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Einleitendes.

Die erkenntnistheoretischen Fragen stehen gegenwärtig oder vielleicht darf man schon sagen, standen bis vor kurzem; denn ein Umschwung ist in letter Zeit unverkennbar - im Mittelpunkt des philosophischen Interesses. Sie hatten die Aufmerksamkeit von den metaphysischen Fragen vielfach ganz abgelenkt; manchen schien die Aufgabe der Philosophie in Erkenntnistheorie überhaupt aufzugehen. Mindestens aber, glaubte man, müsse allen weiteren Erörterungen die erkenntnistheoretische Untersuchung der Fähigkeiten und Grenzen des Erkennens voraufgehen.

Die Geschichte ist nicht diesen Weg gegangen. Die Philosophie hat überall mit Metaphysik begonnen; Fragen nach der Gestalt und Entstehung des Universums, nach Natur und Ursprung des Seienden, nach dem Wesen der Seele und ihrem Verhältnis zum Leibe bilden die ersten Gegenstände des philosophischen Nachdenkens. Erst nach langer Beschäftigung mit solchen Fragen tritt die Frage nach dem Wesen des Erkennens und seiner Möglichkeit überhaupt hervor. Sie wird hervorgetrieben durch die zwiespältigen Ansichten, auf welche das Nachdenken über die physischen und metaphysischen Fragen führt. Der Zwiespalt drängt die Frage auf: ist es dem menschlichen Verstande überhaupt möglich, jene Frage zu lösen? Die Erkenntnistheorie entwickelt sich als kritische Reflexion über die Metaphysik. So ist der Gang der Geschichte im Altertum, so wieder in der Neuzeit.

Die griechische Philosophie beginnt mit kosmologisch-naturphilosophischen Spekulationen. Die ionische, die eleatische, die atomistische Philosophie sind in erster Linie metaphysische Systeme. Es fehlt nicht an einer Ansicht über das Wesen und den Ursprung der Erkenntnisaber sie bleibt abhängig von der Metaphysik. Und ähnlich steht die Sache in den großen begrifflich-spekulativen Systemen Platos und Aristoteles; die Erkenntnistheorie fehlt nicht, aber sie wird gleichsam

vom Standpunkt der Metaphysik behandelt: das Erkennen findet sich auch in der Wirklichkeit, und so entsteht die Aufgabe, seinen Ort zu bestimmen. Erst in den späteren akademischen und skeptischen Schulen tritt die Frage nach der Möglichkeit des Erkennens und der Gewißheit in den Vordergrund, nachdem sie zuerst von den Sophisten allgemein gestellt war.

Ebenso beginnt die moderne Philosophie mit metaphysischen Systembildungen; das siebzehnte Jahrhundert, mit seinen großen Systematikern, Descartes, Hobbes, Spinoza, Leibniz gleicht darin dem fünften Jahrhundert v. Chr. Auch hier fehlt die Erkenntnistheorie nicht, aber sie wird vom Gesichtspunkt der Metaphysik konstruiert. Mit J. Locke's Versuch über den menschlichen Verstand wird die Erkenntnistheorie selbständig; sie entsteht wie die Vorrede zu diesem Werke zeigt, als kritische Reflerion über die Metaphysik, zunächst über die herrschende Schulmetaphysik, die mit ihren leeren Begriffen den Verstand verdunkelt und die Erkenntnis hemmt, doch auch über die Metaphysik der modernen Systeme, besonders des Descartes. Ihr Ziel ist, die Gegenstände möglicher Erkenntnis zu ermitteln und die Grenzen der Erkenntnis abzustecken; möglicher Wissenschaften findet sie vier: Mathematik und Moral als demonstrative, Physik und Psychologie als erfahrungsmäßige Wissenschaften. Für Metaphysik ist eigentlich kein Raum, wenn man nicht eben die Reflexion über die Erkenntnis darunter verstehen will. An Locke schließt sich D. Hume. In der französischen Philosophie ist A. Comte der Hauptvertreter dieser Ansicht, nach ihm wird sie Positivismus genannt. Der deutschen Philosophie ist sie, nicht ohne beträchtliche Umbildungen, durch J. Kant angeeignet worden, sie heißt bei ihm Kritizismus. Der neuen Metaphysik, welche auf erkenntnistheoretischer Grundlage von der spekulativen Philosophie aufgerichtet wurde, sowie ihrem Nachfolger, dem dogma: tischen Materialismus, ist dann in dem Neukantianismus wieder die kritische Reflexion der Erkenntnistheorie gefolgt.

