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rationem simplicem, die begnügt sich damit, einige Fälle aufzuzählen und dann ein allgemeines Gesez daraus zu machen. Was Bacon geleistet zu haben meint, das ist die Erfindung einer Methode, auf Grund von Einzelbeobachtungen wirklich allgemeingültige Urteile zu bilden, d. h. Wissenschaft hervorzubringen. Ob er hierin glücklich war, ist eine andere Frage, aber die Aufgabe hat er richtig gesehen. In der That, nur die oberflächlichste Betrachtung kann dabei stehen bleiben, daß wissenschaftliche Erkenntnis aus der Wahrnehmung stamme. Nicht die Sinne haben Copernicus zum Begründer der modernen Astronomie, oder Galilei zum Begründer der modernen Naturwissenschaft gemacht, sondern der Verstand; ja man könnte, mit Erinnerung an Plato, sagen: nur durch Aufhebung des Sinnenscheins sind sie zur Wahrheit durchgedrungen. Den Sinnen oder dem in der Wahrnehmung verharrenden Menschen ist die geozentrische Anschauung, ist die aristotelische Unterscheidung leichter und schwerer Körper, von denen jene eine Tendenz haben nach oben, diese nach unten sich zu bewegen, und zwar nach dem Maß ihrer Leichtigkeit oder Schwere, viel einleuchtender, als die Lehre der heutigen Wissenschaft. So auch der Saß der aristotelischen Mechanik: die durch äußere Gewalt bewirkten Bewegungen hören von selber auf, wenn die durch den Stoß mitgeteilte Geschwindigkeit aufgezehrt ist. So zeigt es die tägliche Erfahrung." Es ist das über die Wahrnehmung hinausgehende Denken, das zu neuen Ansichten führt, freilich indem es die Wahrnehmung als Beobachtung in seinen Dienst nimmt. Das Denken löst die mannigfachen Bewegungen des Steigens und Fallens, des Wurfs und Stoßes, die die alte Physik, der Wahrnehmung folgend, einfach als absolute Thatsachen hinnahm, in ihre Komponenten auf; so erklärt sie die wirkliche Bewegung eines gestoßenen Körpers aus dem Zusammenwirken der Beharrungstendenz und des Widerstandes, welchen er fortwährend zu überwinden hat, die wirkliche Fallbewegung, ob fie nun als Aufwärts- oder als Abwärtsbewegung in die Erscheinung tritt, aus der allgemeinen Gravitations- und Beharrungstendenz im Zusammenwirken mit der statischen Tendenz des Mediums. So löste Newton die himmlischen Bewegungen auf, indem er sie auf das Zusammenwirken einer ursprünglichen Tangentialbewegung mit der Gravitationstendenz zurückführte. Die alte Kosmologie hatte auch

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hier einfach die Wahrnehmungen, wie sie sich bieten, formuliert: die Bewegung der himmlischen Körper ist die einfache, gleichförmige, ewige Kreisbewegung.*)

