seinen Siß hat,

*) Eine geschichtliche Darstellung der materialistischen Philosophie giebt das vortreffliche Werk von F. A. Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, 2 Bde., 3. Aufl. 1877. Der Leser findet hier die umsichtigste geschichtliche Aufklärung über Wesen und kulturhistorische Entwickelungsbedingungen des Materialismus. Seine Beziehungen zu den Naturwissenschaften, zu Theologie und Kirche, sowie zur Gesellschaft und ihren Bestrebungen werden allseitig dargelegt. Eine Biographie des trefflichen Mannes ist kürzlich von O. A. Ellissen (1891) veröffentlicht worden.

die Erscheinungen der Krankheit auf einen Krankheitsstoff zurück. Ihm folgend, erklärte eine lange herrschende Naturphilosophie das Steigen des Wassers in der Brunnenröhre aus einem horror vacui, die Vorgänge des organischen Lebens aus einer besonderen Lebenskraft. Und nach demselben Schema werden nun(auch die Bewußtseinsvorgänge als Äußerungen eines besonderen Prinzips, der Seele, erklärt. Natürlich ist damit auch hier nichts gewonnen; Seele ist nichts als eine vis occulta, eine ad hoc angenommene, im übrigen unbekannte Kraft oder Wesenheit, ebenso wie der horror yacui. Das Denken aus einer Seele erklären, ist ganz dasselbe, wie/mit den gelehrten Doktoren der Schule beim Molière die Thatsache, daß Opium einschläfert, daraus erklären, daß eine Schlaf machende Kraft darin sigt.

Die wissenschaftliche Forschung, so fährt der Materialismus fort, unterscheidet sich von der vorwissenschaftlichen Denkart dadurch, daß sie die Erscheinungen nicht aus Wesen und Kräften, sondern aus anderen vorangehenden und gleichzeitigen Erscheinungen erklärt. Erklären heißt in der Naturwissenschaft: das Geseß angeben, nach dem diese Erscheinung mit anderen Erscheinungen verknüpft ist, so daß ihr Eintreten aus dem Eintreten der andern vorhergesehen werden kann. So erklärt die wissenschaftliche Meteorologie das Gewitter, indem sie diese Erscheinung einer größeren Gruppe gleichartiger Erscheinungen einfügt, d. h. den Bliz als elektrischen Funken erkennt, und nun die Bedingungen seiner Entstehung, d. h. die Vorgänge, welche der elektrischen Spannung und Entladung in der Atmosphäre vorangehen und sie begleiten, aufsucht.

Dieselbe Aufgabe hat die Wissenschaft mit Bezug auf die Bewußtseinsvorgänge: sie hat die regelmäßig vorangehenden und begleitenden Erscheinungen zu suchen, um so den naturgeseßmäßigen Zusammenhang dieser Erscheinung zu bestimmen. Die begleitenden und vorangehenden Erscheinungen sind nun eben, wie die Erfahrung zeigt, physiologische Vorgänge im Gehirn und Nervensystem. Demnach ist die Aufgabe der Wissenschaft, an Stelle der Pseudowissenschaft „Psychologie“ mit ihren vorwissenschaftlichen Prinzipien „Seele“ und „Seelenkräften“, auch hier die naturwissenschaftliche Erklärung durchzuführen: wissenschaftliche Psychologie ist Physiologie.

Das wäre das formelle Prinzip. Was nun die Sache anlangt,

so kann man weiter gehen und sagen: die sogenannten Bewußtseinsvorgänge, die sich zunächst als so eigenartige und unvergleichliche ankündigen, find in Wirklichkeit keineswegs etwas so besonderes; vielmehr kann die Wissenschaft in ihnen nur gewisse eigentümlich modifizierte Bewegungsvorgänge erblicken; die psychischen Vorgänge find an sich, objektiv betrachtet, nichts anderes als physiologische Vorgänge.

