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Zweites Kapitel.

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Das Problem des Ursprungs der Erkenntnis.

Die Frage nach dem Ursprung der Erkenntnis giebt zur Entstehung des Gegensaßes von Rationalismus und Empirismus oder Sensualismus Veranlassung. Der Empirismus leitet alle Erkenntnis aus der Wahrnehmung ab; der Rationalismus dagegen behauptet: wissenschaftliche Erkenntnis kann überhaupt nicht aus den Sinnen kommen, ihr ist Allgemeinheit und Notwendigkeit wesentlich, also ist sie ein Erzeugnis des Verstandes.

Ich versuche die Bedeutung der beiden Theorien und meine Stellung zu ihnen in Form einer geschichtlichen Darlegung klar zu machen.*)

1. Der Rationalismus.

Der Standpunkt der gemeinen Meinung in dieser Frage, soweit denn überall davon die Rede sein kann, wird dem Sensualismus am nächsten kommen: unsere Kenntnis der Dinge stammt aus der sinnlichen Wahrnehmung.

Sobald sich die Philosophie von der gemeinen Weltvorstellung loslöst und ihr entgegenstellt, entsteht die rationalistische Theorie. Die Philosophie nimmt für sich einen anderen Ursprung in Anspruch, als sie der gemeinen Meinung zugesteht; diese möge in der That ihre Kunde der Dinge aus den Sinnen gewinnen, wissenschaftliche Erkenntnis dagegen oder Philosophie stamme keineswegs aus der Wahrnehmung, sondern aus dem Denken oder der Vernunft.

*) A. Riehl, Der philosophische Kritizismus und seine Bedeutung für die positive Wissenschaft, giebt eine eingehende geschichtliche Darstellung und Diskussion dieser Probleme. Eine kurze Übersicht über die Entwickelung in der Neuzeit findet der Leser auch in meinem Versuch einer Entwickelungsgeschichte der Kantischen Erkenntnistheorie (1875).

Hierin kommen die ersten großen Systembildungen der griechischen Philosophie alle überein. So verschieden ihre Ansicht über das Wesen der Dinge ist, in der Ansicht sind sie einig, daß die Wahrheit nicht aus den Sinnen komme. So schilt Heraklit die Sinne: schlechte Zeugen find den Menschen Augen und Ohren solcher, die nicht sprachkundige Seelen haben; meinend, daß nur der durch die Sinne belehrt wird, der mit kritischem Verstand ihre Aussagen zu interpretieren weiß. Noch schärfer spricht die Philosophie der El eaten den Sinnen und der Meinung die Wahrheit ab; diese ist allein im Verstande, jene erzeugen nur einen trügerischen Schein, sie zeigen das Eine und Seiende als Vieles, Bewegtes, Werdendes und Vergehendes. Zeno unternimmt, durch Denken die Undenkbarkeit, also Unmöglichkeit und Unwirklichkeit der finnlichen Welt darzuthun. Nicht minder kommen die beiden andern Antipoden, Demokrit und Plato hierin überein, daß der Verstand allein zur Wahrheit führe, nicht die Wahrnehmung. Natürlich, die Sinne sehen weder die Atome noch die Ideen, die sieht allein der Verstand, der durch die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen zu den lezten Gründen, dem eigentlich Wirklichen, durchdringt.

Ebenso sind die ersten großen Systeme der modernen Philosophie in der Erkenntnistheorie rationalistisch, Descartes, Hobbes, Spinoza, Leibniz. Sie gehen aus von der Mathematik; eine mathematische Physik, zuleßt eine mathematische Welttheorie ist ihr Ziel. Natürlich kann eine solche so wenig als die reine Mathematik selbst durch Wahrnehmung oder Erfahrung zustande gebracht werden. Hierzu kommt noch ein Weiteres: die neue Philosophie soll, wenigstens bei einigen der neuen Philosophen, ebenso wie die alte Schulphilosophie auch als rationale Theologie dienen und das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele beweisen; wozu denn freilich die Erfahrung nicht hinreicht. Dies Verhältnis hat der rationalistischen Erkenntnistheorie den Ruf der guten Gesinnung eingetragen, während der Empirismus bis auf diesen Tag profaner Gesinnung verdächtig ist; auch heute noch ist es, wenigstens in Deutschland, üblich zu sagen: der Empirismus führt zum Materialismus und Atheismus.