Eine Einleitung in die Philosophie war darauf hingewiesen, den historischen Weg zu gehen und mit der Metaphysik zu beginnen. Dazu kommt, daß für das allgemeine Interesse die Metaphysik immer die erste Stelle einnehmen wird. Übrigens bin ich der Ansicht, daß die metaphysischen Fragen auf jeden Fall eine selbständige Behandlung

erfordern und nicht durch erkenntnistheoretische Erwägungen erseßt werden können; sie kehren, wo man es versucht, unter anderem Titel und in unbequemerer Fassung wieder. Kant hat der deutschen Philosophie kein gutes Beispiel damit gegeben, daß er der Metaphysik die Selbständigkeit genommen und sie in die erkenntnistheoretische Untersuchung hineingezwängt hat; die Fragen der Psychologie, Kosmologie und Theologie werden in der Dialektik mehr beseitigt und abgewiesen, als behandelt und gelöst.

Ich will im Folgenden bloß ein paar Umrisse erkenntnistheoretischer Betrachtung geben, so viel als mir erforderlich und ausreichend erscheint, über die Natur dieser Untersuchungen im allgemeinen zu orientieren und der vorausgegangenen metaphysischen Behandlung der philosophischen Probleme die von dieser Seite notwendigen Ergänzungen zu geben. Wir vergegenwärtigen uns zunächst die Hauptprobleme der Erkenntnistheorie und ihre möglichen Lösungen.

Auf zwei lette Fragen gehen, wie schon oben (S. 50) angedeutet worden, die erkenntnistheoretischen Untersuchungen hinaus, die Frage nach dem Wesen und die Frage nach dem Ursprung des Erkennens: was ist Erkennen? und wie wird Erkenntnis ge= wonnen? Jede dieser Fragen giebt zur Entstehung eines großen Gegensages der Anschauungen Veranlassung: Realismus und Idealismus oder Phänomenalismus sind die beiden entgegengesezten Grundformen der Beantwortung der ersten, Sensualismus oder Empirismus und Rationalismus der zweiten Frage.

Auf die Frage nach dem Wesen der Erkenntnis giebt der Realismus die Antwort: Erkennen ist Abbildung der Wirklichkeit, die Vorstellung ist dem Ding vollkommen ähnlich, sie ist ein alterum idem des Dinges, nur ohne die Dingheit oder Wirklichkeit. Der Idealismus oder Phänomenalismus dagegen behauptet, Vorstellungen und Dinge, Denken und Sein find durchaus verschieden und völlig unvergleichbar.

Auf die Frage nach dem Ursprung der Erkenntnis giebt der Sensualismus oder Empirismus die Antwort: alles Erkennen entspringt aus der Wahrnehmung, sei es äußerer oder innerer; durch Kombination von Wahrnehmungen entsteht Erfahrung; durch Sammlung und Bearbeitung der Erfahrung entsteht Wissenschaft. Der

Rationalismus dagegen behauptet: alle eigentliche oder wissenschaftliche Erkenntnis entspringt aus der Vernunft, d. h. aus immanenter Entwickelung von Folgerungen aus ursprünglich gewissen Prinzipien, die nicht aus der Erfahrung stammen.

Da jede Erkenntnistheorie auf beide Fragen antworten und also zu beiden Gegenfäßen Stellung nehmen muß, so erhalten wir ein viergliedriges Schema möglicher Grundformen der Erkenntnistheorie. Es sind:

1) Realistischer Empirismus; seine Behauptung ist: wir erkennen die Dinge durch die Wahrnehmung, wie sie an sich selber find. Es ist die Anschauung, der die gemeine Vorstellung am nächsten kommen dürfte.

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2) Realistischer Rationalismus; seine Behauptung ist: wir erkennen die Dinge, wie sie sind, aber nicht durch die Sinne, sondern nur durch die Vernunft. Es ist die Anschauung, die den großen metaphysischen Systembildungen eigen ist: Plato, Spinoza, Hegel behaupten alle eine adäquate Erkenntnis der Wirklichkeit durch Vernunft.

3) Idealistischer Empirismus; seine Behauptung ist: wir wissen um die Dinge nur durch Wahrnehmung, freilich giebt diese keine adäquate Erkenntnis. - Es ist die erkenntnistheoretische Kritik der rationalistisch-metaphysischen Systeme, welcher diese Auffassung angehört; Hume ist ihr konsequentester Vertreter.

4) Idealistischer Rationalismus; seine Behauptung ist: wir können die Wirklichkeit a priori durch reine Vernunft erkennen, freilich nicht, wie sie an sich ist, sondern nur, wie sie uns erscheint, und zwar nur der Form nach. Das ist die Anschauung Kants.

Von den Geschichtsschreibern der Philosophie pflegt noch eine Form der Erkenntnistheorie aufgeführt zu werden: der Skeptizis. mus; seine Behauptung sei: wir können überhaupt nichts erkennen. Hin und wieder giebt sich auch noch jemand die Mühe, diese Ansicht zu widerlegen. Es scheint mir überflüssige Mühe. Wenn es jemals wirklichen Skeptizismus gegeben hat, so ist er doch in der Neuzeit ausgestorben. Es giebt hier keinen Philosophen, der daran zweifelte, daß es wirkliches Wissen giebt, das sich vom Nichtwissen unter

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