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Das kann in folgender Weise streng bewiesen werden. Das oberste Prinzip der ganzen neueren Naturwissenschaft ist das Prinzip der Erhaltung der Energie: die Summe der wirklichen Bewegung und der Bewegungskraft ist konstant. Es findet statt Übertragung und Umformung von Bewegung, Massenbewegung wird in Molekularbewegung, lebendige Kraft in Spannkraft umgeseßt, aber sie ist darin ohne Verlust erhalten und läßt sich daraus wieder herstellen. Nun liegen folgende beiden Fälle vor: es tritt von außen Bewegung in das Nervensystem ein; Luftschwingungen, die von einer angeschlagenen Glocke ausgehen, treffen den Gehörsnerven und erregen hier einen physiologischen Prozeß, der nachweislich durch die Nervenfasern bis zum Centralorgan fortgepflanzt wird. Wir sind bisher nicht im Stande, ihn hier bis in seine leßten Wandlungen zu verfolgen, zweifellos verschwindet er nicht überhaupt. Gleichzeitig, so wissen wir auf anderem Wege, tritt eine Empfindung ein, es wird ein Ton_ge= hört.x Wir schließen: die Empfindung ist nichts anderes, als der im Centralorgan durch den peripherischen Reiz ausgelöste nervöse Vorgang.

Ebenso liegt der umgekehrte Prozeß vor. Ich strecke die Hand aus und ergreife einen Gegenstand; die Physiologie erklärt den Vorgang: eine Verkürzung der Muskelfasern ist die nächste Ursache der Drehung, der Glieder in den Gelenken; sie selbst tritt wieder als Wirkung eines durch die Fasern der motorischen Nerven zugeleiteten Impulses ein, den wir bis in das Centralorgan zurückverfolgen können. Hier entzieht er sich einstweilen genauer physiologischer Ableitung. Da= gegen tritt auch hier wieder jene Erscheinung auf, daß gleichzeitig, auf anderem Wege das Stattfinden eines psychischen Vorgangs, einer von Gefühlen und Vorstellungen begleiteten Willenserregung beobachtet wird. Wir schließen: der psychische Vorgang ist an sich ein physischer Vorgang, nämlich eben derselbe, der als Ursache der Innervation der motorischen Nervenfasern vorausgesezt werden muß. Denn darauf

Paulsen, Einleitung. 2. Aufl.

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muß die naturwissenschaftliche Betrachtung durchaus bestehen, daß eine physische Wirkung eine physische Ursache haben muß. Wollte man zulassen, daß eine bloße Absicht als solche, als bloßer Bewußtseinsvorgang, eine Bewegung verursachen kann, so wäre damit das Grundprinzip der Naturwissenschaft aufgegeben und dann wäre ein Ende nicht abzusehen. Kann ein bloßer Gedanke ein Gehirnmolekül bewegen, dann kann er ebenso gut Berge verseßen oder den Mond aus seiner Bahn lenken; das eine ist genau so verständlich oder unverständlich wie das andere.

Diese Beweisführung, die also auf der Vorausseßung beruht, daß die sogenannten Bewußtseinsvorgänge als Glieder dem physischen Kreislauf des organischen Lebens eingefügt sind, kann/durch biologische und kosmologische Betrachtungen verstärkt und überredender gemacht werden.

