Page images
PDF
EPUB

Neigung hervorgeht, auf dieser Grundlage zum Frieden der Wissenschaft mit der Religion zu gelangen.

Eine Parallele zur Ausbreitung der Philosophie Kants in Deutschland bildet die Ausbreitung des Positivismus in Frankreich und England. So entschieden diese Richtung die Bevormundung der Wissenschaft durch die Kirche ablehnt, ebenso entschieden erkennt sie andererseits an, daß das Wissen, im Gebiet des Relativen einheimisch, nicht bis auf den tiefsten Grund der Dinge reicht, und daß Ausdrücke für eine andere Seite unseres Innenlebens, für ein gefühlsmäßiges Verhältnis zur Wirklichkeit, wie es von jeher die Religion bot, ein Bedürfnis bleibt. Comte und Renan, Mill und Spencer kommen hierin überein.

Auf der anderen Seite ist eine seit kurzem in der protestantischen Theologie so bedeutsam hervortretende Bewegung als hoffnungsvolles Anzeichen zu begrüßen, ich meine die Bewegung, welche darauf abzielt, dem Dogma eine neue Stellung und Bedeutung im kirchlichen Leben zu geben. Gegenüber der Anschauung, die in dem Dogma den Ausdruck theoretischer Wahrheiten sah, denen durch eregetisch-historische Beweisführung, oder durch ontologisch-kosmologische Argumente ein wissenschaftlicher Unterbau, oder durch Spekulation eine begriffliche Auslegung gegeben werden könne und müsse, will die neue Richtung ihm die Bedeutung einer Formel geben, die nicht sowohl den Verstand als den Willen bindet, die nicht beweisbare Aussagen über geschichtliche oder natürliche Wirklichkeit, sondern Bekenntnisse zu absolut anerkannten, das Gemüt erfüllenden und dem Willen Ziel und Richtung gebenden Gütern enthält. An Luther anknüpfend, der mit der Verwerfung der scholastischen Philosophie und Theologie die falsche Einheit von Glauben und Wissen verwarf, will sie die protestantische Theologie aus dem Intellektualismus der Orthodoxie, aus der verstandesmäßigen Demonstrier- und Systemsucht, in die sie alsbald wieder zurückfiel, herausziehen, um das kirchliche Leben auf den Boden des Evangeliums von der Erlösung durch Glauben und Liebe zu stellen.

So kommt man sich von beiden Seiten entgegen. Zum Frieden scheint nur erforderlich, daß sich die Kirche entschließt, aufrichtig und ohne Rückhalt der Wissenschaft zu geben, was der Wissenschaft ist. Sie

hat sich, wenigstens auf protestantischem Gebiet, allmählich darein gefunden, dem Kaiser oder dem Staate zu geben, was des Staates ist; man darf annehmen, sie wird sich auch darein finden, dem Verstande zu geben, was des Verstandes ist, d. h. ihm das ganze Gebiet der natürlichen und geschichtlichen Wirklichkeit zu freiester Erforschung rückhaltlos einzuräumen und anzuerkennen, daß sie weder Mittel noch Grund habe, der auf dem Wege wissenschaftlicher Forschung gewonnenen Erkenntnis in irgend einem Stück entgegenzutreten. Dann werden Philosophie und Wissenschaft aufhören, im Glauben eine Beeinträchtigung der Erkenntnis zu sehen, vielmehr mit Goethe bekennen:,,Das schönste Glück des denkenden Menschen ist, das Erforschliche zu erforschen und das Unerforschliche ruhig zu verehren."*)

Was diese hoffnungsreiche Aussicht zu trüben geeignet ist, das ist der absolut religions-feindliche Radikalismus, der gegenwärtig in der breiten Masse der Bevölkerung um sich greift. Die Feindschaft, die vordem und noch vor einem Menschenalter durch die obrigkeitliche Bevormundung in den Kreisen der Gebildeten erregt wurde, ist jezt auf die von politischer und gesellschaftlicher Unzufriedenheit erregten Massen übergegangen. Auch hier beruft man sich auf die Wissenschaft: fie habe gezeigt, daß Religion nichts als ein Überlebsel aus der Kindheitsepoche der Menschheit sei, das nur noch durch die politischen und sozialen Interessen der herrschenden Klassen geschüßt und erhalten werde. Es ist dieselbe Täuschung, der früher die Bourgeoisie