Der Rationalismus ist also die erste Form der wissenschaftlichen Erkenntnistheorie; er ist als ihre erkenntnistheoretische Rechtfertigung von den großen metaphysischen Systembildungen hervor=

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390 II. Buch: Erkenntnistheor. Probleme. 2. Kapitel: Das Problem des Ursprungs 2c.

gebracht worden. Der Empirismus ist späteren Ursprungs; er ent steht in Gestalt der Kritik der metaphysischen Systeme und ihrer Erkenntnistheorie.

Ich entwickele zunächst die rationalistische Theorie in den Grundzügen. Ihre Behauptung ist also: alle eigentliche oder wissenschaftliche Erkenntnis wird vom Verstande durch immanente Entwickelung aus ursprünglich gewissen, nicht durch Wahrnehmung gewonnenen oder durch Erfahrung kontrollierbaren Prinzipien hervorgebracht. Das Vorbild dieses Verfahrens bietet die Mathematik. Zwei Fragen drängen sich auf und ihre Beantwortung macht eigentlich die Erkenntnistheorie des Nationalismus aus: 1) Wie kommen wir zu jenen ersten Prinzipien, den absoluten Ausgangspunkten des Wissens? 2) Wie kommt es, daß ein solches durch reine Verstandesthätigkeit konstruiertes System uns objektive Erkenntnis der Wirklichkeit verschafft? Denn das ist doch die Absicht aller Wissenschaft, die Wirklichkeit darzustellen; offenbar aber ist die Übereinstimmung eines solchen apriorischen Gedankensystems mit der wirklichen Welt nicht selbstverständlich, sondern im Grunde sehr überraschend.

Man kann drei Grundformen des Rationalismus unterscheiden, sie sind unterschieden durch die verschiedene Beantwortung dieser beiden Fragen: den metaphysischen, den mathematischen, den formalen Rationalismus. Plato, Spinoza, Kant mögen die drei Grundformen repräsentieren.

Der metaphysische Rationalismus beruht auf der Vorausseßung, daß die Wirklichkeit an sich selbst Gedanke ist; darum kann sie durch reines Denken erkannt werden. Es ist Plato, der, durch eleatische Spekulation vorbereitet, zum erstenmal diesen Gedanken zum Grundpfeiler eines großen philosophischen Systems gemacht hat. Der feste Orientierungspunkt ist ihm die Überzeugung: die Welt der finnlichen Wahrnehmung ist nicht die wirkliche Welt, die Wirklichkeit an sich ist ein seiendes Begriffs- oder Gedankensystem, eine Ideenwelt. Wie kommen wir zu ihrer Erkenntnis? Platos Antwort ist nicht eigentlich erkenntnistheoretisch, sondern ein Stück seiner Metaphysiť: die Seele ist etwas, was mit dem wirklich Wirklichen ursprüngliche Wesensgemeinschaft hat. Sie ist selbst Denken oder Geist, nämlich eigentlich oder an sich. In ihrem irdischen Dasein erscheint sie nicht

als das, was sie eigentlich ist, als reines Denken; hier ist ihr Wesen verhüllt oder entstellt durch die Beimischung des Sinnlichen, der Wahrnehmung und Begierde. Aber dies irdische Leben ist bloß eine Phase ihres Daseins; sie selbst war vor der Inkorporierung und wird nach der Lösung vom Leibe sein. In dem leiblosen Dasein ist sie eigentlich, was sie ist, und steht hier in unmittelbarem Verkehr mit dem wirklich Wirklichen, schauend die Ideen, das heißt, denkend die seienden Gedanken. In dem leiblichen Leben ist ihr Denken getrübt durch die Sinnlichkeit. Wie Menschen, so sagt jenes berühmte Bild in der Republik, die in einer Höhle, den Rücken gegen den Eingang gewendet, gefesselt siten, auf der Rückwand die Schatten der Dinge vorbeiziehen sehen, die sich draußen vor dem Eingang vorüber bewegen, so sigt die Seele in der Höhle des Leibes und sieht allerlei Schatten der Dinge, die durch die Öffnungen des Leibes, die Augen und Ohren, von vorüberziehenden Dingen hineingeworfen werden. Ein Schimmer des eigentlichen Denkens ist ihr allerdings geblieben, wie eine Erinnerung aus jenem Zustande der Leiblosigkeit und des Hellsehens. Und ihre Aufgabe in diesem Leben ist nun, so weit als möglich das Denken frei zu machen von der Sinnlichkeit, die es mit Schein und Blendwerk verschüttet hat. Mathematik und Dialektik, die beiden großen Formen des begrifflichen Denkens, sind hierzu der Weg.

