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Wesen und Bedeutung der Philosophie.

Es gab eine Zeit und fie liegt noch nicht so gar weit hinter uns, wo die Ansicht weit verbreitet war, Philosophie sei eine Sache, die sich überlebt habe; an ihre Stelle seien die positiven Wissenschaften getreten. Als eine Art Vorstufe der wissenschaftlichen Erkenntnis möge sie ihre Zeit und ihr Recht gehabt haben; jest dagegen seien jene Versuche, durch allgemeine Spekulationen zur Erkenntnis der Welt und der Dinge zu gelangen, überlebt und abgethan. Nur als ein unschädliches Spiel für unfruchtbare, zu eigentlich wissenschaftlicher Arbeit nicht angelegte Köpfe möge fie noch eine Weile ein harmloses Dasein fristen, keineswegs aber könne die Beschäftigung mit ihr Allen, die auf wissenschaftliche Bildung Anspruch machen, als Pflicht zuge= mutet werden.

Es kann hier unerörtert bleiben, ob die Philosophie an dieser Mißachtung, der sie um die Mitte des Jahrhunderts verfallen war, selber einige Schuld hat. Es ist a priori wahrscheinlich. Nirgends war die Geringschäßung härter als in Deutschland; sie trat hier ein in zeitlicher Folge auf die Herrschaft der spekulativen Philosophie; es liegt nahe, einen ursächlichen Zusammenhang zu vermuten und in der Verachtung aller Philosophie die Reaktion gegen die Selbstüberhebung zu erblicken, mit der die spekulative Philosophie und ihre Jünger die wissenschaftliche Forschung nicht minder als den gesunden Menschenverstand beleidigt hatten. Nachdem sich der deutsche Leser lange genug durch harte Worte hatte einschüchtern, durch trüben Tieffinn imponieren und durch den Vorwurf der Seichtigkeit das, was er verstand, verdächtig machen lassen, faßte er endlich doch ein Herz und entschloß sich, nun alles gering zu schäßen, was an jene peinlichen Erinnerungen rührte. Hätte Hegel Kants Alter erreicht, so hätte er

Paulsen, Einleitung. 2. Aufl.

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selber noch den Rückschlag erlebt. Statt seiner litten nun Andere, wie: Fechner. und Löge, unter der Gleichgültigkeit, die sie nicht verschuldet und nicht verdient hatten.

Jizwischen ist eine neue Zeit herbeigekommen. Ist auch die Verachtung der Philosophie noch nicht ausgestorben, so darf man doch sagen, sie ist für das letzte Drittel des Jahrhunderts nicht mehr charakteristisch, wie sie es für das zweite war. Die Philosophie hat begonnen von der öffentlichen Geringschäßung sich zu erholen; sie gewinnt wieder die Teilnahme größerer Kreise; im besonderen ist auch ihr Verhältnis zur wissenschaftlichen Forschung wieder ein freundlicheres geworden.

Es kehrt damit der natürliche Zustand zurück. Denn in Wahrheit ist Philosophie so wenig eine Sache, die sich überlebt hat, oder die bloß einige leere und abstruse Köpfe angeht, daß sie vielmehr eine Angelegenheit aller Zeiten und aller Menschen ist. Ja, man kann sagen, Philosophie ist nicht eine Sache, die man haben oder auch nicht haben kann, auf gewisse Weise hat jeder Mensch, der sich über die Dumpfheit tierischen Dahinlebens erhebt, eine Philosophie. Es fragt sich bloß, was für eine, ob eine aus einigen zufälligen Wissensfragmenten und Gedankensplittern zusammengezimmerte, oder eine durchdachte und auf allseitiger Betrachtung der Wirklichkeit beruhende.

Was das intellektuelle Leben des Menschen von dem der Tiere unterscheidet, das ist die Fähigkeit theoretischer Betrachtung und die Richtung auf das Ganze. Das Tier sieht und hört, hat auch wohl Vorstellungen und Erinnerungen, aber es verweilt nicht dabei; fie kommen und gehen vereinzelt, wie es der Naturlauf fügt, sie haben ihre Bedeutung nur als Motive für den Willen. Im Menschen reißt sich die intellektuelle Thätigkeit vom Dienst des Bedürfnisses los; das theoretische Interesse erwacht; er sammelt und betrachtet die Elemente, welche die Wahrnehmung bietet, und kommt nicht zur Ruhe, bis er sie zu einer einheitlichen Gesamtanschauung der Dinge verknüpft hat. Praris und Technik laffen an dem Einzelwissen sich genügen; das theoretische Interesse ist auf das Ganze gerichtet. So entsteht Philosophie. Sie ist im allgemeinsten Sinne des Wortes nichts anderes, als der stets wiederholte Versuch, ein Ganzes von Vorstellungen

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