*) Mit Hinweisung auf den kürzlich ausgebrochenen Kampf um das Apostolikum ist zum Vorstehenden bemerkt worden, daß sich die Prophezeiung des ewigen Friedens auch hier wieder als Täuschung erwiesen habe. So leicht gebe ich die Voraussicht doch nicht preis. Das habe ich nicht erwartet, daß die Nichtung, die in der Theologie vor einem Menschenalter herrschend war, ohne weiteren Kampf das Feld räumen werde; der Winter zieht auch nicht ab, ohne noch mit einigen Schneestürmen dem Frühling den Einzug streitig zu machen. Aber der Frühling kommt doch. Und hierin macht mich der Protestfeldzug der alten Orthodorie so wenig irre, daß ich darin vielmehr ein günstiges Zeichen erblicke; fühlte sie sich nicht in ihrem Dasein bedroht, sie würde nicht mit solchem Eifer die Wächter auf die Mauern rufen. Aber sie merkt, daß die Tage gezählt sind, daß die Jugend ihre Reihen verläßt, und so sucht sie durch den Wiederhall der Proteste sich im Glauben an ihre große Zahl zu stärken, die Gegner zu erschrecken und wenn möglich das Unabwendbare abzuwenden.

unterlag; der Haß gegen das politische Regiment, das mit der Kirche verbündet war, wendete sich gegen die Religion und machte aus dem Unglauben einen politischen Glaubensartikel. So erscheint jeßt der Atheismus als Glaubensartikel der Sozialdemokratie. Es ist der umgekehrte Katechismus. Und wie die alte Dogmatik, so ist auch diese neue, negative Dogmatik wissenschaftsfeindlich, insofern sie den Geist der Kritik und des Zweifels in ihren Dogmen gefangen nimmt. Der Name Antipfaffen, den ein Führer der sozialistischen Partei jüngst von gewissen Heißspornen der Atheismusdogmatik gebrauchte, ist in der That durchaus bezeichnend. An sich steht die Religion den politischen und sozialen Parteigegensäßen völlig neutral gegenüber; der Glaube an Gott ist mit dem Glauben an die Menschheit und ihre Bestimmung zu brüderlichem Gemeinschaftsleben durchaus vereinbar; und nur die seltsamste Verkennung kann dem Christentum eine zärtliche Schwäche für die Reichen und Wohlgeborenen zuschreiben. Freilich ist diese Verkennung nicht allein und nicht ursprünglich bei der Sozialdemokratie heimisch.

Inzwischen ist der Haß da und wird seine Folgen haben. Überwunden werden kann er nur dadurch, daß der Glaube seine Wahrheit beweist nicht durch Haß und Verachtung und Keßergerichte, sondern durch rechtschaffene Früchte der Gerechtigkeit und Liebe. Das Christentum selbst aber, das so viele Staatsumwälzungen und Kulturwandlungen, so viele Reiche und Völker überlebt hat, wird auch die Stürme überleben, denen die europäischen Völker jeßt entgegenzugehen scheinen. Ja, wer weiß, ob nicht seine Befreiung von der Umflammerung mit den Interessen der herrschenden Gesellschaftsklassen die Bedingung für eine neue und große Entwickelung seines Lebens ist?

2. Das Verhältnis der Philosophie zu den Wissenschaften. Mit den Wissenschaften hat die Philosophie, wie schon angedeutet wurde, als Ausgangspunkt die verstandesmäßige Auffassung der Wirklichkeit gemein; sie ist Wissenschaft. Was unterscheidet sie von den anderen Wissenschaften?

Zwei Ansichten scheinen zunächst möglich. Wissenschaften unterscheiden sich durch ihren Gegenstand und ihre Form. Der Unterschied der Philosophie von den andern Wissenschaften scheint demnach ent

weder in dem Gegenstand, mit dem sie sich beschäftigt, oder in der Art, wie sie ihn behandelt, gesucht werden zu müssen. Beide Ansichten sind aufgestellt worden. Nach der ersten hat die Philosophie ein ihr eigentümliches Wirklichkeitsgebiet, das von keiner andern Wissenschaft in Anspruch genommen wird; in einer Einteilung der Wissenschaften kommt sie demnach als eine den übrigen koordinierte Einzelwissenschaft vor. Nach der andern Ansicht hat sie die Gegenstände mit den andern Wissenschaften gemein, behandelt sie aber auf eigene Art und ist also durch ihre Methode von ihnen unterschieden.

