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Das ist die Bedeutung des Worts Philosophie auf dem Boden, wo sie ursprünglich heimisch ist; die Richtung auf universelle Erkenntnis und die rein theoretische Absicht sind ihre wesentlichen Merkmale. Philosophie ist Selbstzweck, nicht Mittel zu einem außer ihr liegenden Zweck, und zwar, so fügen Plato und Aristoteles hinzu, der lezte und höchste Zweck, denn in der vollendeten Erkenntnis des Seienden erfüllt der Mensch seine natürliche oder göttliche Bestimmung: als Betrachter und Ausleger seiner Werke hat Gott ihn in die Welt hinein gestellt.

In der späteren Zeit tritt im Begriff der Philosophie mehr und mehr ein Element hervor, das ihm übrigens nie fremd war: Philosophie wird zur Bezeichnung für die Erkenntnis der lezten Lebenszwecke und für die hierdurch bestimmte Sinnesrichtung und Lebensführung, die des Weisen. Doch bleibt dabei das Moment der universellen Erkenntnis, der Einsicht in die Natur der Dinge überhaupt und des Menschen im besonderen, die wesentliche Vorausseßung.

Das Mittelalter hat an diesem Begriff der Philosophie, als der Einheit der wissenschaftlichen Erkenntnis, festgehalten. Er ist auch in der Neuzeit bis zum Anfang dieses Jahrhunderts in unveränderter Geltung geblieben. Für die Neuzeit ein paar Nachweisungen. ?

Zwei Männer pflegen an der Spiße der neueren Philosophie als Urheber oder als erste Repräsentanten der beiden großen durch die ganze Folgezeit hindurchgehenden Richtungen genannt zu werden: der Engländer Francis Bacon und der Franzose René Des = cartes. Dieser ist der Begründer der rationalistisch-metaphysischen, jener der Vorläufer der empiristisch-positivistischen Entwickelungsreihe. In beiden Reihen bleibt die Auffassung von dem Verhältnis der Philosophie zu den Wissenschaften dieselbe.

Bacon unterscheidet historische und philosophische oder wissenschaftliche Erkenntnis; jene geht auf das Konkrete und Einzelne, Philosophie oder Wissenschaft dagegen hat es mit allgemeinen Begriffen zu thun; jene entspringt aus dem Gedächtnis, diese ist die Funktion der Vernunft. Die Philosophie oder Wissenschaft teilt er dann, nachdem er noch die inspirierte Theologie als eine besondere Erkenntnisart abgesondert hat, entsprechend den drei Objekten des Verstandes, Gott, Natur, Mensch, in drei Zweige: natürliche Theologie, Anthro

pologie (physische mit Medizin, und psychische, worunter die Geisteswissenschaften überhaupt begriffen sind) und Naturphilosophie.*) Die Einteilung, so unzulänglich sie sonst sein mag, zeigt auf jeden Fall, daß Bacon alle wissenschaftliche Erkenntnis unter den Begriff der Philosophie zu bringen vorhat. Außerhalb bleibt nur die Geschichte (und die Dichtung), eben darum, weil sie nicht Wissenschaft ist.

Ganz ebenso umfaßt bei Descartes der Begriff der Philosophie alle wissenschaftliche Erkenntnis. Sein systematisches Hauptwerk führt den Titel: Principia philosophiae; es enthält im ersten Buch eine kurze Abhandlung der erkenntnistheoretischen und metaphysischen Fragen, im zweiten die Prinzipien der mechanischen Physik, im dritten die Kosmologie, im vierten eine Reihe von physikalischen, chemischen, physiologischen Erklärungen. Wir würden ein derartiges Werk vielleicht am ersten eine Encyklopädie der Naturwissenschaften nennen. In der Vorrede erklärt er selbst die Philosophie als den Inbegriff der menschlichen Wissenschaft. Als ihre Hauptteile nennt er 1) die Metaphysik, 2) die Physik, 3) die technischen Wissenschaften, darunter im besonderen die Medizin, die Mechanik, die Ethik.**)

Diese Auffassung der Philosophie bleibt in der Folgezeit in den beiden Entwickelungsreihen unverändert. Ich greife ein paar Beispiele heraus. Thomas Hobbes erklärt am Eingang seiner Logik die

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*) De dignitate et augmentis scientiarum II, 1: historiam et experientiam pro eadem re habemus, quemadmodum etiam philosophiam et scientias. Historia proprie individuorum est philosophia individua dimittit, sed notiones ab illis abstractas complectitur. III, 1: philosophiae objectum triplex: Deus, Natura, Homo. Convenit igitur partiri philosophiam in doctrinas tres: doctrinam de numine, d. de natura, d. de homine.