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Also Wissenschaft stellt sich überall dar als das Werk des von der sinnlichen Wahrnehmung sich emanzipierenden Nachdenkens; die Wahrnehmung ist in der Beobachtung oder dem Experiment zu einem zwar unentbehrlichen, aber durchaus sekundären Moment herabgedrückt. Je weiter die Wissenschaft sich entwickelt, desto unerheblicher ist die Rolle der Wahrnehmung. Sehr sichtbar ist dieser Prozeß der Zurückdrängung der Wahrnehmung gegenwärtig in den biologischen Wissenschaften. Physiologie und Entwickelungstheorie haben begonnen, die alten beschreibenden" Wissenschaften, die Wahrnehmungen sammelten, in Gedankensysteme umzuwandeln. So kann man auch von Darwin's Theorie sagen, daß sie in demselben Sinne „widersinnisch“ ist, in dem Kant einmal die Copernicanische Theorie so nennt; sie widerspricht der Wahrheit der Wahrnehmung, daß der Arttypus konstant sei. Sogar die Geschichte zeigt sich von dieser Tendenz ergriffen, aus einer Sammlung von Wahrnehmungen (Erinnerungen und Zeugnissen) sich in ein System einsehbarer Wahrheiten umzuwandeln; die Lehre von den Gesezen des wirtschaftlichen Lebens hat den Anfang gemacht und offenbar ist ihr Einfluß auf die Gestaltung der geschichtlichen Wissenschaften im schnellen Steigen. Augenscheinlich sind die Geseße der Nationalökonomie nicht aus einer Ansammlung von Wahrnehmungen hervorgegangen, sondern das deduktive Denken hat sie gefunden. Ja man kann weiter gehen und sagen, auch die Geschichtsforschung ge= winnt ihre Einsichten nicht durch Sammlung von Zeugnissen; wer nicht a priori weiß, was sich zugetragen hat, den können es die Zeugnisse nicht lehren; wer nicht zu suchen weiß, findet nichts, wer nicht zu fragen weiß, dem geben die Quellen keine Antwort, sondern überschütten ihn mit einem Wirrsal von Gerüchten und Meinungen.

*) Loße, Logik, S. 585: Die Säße der Mechanik find gefunden worden, ,,nicht auf Zeugnis wiederholter Wahrnehmungen, sondern durch eine Gedankenarbeit, die in einem vorgestellten reinen Fall mit unmittelbarer Klarheit das Selbstverständliche sah“. Ihre Evidenz, heißt es später (596) ist nicht eine logische, sondern eine ästhetische, sie hat nicht an der Tenkunmöglichkeit, sondern an der evidenten Absurdität ihres kontradiktorischen Gegenteils ihren Prüfstein.

Fragen aber kann nur, wer weiß, worum sich's handelt. Ganz recht sagt der alte Heraklit: Vielkunde zeugt nicht Verstand.

Endlich erinnere ich zum Schluß nochmals an den Gedanken, der den Angelpunkt der Kantischen Philosophie bildet: Erkenntnis ist eine Funktion des Subjekts, aber nicht die einzige und nicht die wichtigste. Sie ist uns gegeben zur praktischen Orientierung in der Welt, und dazu reicht sie hin, nicht aber ist sie gegeben und nicht reicht sie hin zu einer absoluten Durchdringung der Wirklichkeit, zur Auflösung gleichsam der Welt in Gedanken. Hierin ist Kant mit Hume einig: eine absolute Erkenntnis der Wirklichkeit ist unmöglich. Das war der Irrtum des alten Rationalismus oder Dogmatismus; er meinte zugleich, in diese Erkenntnis die Würde des Menschen und den Endzweck des Lebens sezen zu sollen. Diesem Wissenschaftshochmut, in dem Schulphilosophie und scholastische Theologie übereinkommen, tritt Kant mit der niederschlagendsten Kritik entgegen: es giebt keine Wissenschaft des Absoluten oder des Übersinnlichen. Es giebt ein Absolutes und Übersinnliches, aber es liegt jenseits möglicher Erkenntnis; kritische Besinnung zeigt uns, daß unsere Erkenntnis auf das Gebiet des Sinnlichen oder möglicher Erfahrung eingeschränkt ist, andererseits freilich auch dies, daß unsere Erfahrungswelt nicht die Welt der Dinge an sich selber ist. So weit führt uns die theoretische Vernunft.

Einen Schritt weiter führt die praktische Vernunft, führt uns eine Philosophie, die nicht bei der theoretischen Spekulation über die Natur stehen bleibt, sondern den Menschen von seiten seiner Bestimmung ins Auge faßt. Und das ist erst Philosophie im höchsten Sinn, Philosophie in ihrem Weltbegriff, im Gegensaß zur Philosophie im Sinne des Schulbegriffs. Sie zeigt uns, daß die Bestimmung und die Würde des Menschen nicht zuletzt im Wissen, sondern in der Willensseite liegt. Hier liegen auch die tiefsten Wurzeln unseres Wesens, im Gewissen, im Bewußtsein des Sittengeseßes werden wir ihrer inne. Indem wir unmittelbar gewiß sind, mit dieser tiefsten Seite unseres Wesens in der Wirklichkeit selbst gegründet zu sein, nicht der Natur, wie sie den Sinnen und dem Verstand erscheint, sondern der absoluten Wirklichkeit selbst anzugehören, entspringt der Glaube an eine absolute Zweckordnung der Dinge, eine sittliche Weltordnung, von