Auf die Kritik dieses Rationalismus und die Anläufe zu einer dem Empirismus näher kommenden Erkenntnistheorie, wie sie bei Aristoteles sich finden, will ich nicht eingehen. Aristoteles hat hier, ein so harter und oft unbilliger Richter Platos er ist, doch gar nichts Ganzes an die Stelle zu sehen gewußt: ein Ansaß zu einer empiristischen Theorie, aus seiner Beobachtung stammend, und ein Ansah zu einer rationalistischen Theorie, aus der Syllogistik stammend, bleiben unvermittelt neben einander stehen. Dagegen will ich darauf hinweisen, wie die Platonische Anschauung in der spekulativen Philosophie unseres Jahrhunderts erneuert worden ist. Bei Hegel finden wir dieselbe Grundanschauung: die Wirklichkeit ist an sich Gedanke, eine mit innerer Notwendigkeit sich entfaltende Idee; das vollkommene Erkennen besteht in dem Nachdenken der seienden Gedanken; in der dialektischen Bewegung des philosophischen Denkens wiederholt sich

oder vielmehr erfaßt sich selbst mit Selbstbewußtsein die in lebendiger Selbstbewegung seiende absolute Idee.

Des

Eine zweite Form des Rationalismus ist der mathematische Rationalismus des siebzehnten Jahrhunderts. Er unterscheidet sich von dem platonischen dadurch, daß er immanent bleibt. Seine Behauptung ist: alle Wissenschaft, im besonderen und zunächst die Naturwissenschaft, könne und müsse die Form der Mathematik, d. h. die Form eines aus Prinzipien abgeleiteten demonstrativen Systems annehmen. cartes und Hobbes begegnen sich in dieser Grundvoraussetzung; Spinoza hat in seiner Ethik den Versuch ihrer förmlichen Durchführung gemacht; Leibniz, der sich schon mit der inzwischen hervorgetretenen empiristischen Kritik auseinander seßt, hat sie mit Einschränkungen festzuhalten gesucht.

Die Antwort auf die beiden Fragen des Rationalismus (s. S. 390) gestaltelt sich hier nun so. Auf die Frage nach der Natur der ersten Prinzipien des demonstrativen Erkennens antwortet Descartes wohl auch mit der Wendung: es seien angeborene Ideen. Der Ausdruck stammt aus der Platonischen Philosophie; aber es ist nur der alte Name, nicht der alte Sinn. Descartes weiß nichts von Präeristenz und Erinnerung. Was er meint, ist dies: es giebt Erkenntniselemente, die durch den Verstand ursprünglich hervorgebracht werden und keiner Bestätigung durch Erfahrung bedürfen. So zeigt es die Mathematik. Ihre Prinzipien sind Definitionen und Axiome; beider Wahrheit beruht nicht auf Wahrnehmung und Beobachtung. Die Definitionen der Mathematik sind Begriffe, die der Verstand absolut seßt; nicht auf gegebene Wahrnehmung, sondern lediglich auf seine Funktion selbst blickend, sett er den Begriff des Kreises und der Tangente, der Potenz und des Logarithmus. So sind Ariome Säße, deren Gültigkeit nicht durch Erfahrung bewiesen wird, sondern die, sobald sie begriffen sind, auch als absolut einleuchtend vom Verstande anerkannt werden.

Das ist nun überall die Form eigentlicher Wissenschaft. So zunächst der Physik; sie ist eigentlich nichts als ein Zweig der Mathematik. Descartes' Philosophie ist in erster Linie eine Gedankenbildung zu dem Zweck, die Möglichkeit einer rein mathematischen Physik darzuthun. Zu diesem Ende wird das Wesen des Körpers auf die reine Ausdehnung eingeschränkt; er hat keine anderen Bestimmungen als

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