**) Philosophiae voce sapientiae studium denotamus, et per sapientiam non solum prudentiam in rebus agendis intelligimus, verum etiam perfectam omnium earum rerum, quas homo novisse potest scientiam. Philosophiae prima pars Metaphysica est, ubi continentur principia cognitionis; altera pars est Physica, in qua inventis veris rerum materialium principiis, generatim examinatur, quomodo totum universum sit compositum, deinde speciatim, quaenam sit natura hujus terrae, aëris, aquae, ignis, magnetis et aliorum mineralium. Deinceps quoque singulatim naturam plantarum, animalium et praecipue hominis examinare debet, ut ad alias scientias inveniendas, quae utiles sibi sunt, idoneus reddatur,

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quae ad tres

praecipuas revocantur, Medicinam, Mechanicam atque Ethicam.

Philosophie als die durch richtiges Denken abgeleitete Erkenntnis der Wirkungen oder Erscheinungen aus ihren Ursachen. Ihr Ziel ist, wie bei Bacon und Descartes, die Herrschaft über die Dinge zu unseren Zwecken: scientiam propter potentiam. Ihre Hauptteile sind: die Mathematik, die Naturwissenschaft, die eigentlich erst mit Copernicus, Galilei und Harvey beginnt, und die philosophia civilis, die nicht älter sei, als das Buch de cive. Nicht zur Philosophie gehört die Theologie, natürliche und geoffenbarte, und die Geschichte, Naturgeschichte wie politische Geschichte, als welche alle nicht Wissenschaften sind.

Ebenso braucht John Locke das Wort Philosophie als gleichbedeutend mit Wissenschaft. Als ihre Hauptzweige bezeichnet er: Physica oder natural philosophy, Practica, deren Hauptteil die Ethik, Semiotica, deren wichtigstes Stück die Logik.*) Daß auch er die Naturphilosophie für das eigentliche Hauptstück der Philosophie hält, geht aus dem Vorwort zu dem „Versuch über den menschlichen Verstand" deutlich genug hervor: sein Ehrgeiz gehe nur darauf, als ein Handlanger allerlei Schutt von dem Boden zu entfernen, auf dem Meister wie Boyle, Sydenham, Huyghens, Newton ihre dauernden Bauwerke aufführten.

Derselbe Sprachgebrauch ist in den Kreisen der exakten Forschung heimisch. Newton nennt sein Werk: Naturalis philosophiae principia mathematica. Der Mathematiker Wallis spricht in einer Schrift vom Jahre 1696 über die Gründung der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften: „Unser Geschäft war, mit Ausschluß der theologischen und politischen Angelegenheiten, philosophische Forschungen und was dahin gehört, zu besprechen, nämlich Physik, Anatomie, Geometrie, Astronomie, Nautik, Statik, Magnetismus, Chemie, Mechanik und naturwissenschaftliche Experimente. Wir besprachen den Kreislauf des Bluts, die Venenklappen, die kopernikanische Hypothese, die Natur der Kometen und neuer Sterne, die Trabanten des Jupiter, Verbesserung der Fernröhre und Schleifung der Gläser zu diesem Zweck, das Gewicht der Luft, die Möglichkeit oder Unmöglichkeit des vacuum und des horror vacui und andere Sachen, die in den Bereich der, wie man damals sagte, „neuen Philosophie“

*) Essay on human understanding, IV, 21. Im Vorwort heißt es: philosophy, which is nothing but the troe knowledge of things.

gehörten, die seit den Zeiten des Florentiners Galilei und des Eng= länders Baco von Verulam in Italien, Frankreich, Deutschland und anderen Teilen des Auslands vielfältig angebaut worden ist, ebenso wie auch bei uns in England.*)

