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Bewegung z. B., die völlig isoliert, beziehungslos zu allen vorangehenden und nachfolgenden stattfindet. Thatsächlich würde der Physiker, wenn ihm ein solches Vorkommnis wirklich begegnete, nicht aufhören, nach seiner Ursache und seiner Wirkung zu suchen, er würde es also gar nicht als solches erkennen oder anerkennen; aber denkbar bleibt, daß es wirklich keine Ursache und keine Wirkung hat, und denkbar bleibt auch, daß wir durch die wiederholte Erfahrung völlig ergebnisloser Nachforschung nach Ursache und Wirkung gewisser Erscheinungen dennoch allmählich bestimmt würden, die Kategorie der Kausalität nicht mehr auf sie anzuwenden. Und ebenso steht es mit den axiomatischen

Säßen aus der Natur des Raumes: wir seßen voraus, daß der physische Raum dem geometrischen völlig entspricht, wie dieser, kontinuierlich und homogen ist. Aber denkbar bleibt, daß er es nicht ist; denkbar bleibt z. B. ein physischer Raum mit inneren Ungleichartigkeiten. Wir seßen voraus, daß eine Bewegung, sofern sie keinen physischen Widerstand findet, mit gleicher Geschwindigkeit fortdauert. Und wo das nicht stattfindet, wo ein Körper an Geschwindigkeit verliert, da sezen wir voraus, daß er durch irgend welche physischen Kräfte beeinflußt wird. Es bleibt aber denkbar, daß die Vorausseßung nicht zutrifft, daß verschiedene Räume als solche verschiedene Permeabilität haben, daß im Raum als solchem sich gleichsam metaphysische Uneben= heiten finden. Wir würden auch hier, wenn jemand durch solche Annahme etwa die Verlangsamung einer kosmischen Bewegung zu erklären vorschlüge, nicht darauf eingehen, sondern darauf bestehen, es seien uns unbekannte Widerstände im Spiel; und schwerlich könnten wir dabei des Irrtums überführt werden. Dennoch ist denkbar, daß es ein Irrtum wäre. Und mehr ist nicht erforderlich, Kants Beweisführung zu stürzen.

Wollte man nun aber dem gegenüber sagen: Kant habe eben dargethan, daß der physische Raum von dem geometrischen nicht verschieden sei, daß es die rein subjektive Raumanschauung sei, in der die ganze Natur ausgespannt sei, so wäre hierauf folgendes zu erwidern.

Allerdings, Kant seßt voraus, daß Raum, Zeit und Kategorien rein subjektive Faktoren der Erkenntnis sind und als solche Allgemeinheit und Notwendigkeit für alles, was Gegenstand des Subjekts werden mag, haben. Aber, mit welchem Recht? Er selbst konstruiert wieder

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alle Erkenntnis aus zwei Faktoren, der Natur des Subjekts und den Affektionen, die es durch die Dinge erleidet. Wie will er beide reinlich trennen? Das Produkt allein, die Vorstellungswelt, ist gegeben, wie will er aus dem Produkt allein die Faktoren bestimmen? Kant selbst stellt die Behauptung auf: besondere Naturgefeße" könnten keineswegs allein aus dem reinen Verstande hergeleitet werden, hierzu set Erfahrung" nötig. Nun, wenn zum Gravitationsgeseß „Erfahrung" hinzukommen muß, warum nicht auch zum Kausalgeseß? Wenn zu jeder bestimmten Lokalisation, z. B. der geographischen oder astronomischen, „Erfahrung“ notwendig ist, warum nicht zur Bildung der Raumvorstellung selbst? Wenn aber für die Hervorbringung der Raumvorstellung die Natur der Wirklichkeit an sich mitbestimmend ist, dann würde ja dasselbe Subjekt, in eine andere Welt verseßt, eine andere, mit unserem Raum vielleicht gar nicht vergleichbare Anschauungsform hervorbringen. Und so mit den Denkformen; dasselbe Subjekt, in eine andere Umgebung verseßt, würde vielleicht einen ganz anderen Begriff von Naturgeseßmäßigkeit, oder auch gar keinen, hervorbringen. Und damit wäre denn auch hier die Folge gegeben, daß es keine schlechthin allgemeinen und notwendigen Urteile über Thatsachen geben könne; die Grundsäße würden dann Gültigkeit haben, soweit der Verstand eine der unsrigen gleichartige Wirklichkeit vorfände; darüber hinaus nicht. Wie eine Welt denkbar ist, die unserer Jntelligenz nicht zur Hervorbringung des Gravitationsgeseßes Veranlassung gäbe, so auch eine Welt, in der sie das Kausalgeset nicht entwickelt hätte.

