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der Möglichkeit, wahrgenommen zu werden, so kann man sagen:*eben hierin besteht das Dasein der unbewußten Vorstellungen, in der Möglichkeit bewußt zu werden. Es sind potentielle innere Wahrnehmungen, ganz ebenso wie jene physischen Momente potentielle äußere Wahrnehmungen sind.

Man kann aber auch sagen, und vielleicht ist das die angemessenste Form, sich die Dinge zurecht zu legen, das Unbewußte ist nicht ein absolut Nichtbewußtes, sondern nur ein minder Bewußtes, ein' vielleicht bis zur völligen Unmerklichkeit herabgeseßtes Bewußtes. Denn auf jede Weise wird man dahin geführt, quantitative Unterschiede in der Bewußtheit anzunehmen. Zwei Vorgänge werden gleichzeitig wahrgenommen; ich sehe mit gespannter Aufmerksamkeit einem Wettrennen zu und bemerke daneben gelegentlich das Spiel der Mücken in der Luft; ohne Zweifel kommt den Wahrnehmungen, die sich auf den ersten Vorgang beziehen, größere Intensität der Bewußtheit zu. Und ebenso giebt es graduelle Unterschiede der Unbewußtheit, wenn man so sagen darf. Ein Vorkommnis, das mich vor einer Viertelstunde lebhaft erregte, ist jeßt nicht mehr im Bewußtsein, ich denke an andere Dinge; doch wirkt es noch nach in der Stimmung, die es erregte, wird auch durch irgend eine associative Hülfe augenblicklich ins Bewußtsein zurückgerufen. Es ist nicht mehr bewußt, aber doch auch nicht so unbewußt, wie ein Vorkommnis, das \mir vor einem Vierteljahr oder vor einem Jahrzehnt zustieß, dessen ich mich kaum mit Mühe und nur sehr unbestimmt oder auch gar nicht mehr erinnere. Und da zu wäre denn noch zu bemerken, daß die Intensität des Bewußtseins/ nicht bloß für die einzelnen Elemente ungleich ist, sondern auch im Ganzen Schwankungen zeigt; es wechseln im Seelenleben Augenblicke eines hellen und umfassenden mit solchen eines engen und dumpfen Bewußtseins. Tägliche Schwankungen treten ein, korrespondierend mit den vegetativen Prozessen. Zu ihnen kommen die Schwankungen, welche die Gesamtentwickelung des Lebens begleiten; von einem Minimum am Anfang des Lebens erhebt sich das Bewußtsein zu einem Maximum, das etwa mit der vollen körperlichen Reife erreicht wird, um dann erst langsam, später rasch zu sinken. Hiernach können wir nun sagen: das Unbewußte ist nicht etwas, das für das Bewußtsein überhaupt gar nicht vorhanden ist, sondern es ist das minder Bewußte in seinen

verschiedenen Abstufungen, bis herab zur völligen Unmerklichkeit und Unnachweisbarkeit. Ein Seelenleben wird gebildet aus der Gesamtheit der bewußten und unterbewußten Elemente. Die Vorgänge im Bewußtsein werden jeden Augenblick bestimmt durch das Zusammenwirken aller Elemente, von den eben meist bewußten bis herab zu den völlig vergessenen, die doch, sofern sie den Habitus des Seelenlebens bestimmt haben, nicht ganz unwirksam und unwirklich geworden sind.

Fände aber ein Physiolog Schwierigkeiten in der physiologischen Konstruktion dieser Vorstellung meinend, nur wenn Erregungen der Gehirnzellen stattfinden, könne Bewußtsein als Begleiterscheinung eintreten, ruhende Dispositionen seien nicht Träger von Bewußtseinsvorgängen, wie herabgesezt immer man sich diese vorstellen möge, so würde ich sagen: es hindert ja gar nichts zu denken, daß alle Zellen der Hirnrinde beständig in Thätigkeit sind. Ja, auf solche Vorstellung wird man doch von allen Seiten geführt. Eine Ganglienzelle ist doch ohne Zweifel nicht als ein ruhendes Atom, sondern als Träger eines Systems mannigfachster, nie rastender innerer Bewegungen anzusehen; beständig findet Zerseßung und Neubau, beständig Wechselwirkung mit der näheren und entfernteren Umgebung statt, und in jeder Bethätigung kommt die innere Konstitution und Disposition der Zelle zur Darstellung. Es würde dann der herabgeseßten Thätigkeit ein herabgeseztes Maß von Bewußtheit entsprechen. Ich sollte denken, daß dem Physiologen diese Vorstellungsweise eigentlich ganz gelegen sein müßte. Eher müßte es ihm Schwierigkeiten machen, die um gekehrte Vorstellung, daß nur einige wenige Elemente psychisch wirklich sind, zu konstruieren. Sind die physiologischen Vorgänge in der Gehirnrinde überhaupt mit psychischen Prozessen begleitet, so müssen wir ja ein überaus kompliziertes Spiel solcher erwarten, und nicht bloß die wenigen Vorgänge, die den dünnen „Vorstellungsfaden“ der Psychologen ausmachen. Oder sollten wirklich in jedem Augenblick nur einige wenige Zellen erregt und in Thätigkeit sein und die übrigen inzwischen wie Sandkörner am Strande ohne innere Thätigkeit müßig liegen? Und wenn das nicht denkbar ist, warum sollte denn ihre Erregung psychisch überhaupt unfruchtbar sein?