In gleicher Weise ist der alte Begriff in der kontinentalen Philosophie, die dem Descartes als Führer folgt, geblieben. Spinoza versteht unter einem System der Philosophie das einheitliche System aller wissenschaftlichen Erkenntnis, das der einheitlichen Wirklichkeit, Natura sive Deus, entspricht. Sein Hauptwerk nennt er nicht System der Philosophie, sondern Ethica, weil der eine Hauptzweig der Philosophie, die philosophia naturalis, darin fehlt oder nur mit einigen Lehnsäßen im 2. Buch angedeutet ist. Leibniz, der auf allen Gebieten der wissenschaftlichen Forschung, der geschichtlichen Quellenforschung, wie der Mathematik und Physik heimisch ist, hat von der absoluten Gestalt der Wissenschaft oder der Philosophie ganz dieselbe Vorstellung wie Spinoza; er denkt sie sich als ein demonstratives System, in dem mit Begriffen vermittelst eines Zeichensystems, ähnlich wie in der Arithmetik, gerechnet wird. In diesem Sinne redet er einmal von einer Encyclopédie demonstrative.**)

Chr. Wolff, der die moderne Philosophie zuerst in ein schulmäßiges System gebracht hat, beginnt seine Abhandlung über das Wesen der Philosophie am Eingang der Logik mit der Unterscheidung der historischen und philosophischen Erkenntnis: jene giebt das Was, diese das Warum: cognitio eorum, quae sunt vel fiunt, historica, cognitio rationis eorum, quae sunt vel fiunt, philosophica dicitur. Wer die bloße Thatsache (nudam facti notitiam) weiß, daß das Wasser im Flußbett abwärts fließt, hat eine historische Erkenntnis; eine philosophische dagegen, wer da weiß, daß dies durch die Neigung des Bodens und den Druck der oberen Wasserteile auf die unteren bewirkt wird. Als dritte Erkenntnisart fügt er die mathematische hinzu, die die Größenverhältnisse bestimmt. Die Philosophie verwertet übrigens auch die historische und mathematische Erkenntnis. - Im dritten Kapitel wird von den Hauptteilen der Philosophie gehandelt;

*) Citiert bei Hurley, Reden und Auffäße, deutsch v. Fr. Schulze, S. 3. **) Opera philos. Herausg. von J. E. Erdmann, S. 169.

ihrer sind drei: die natürliche Theologie, die Psychologie, die Physik; wozu drei Normwissenschaften kommen: die Logik, die praktische Philosophie in Anlehnung an die Psychologie, die Technologie in Anlehnung an die Physik. Hierzu kommt noch die Ontologie als die Wissenschaft von den allem Seienden gemeinsamen Bestimmungen.

Man sieht, überall bildet die Naturwissenschaft den einen großen Hauptteil, ja bei manchen ist sie die eigentliche Substanz der Philosophie; und überall ist ihre Erkenntnisart die eigentliche Form der wissenschaftlich - philosophischen Erkenntnis überhaupt. Die Geisteswissenschaften sucht man nach ihrem Vorbild zur Wissenschaft zu er= heben, wie es z. B. David Hume in seiner „Abhandlung über die menschliche Natur" sich schon auf dem Titel ausdrücklich als Ziel seßt.

Auch dem 19. Jahrhundert ist diese Betrachtungsweise nicht fremd geworden, in England und Frankreich ist sie gewöhnlich ge= blieben. Ich erinnere an die philosophie positive A. Comte's und an das System der synthetischen Philosophie Herbert Spencer's. Für Comte ist die Philosophie der Substanz nach nicht verschieden von den Wissenschaften, sie ist das universelle Bewußtsein über Zustand, Entwickelung, Ziel und Methode der wissenschaftlichen Forschung in ihren verschiedenen Zweigen. Als seine besondere Aufgabe betrachtet Comte, die Wissenschaft von den sozialen Phänomenen zur Stufe der positiven Wissenschaft überzuführen, welche für das Gebiet der astronomischen, physikalischen, chemischen, physiologischen Phänomene von den Naturwissenschaften schon früher erreicht ist; es ist dasselbe Ziel, das sich schon Hume für die Geisteswissenschaften gesteckt hatte. - Und offenbar ist Spencer's synthetische Philosophie im ganzen und großen nach demselben Schema angelegt. Er erklärt Philosophie als die lezte und höchste Einheit wissenschaftlicher Erkenntnis: „Wissen der niedrigsten Art ist noch nicht vereinheitlichte Erkenntnis, Wissenschaft ist teilweise vereinheitlichte Erkenntnis, Philosophie ist vollkommen vereinheitlichte Erkenntnis."*) Wenn unter den Teilen des Systems neben der Psychologie und Biologie nicht auch die Physik vorkommt, so erklärt der Verfasser dies selbst für zufällig.

Erst das neunzehnte Jahrhundert hat in die sichere Überlieferung

*) System der synthet. Philos. (deutsch von Vetter) Bd. 1, § 37.

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