Man weist auf die Thatsachen der vergleichenden Anatomie hin; fie zeigen einen durchgängigen Parallelismus zwischen der Entwickelung des Nervensystems und des Seelenlebens: Gehirn und Intelligenz wachsen durch die ganze aufsteigende Reihe des tierischen Lebens gleichmäßig mit einander. Der Mensch steht, wie durch Intelligenz, so durch Größe und durch innere Entwickelung des Gehirns, besonders des Großhirns, an der Spiße des Tierreichs. Ist sein Gehirngewicht auch nicht das absolut größte, das Gehirn z. B. des Elefanten übertrifft das seine etwa um das Dreifache, so ist doch das Verhältnis zur Gesamtmasse des Körpers viel günstiger, sein Gewicht beträgt ungefähr den vierzigsten Teil des Gesamtgewichts, während es beim Elefanten kaum ein fünfhundertstel erreicht. Allerdings giebt es, namentlich unter den Vögeln, Fälle, in denen auch das relative Gehirngewicht des Menschen übertroffen wird, doch sind das offenbar Ausnahmefälle, die durch die abnorme Leichtigkeit des Vogelkörpers erklärlich sind. Und ohne Zweifel ist das menschliche Gehirn dadurch allen Tierhirnen überlegen, daß das Großhirn, das eigentliche Organ der Intelligenz, an Größe und an innerer Entwickelung ihnen weit voransteht.

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Derselbe Parallelismus wiederholt sich innerhalb der Menschenwelt: Gehirn und Kulturentwickelung der Rassen stehen in gleichem Verhältnis. Und auch innerhalb der Rasse, so lassen die Ergebnisse zahlreicher Messungen der Schädelkapazität bedeutender Männer schließen,

entspricht hoher geistiger Begabung eine den Durchschnitt übertreffende Gehirnentwickelung; wie denn andererseits Blödsinn und Mikrocephalie oder Gehirnverkümmerung zusammen auftreten. Also, so scheinen alle diese Thatsachen zu sagen, die Seele ist das Gehirn.*)

Nicht minder zeigen physiologische und pathologische Versuche und Beobachtungen diesen engsten Zusammenhang von Gehirn und Seele. Jede Störung oder Verlegung des Gehirns hat Störungen des seelischen Lebens zur Folge. Man trägt Tieren das Gehirn schichtweise ab oder zerstört gewisse Teile; die Folge ist das gleichzeitige Ausfallen gewiffer psychischer Funktionen. Zufällige Verwundungen beim Menschen haben eben solche Wirkungen. In allen psychiatrischen Werken findet man zahlreiche Beobachtungen über psychische Störungen, die infolge von äußeren Verlegungen des Gehirns eintraten. Ein Knochensplitter dringt ins Gehirn, als psychische Wirkung tritt nicht nur eine Störung der intellektuellen Thätigkeit, sondern auch eine vollständige Veränderung des Charakters ein,/ der Kranke ist mißtrauisch, verschlossen, eigensinnig. Mit der Entfernung des Knochensplitters verschwindet auch die psychische Veränderung. Ebenso findet im Greisenalter regelmäßig Herabseßung der geistigen Thätigkeit, oft bis zu vollem Verlust des Urteils statt (dementia senilis); / die anatomische Untersuchung ergiebt, daß Schrumpfung und Entartung des Gehirns Ursache ist. Jede Geisteskrankheit, das ist die Überzeugung der heutigen naturwissenschaftlich geschulten Psychiatrie, ist Gehirnkrankheit, ob diese nun durch die anatomische Untersuchung nachgewiesen werden kann oder nicht. Also das Gehirn ist die Seele.

Hierauf führt auch die kosmologische Betrachtung. Es gab eine Zeit, so lehrt die neuere Kosmologie, wo es kein organisches Leben auf der Erde, also auch kein Seelenleben, keine sogenannten Bewußtseinsvorgänge gab. Ja, es gab eine Zeit, wo es auch keine Erde gab. Was wir jeßt unser Planetensystem nennen, das hatte in ferner Urzeit die Gestalt einer ungeheueren Gas- oder Nebelmasse. Indem diese Masse um ihre Achse rotierte, bildete sich eine Anschwellung am Äquator; bei fortschreitender Schrumpfung löste sich diese vom

*) Eine knappe Zusammenstellung der wichtigsten Daten aus der physischen Anthropologie giebt D. Peschels treffliche Völkerkunde im zweiten Kapitel.

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