So könnte Hume sein Theorem, daß es über Thatsachen keine allgemeinen und notwendigen Säße gebe, gegen Kant verteidigen. Und er könnte hinzufügen: wenn jemand derartige Erwägungen von Denkbarkeiten und Möglichkeiten überflüssig finde, für die Welt, in der wir nun einmal lebten, seien unsere Raumanschauung und unsere Denkgeseze angemessene Auffassungsformen, so habe er, Hume, nichts dagegen; müsse dann aber darauf hinweisen, daß ihm Kants „Rettung der Wissenschaften" gegen den Skeptizismus mindestens ebenso überflüssig erscheine. Für alle unsere theoretischen und praktischen Zwecke set die Auffassung des Kausalgeseßes als der sichersten Generalisation unserer ganzen Erfahrung genau so ausreichend, als Kants apriorisches Denkgeset. Er sei so wenig geneigt, Ausnahmen vom Kausalgeset

anzunehmen als Kant; vorgeblichen Wundern würde er das Kansalgesetz ebenso wie dieser als „ariomatischen" Sat entgegenhalten.

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Sodann aber hätte Hume vermutlich noch auf ein anderes aufmerksam gemacht, was den Gewinn der Kantischen Rettung völlig illusorisch macht. Kant gesteht selbst zu, daß die Erkenntnis jedes besonderen Verhältnisses von Ursache und Wirkung nur durch Erfahrung möglich ist. Hierin ist er mit Hume völlig einer Ansicht, er teilt gar nicht die Anschauung des älteren Rationalismus, der es für möglich hielt, aus dem Begriff der Ursache durch bloßes Denken in einem analytischen" Urteil die bestimmte Wirkung abzuleiten. Also jedes einzelne Kausalverhältnis, jedes Naturgeseß unserer Mechanik und Physik ist auch nach Kant ein empirisches Gesez und hat als solches keine mathematische Allgemeinheit und Notwendigkeit. Bloß das Kausalgeset selbst, die Formel: alles, was geschieht, sezt etwas voraus, worauf es nach einer Regel folgt, soll rein a priori und also allgemein und notwendig sein. Nun, damit wäre denn in der That verzweifelt wenig gewonnen; alles, was wir nun wüßten, wäre: jedes Ereignis folgt regelmäßig auf irgend ein anderes; auf welches? das müßten wir erst durch Erfahrung lernen. Und hier bliebe denn immer die Möglichkeit einer besseren Belehrung durch nachfolgende Erfahrung offen. Wir würden zwar wissen: wenn dies aus der Erfahrung abgeleitete Verhältnis der Folge ein Kausalverhältnis ist, dann ist es unauflöslich und allgemeingültig, aber niemals könnten wir absolut sicher sein, daß wir ein wirkliches Kausalverhältnis vor uns haben, nicht eine bloß zufällige und auflösbare Folge. So liegt es z. B. dem gesunden Menschenverstand nahe, auf Grund der Erfahrung ein allgemeines Naturgefeß zu bilden: die Fallgeschwindigkeit der Körper ist abhängig von ihrem spezifischen Gewicht. Die Physiť korrigiert diese Formel: sie gilt nur unter einer Bedingung, nämlich der, daß das Fallen durch ein Widerstand leistendes Medium geschieht; wird dieser Umstand beseitigt, z. B. durch Herstellung eines luftleeren Raumes, so fallen alle Körper mit gleicher Geschwindigkeit. Nun, ebenso bleibt es denkbar, daß auch das Gravitationsgefeß aufgelöst wird: nur unter einer Bedingung, z. B. etwa des Vorhandenseins eines Äthers oder einer elektrischen Spannung, gravitieren die Teile der ponderablen Materie gegen einander; gelänge es diesen Einfluß zu

eliminieren, so würden die Erscheinungen der Gravitation aufhören. Selbst das Gesetz der Erhaltung der Bewegung oder der Materie macht hiervon keine Ausnahme: es bleibt z. B. denkbar, daß beständig Materie und Bewegung verloren geht, aber durch eine uns unbekannte Ursache, etwa ein transcendentes Wesen, beständig in gleichem Maße ersezt wird; wenn die Thätigkeit dieses Wesens aufhörte, würde der Schwund sichtbar werden. Das ist eine völlig willkürliche, aber es ist eine denkbare Vorstellung.