Die lettere Ansicht war in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts bei uns herrschend, es ist die Ansicht der spekulativen Philosophie. Die ganze Wirklichkeit, so nimmt diese an, ist Gegenstand einer doppelten Behandlung, einer philosophischen und einer wissenschaftlichen, einer spekulativen und einer empirischen. In den beiden großen Gebieten der menschlichen Erkenntnis, der Natur und der Geschichte, haben wir nebeneinander Naturwissenschaft und Naturphilosophie, Geschichtswissenschaft und Geschichtsphilosophie. Die Aufgabe der Wissenschaft ist, durch methodische Erfahrung Kunde von den Thatsachen zu erwerben, die Aufgabe der Philosophie dagegen, durch ein ihr eigentümliches Verfahren, das eigentliche Wesen und den innersten Zusammenhang der Dinge darzulegen.

Mit dem Glauben an die spekulative Methode ist diese Ansicht ausgestorben. Unsere Zeit glaubt nicht mehr an die Möglichkeit, durch dialektische Begriffsentwickelung die Gedanken oder den Sinn der Wirklichkeit a priori zu erkennen. Sie kennt, wie nur eine Wirklichkeit, so nur eine Wahrheit und einen Weg zu ihr: die denkende Erfahrung. Erfahrungsloses Denken führt so wenig zur Erkenntnis der Wirklichkeit, als gedankenlose Erfahrung. Der Philosoph hat keine via regia zur Erkenntnis; die reine Spekulation ist in Wahrheit nichts als eine verzerrte Reflexion über Erkenntnisse, die uneingestandener Erfahrung verdankt werden.

Giebt es keine besondere philosophische Methode, so scheint die zweite Ansicht übrig zu bleiben, daß Philosophie durch ihren besonderen Gegenstand von den andern Wissenschaften sich unterscheide. Diese Ansicht ist jetzt vorherrschend. Und so hat man denn auf mancherlei Weise versucht, der Philosophie ein eigentümliches Gebiet abzugrenzen.

Nach einer gegenwärtig ziemlich häufig vorkommenden Ansicht ist der besondere Gegenstand der Philosophie das Erkennen. Kant hat, wenn wir K. Fischer glauben wollen, das Verdienst, der Philosophie zu einer sicheren Stellung unter den Wissenschaften verholfen zu haben, indem er ihr ein besonderes Gebiet verschaffte, das keine andere Wissenschaft in Anspruch nimmt: nämlich das Erkennen. „Objekt der Erfahrung sind die Dinge, Objekt der Philosophie ist die Erfahrung, überhaupt die Thatsache der menschlichen Erkenntnis."*)

Andere wollen der Philosophie im Gegensatz zu der Naturwissenschaft das Gebiet der inneren Erfahrung zuweisen, sie erklären sie als Geisteswissenschaft. So Lipps in den Grundthatsachen der Psychologie (S. 3). A. Döring dagegen seßt die Philosophie als die Untersuchung der Güter und Werte den übrigen Wissenschaften entgegen, die sich mit dem Wirklichen beschäftigen; in seiner philo= sophischen Güterlehre (1889) wird die Notwendigkeit dieser Bestimmung durch begriffliche und historische Betrachtung dargelegt. Eine ältere, weit verbreitete Ansicht, die auf gewisse Weise auf Aristoteles zurückgeht, erklärt die Philosophie als die Wissenschaft von den ersten Prinzipien oder von den allgemeinen Grundbegriffen und Vorausseßungen der Einzelwissenschaften.

Mir scheinen auch diese Versuche, die Philosophie gegen die Einzelwissenschaften abzugrenzen, begründeten Bedenken zu unterliegen. Wissenschaft vom Erkennen soll die Philosophie sein. Aber eine solche Wissenschaft hat ja längst einen anderen Namen: Logik oder Erkenntnistheorie. Warum soll sie diesen Namen gegen einen andern vertauschen, noch dazu gegen einen, der schon eine andere und zwar weitere Bedeutung hat; denn nach dem herkömmlichen Sprachgebrauch ist die Logik oder Erkenntnistheorie eine philosophische Disziplin neben anderen. Und dasselbe gilt gegen die beiden folgenden Erklärungen. Die Untersuchungen über das geistig-geschichtliche Leben pflegen wir

*) Geschichte der neueren Philos. III3, 16. Ihm stimmt A. Riehl bei in seiner Antrittsrede über wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Philos. (jezt auch in dem Werk: der philos. Kritizismus u. s. Bedeutung für die positive Wissenschaft II, 2 S. 1 ff.): unwissenschaftlich ist die Philosophie, die nach der Art der griechischen über alle Dinge räsonniert, wissenschaftlich dagegen die Philosophie, die sich seit Locke neben den anderen Wissenschaften als die Wissenschaft vom Erkennen fonstituiert hat.

Paulsen, Einleitung. 2. Aufl.

2

« PreviousContinue »