der die Naturordnung nur ein äußerlicher Widerschein ist. In der Religion seßt der Geist, was ihm selber das Höchste und Beste ist, als Ausfluß des tiefsten Grundes der Wirklichkeit, faßt er die Wirklichkeit als Erscheinung eines Reiches der Zwecke, als Schöpfung und Wirkungsbereich Gottes. Eine Verirrung ist es, wenn man nun hinterher meint, den Glauben beweisen und dem Verstande aufzwingen zu können. Diese Verirrung ruft dann als Reaktion den negativen Dogmatismus des materialistischen Atheismus hervor. Die kritische Philosophie zeigt die gleiche Unmöglichkeit des positiven und negativen Dogmatismus. Eben damit begründet sie die Möglichkeit des Glaubens, eines Glaubens, der allein und ohne allen Beweis im Willen ruht: ich könnte nicht leben, nicht frei atmen und wirken in einer Welt, die nichts als eine ungeheure sinn- und seelenlose Maschine wäre, darum kann ich nicht glauben, daß es so mit ihr sich verhält, darum glaube ich, daß sie die Offenbarung eines Allweisen und Allguten ist, auch wenn meine Augen ihn nicht sehen und mein Verstand ihn nicht fassen kann.

Anhang.

Die Probleme der Ethik.*)

Es ist eine Thatsache, daß der Mensch zum Handeln durch Motive bestimmt wird, die die Gestalt eines Zwecks, d. h. der Vorstellung eines durch das Handeln zu erreichenden Gutes haben. So entsteht die Frage: was ist der leßte Zweck oder das höchste Gut, um dessen willen alles übrige erstrebt wird? Auf diese Frage giebt der Hedonismus zur Antwort: die Lust; sie ist das, um dessen willen alles Andere gewollt wird. Ihm tritt eine andere Ansicht entgegen, die das höchste Gut nicht in subjektive Gefühlserregungen, sondern in einen objektiven Lebensinhalt, oder, da Leben Bethätigung ist, in eine bestimmte Art der Lebensbethätigung sett; es sei gestattet, diese Ansicht Energismus zu nennen.

Es ist eine zweite Thatsache, daß die Menschen über das Verhalten und Handeln, fremdes und eigenes, urteilen; es geschieht durch die Prädikate gut und böse. Verhalten und Gesinnung eines Menschen erregen bei dem Zuschauer Gefühle des Wohlgefallens oder des Mißfallens; werden diese Gefühle habituell, so entstehen die Affekte der Verehrung oder Verachtung. Beziehen sich die Gefühle auf das eigene Selbst, und sein vergangenes Sein und Verhalten, so nennen wir sie Reue oder Gewissensunruhe, oder umgekehrt Selbstachtung und Gewissensfrieden. Beziehen sie sich auf mögliches, zukünftiges Handeln, so nennen wir sie Pflichtgefühl, Gefühl des Sollens oder Nichtsollens. Die ganze Seite unseres Wesens, wodurch wir uns urteilend zu uns selbst als wollenden oder handelnden Wesen verhalten, heißt Gewissen.

Es entsteht die Frage: woher entnimmt dieses Urteil, das zunächst als völlig unabhängig von dem Urteil über das mir Nüßliche

*) Die folgenden Andeutungen haben mehr die Absicht, den Ort der ethischen Untersuchungen anzudeuten als ihn auszufüllen. Der Leser, der sich dafür interessiert, wie ich diese Dinge ansehe, findet eine ausführliche Darstellung in meinem System der Ethik. (2. Aufl. 1891.)

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