Also, könnte Hume sagen, möge Kant die strenge Allgemeingültigkeit des Kausalgeseßes auch gerettet haben, die Physik hätte keinen Gewinn davon; alle ihre Geseze blieben empirische Geseze von nur präsumtiver Allgemeingültigkeit. Der mit so großem Apparat angestellte Versuch einer Rettung der Wissenschaften gegen den Skeptizismus" scheine ihm demnach in seinem Ergebnis recht bescheiden, um nicht zu sagen dürftig auszufallen.

Endlich aber hätte Hume in seiner Kritik noch einen Punkt ins Auge fassen können: die ganze Kantische Argumentation bricht in der Mitte entzwei. Kant mußte eigentlich sagen und so sagt er auch anfangs gegeben sind nur vereinzelte Empfindungen mit qualitativer Bestimmtheit, dagegen ist alle Verbindung, alle Anordnung auf die synthetischen Funktionen des Subjekts zurückzuführen; durch die Anschauungsformen und Kategorien, die ja nur als Funktionen der Verknüpfung und Anordnung vorhanden sind, wird jedem Element sein Ort im Zusammenhang des Naturganzen bestimmt. Vor dieser Konsequenz seiner Voraussetzung ist Kant dann aber zurückgewichen. In der transcendentalen Deduktion läßt er zu, daß die zeitliche Aufeinanderfolge der Ereignisse aus „Erfahrung“ stammt, daß zur Erkenntnis besonderer Naturgeseße Erfahrung“ hinzukommen müsse. Auf mehrere Geseße aber, als die, auf denen eine Natur überhaupt, als Gesezmäßigkeit der Erscheinungen in Raum und Zeit, beruht, reicht das reine Verstandesvermögen nicht zu, durch bloße Kategorien den Erscheinungen a priori Geseße vorzuschreiben. Besondere Geseze, weil sie empirisch bestimmte (1) Erscheinungen betreffen, können davon nicht vollständig abgeleitet werden. Es muß Erfahrung dazu kommen -." So schließt die transcendentale Deduktion, sich selber mitten entzweibrechend. Kann und muß

überhaupt zu zeitlicher Anordnung „Erfahrung“ mitwirken, wo ist die Grenze? Bedarf der Verstand zur Bildung der biologischen Generalisationen, der chemischen Formeln, der physikalischen Gesetze, der Erfahrung", warum sollte nicht für die Geseze der Kausalität und Substanzialität dasselbe gelten? Weil sie allgemein und notwendig find? Aber das steht ja eben in Frage.

Wie heillos der Bruch, wie unmöglich es ist, aus den reinen Verstandesbegriffen oder den synthetischen Funktionen des Verstandes und jenen,,empirischen Bestimmungen" der Erscheinungen die einheitliche Erfahrung, wie sie in den Wissenschaften vorliegt, zu konstruieren, das zeigt sich an jedem Punkt. Man lese die transcendentale Deduktion in ihren unendlichen schleppenden Wiederholungen, wo immer das Ende und der Anfang wider einander sind, dieser mit der Voraussegung: Synthesis kommt aus dem Verstand, und jenes mit der nachhinkenden Einschränkung: aber besondere Verknüpfung stammt aus der „Erfahrung“, in welchen doppelsinnigen Begriff das ganze Elend verhüllt ist. Man achte auf jene Versuche, reine Apperzeption und empirische Assoziation auseinander zu halten und wieder zu vereinigen; oder man achte auf die verzweifelten Versuche im Kapitel vom Schematismus der reinen Verstandesbegriffe, die Synthesis des Denkens in die finnliche Synthesis der Empfindungen in der Zeit hineinzubringen; oder auf die nicht minder verzweifelten Versuche der Prolegomena (§ 20), aus „Wahrnehmungsurteilen“ „Erfahrung“ zu machen. Ich glaube nicht, daß ein Mensch sich rühmen kann, diese Gedanken wirklich zu verstehen, d. h. denken zu können. Verstehen kann man sie nur psychologisch, indem man die verschiedenen Antriebe, die das Kantische Denken nach verschiedenen Seiten auseinander ziehen, aufzeigt.

Dem gegenüber werden wir nun also sagen: es ist eine ganz gerechtfertigte Behauptung Kants, daß Erfahrung nicht ein passiv Aufgenommenes, sondern ein Erzeugnis der Sinnlichkeit und des Verstandes ist. Man kann auch sagen: die Intelligenz produziert die Natur selbst, als Inbegriff gesetzmäßig verknüpfter Erscheinungen. Aber, so muß man hinzufügen, sie produziert sie ganz und gar auf dem einen und selben Wege, durch Beobachtung und Nachdenken. In Jahrtausende langer Arbeit hat der menschliche Geist durch Wahrnehmung und Nachdenken, durch Forschungsreisen und philologisch

Paulsen, Einleitung. 2. Aufl.

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