Daß aber in Wirklichkeit das Seelenleben in jedem Augenblick ein höchst mannigfaches und kompliziertes Spiel von mehr und minder

Paulsen, Einleitung. 2. Aufl.

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bewußten Vorgängen aufweist (und nicht bloß jene dürftige eingliedrige Reihe, wie sie nach einigen Psychologen die „Enge des Bewußtseing“ allein zulassen soll, darüber läßt unbefangene Besinnung doch nicht in Zweifel. Ich fiße im Theater und folge der Aufführung eines Stücks. Zahlreiche Reihen psychischer Prozesse spielen sich neben einander ab, mit mehr oder minder Stärke im Bewußtsein auftretend. Ich habe Gehörsempfindungen, fie folgen in langer Reihe, aus ihnen heben sich am meisten diejenigen hervor, die ich als die Reden der Schauspieler auffasse und in Vorstellungen und Gedanken umseße, doch höre ich dazwischen auch die Schritte auf der Bühne, das Rauschen der Kleider, die Bewegungen meiner selbst und meiner Nachbarn. Nebenher geht eine ebenso komplizierte Reihe von Gesichtswahrnehmungen, ich übersehe die ganze Bühne mit ihren Dekorationen und ihrer Einfassung, ich sehe die Bewegungen, das Mienenspiel der Darsteller, den Vordergrund bilden die Köpfe und Hüte meiner Vordermänner, auch sie sehe ich so weit, daß mir jede stärkere Bewegung auffällt. Diese beiden Reihen gehen neben einander her, nicht so, daß ihre Glieder intermittierend sich ablösten, sondern jede ist für sich vollständig, wenn auch bald bestimmte Glieder der einen, bald der andern das Übergewicht im Bewußtsein haben. Auf Grund beider Reihen bildet sich nun die Hauptreihe, die am meisten Bewußtsein hat und am tiefsten sich einprägt: die Reihe der Vorstellungen, welche sich auf das Drama selbst mit seiner Handlung und seinen Charakteren bezieht. In jedem Augenblick steht im Mittelpunkt die Vorstellungsgruppe, die durch die eben jezt gehörte Einzel- oder Wechselrede angeregt wird. Im Bewußtsein ist aber natürlich nicht bloß das Wort oder der Saß, der eben gesprochen wird, sondern in abgestufter Stärke auch alles Vorangegangene; das einzelne Wort, der einzelne Saß hat ja als solcher gar keinen bestimmten Sinn, er wird verstanden nur dadurch, daß er als Teil dieses Ganzen, als Äußerung dieser Person bei dieser Gelegenheit gegen diese bestimmte andere Person aufgefaßt wird; ein Bewußtsein, das gleichzeitig immer nur eine Vorstellung fassen könnte, wäre überhaupt nicht fähig, eine Rede oder gar ein Stück zu fassen. Gleichzeitig sind in meinem Bewußtsein Gefühle mannigfachster Art, Gefühle der Spannung oder Langeweile, der Erhebung oder Mißachtung, der ästhetischen Befriedigung oder des Unbehagens; auch sie sind nicht

zwischen die Glieder der Wahrnehmungs- und Vorstellungsreihe eingesprengt, sondern bilden einen eigenen Zusammenhang, der bald stärker bald schwächer im Bewußtsein sich zur Geltung bringt. Den ständigen Hindergrund endlich dieses Spiels von Bewußtseinsvorgängen bildet eine Fülle von Berührungs- und Bewegungsempfindungen, wodurch ich der Lage, Stellung und Bewegung meines Leibes und seiner Teile inne werde. Begleitet sind sie von der nicht minder großen Fülle der Gemeingefühle, die zwar als einzelne kaum ins Bewußtsein kommen, in ihrer Gesamtheit aber als Gemeingefühl oder Lebensstimmung den Untergrund bilden, auf dem die ganze Gefühlswelt aufgetragen erscheint: Müdigkeit und Schlaffheit oder Frische und Elastizität, befriedigtes Behagen des ganzen Systems oder störende Gefühle der Hiße oder Kälte, der Erschöpfung oder der Übersättigung und Indisposition u. s. f.

Alles das ist gleichzeitig im Bewußtsein und dazu ist es begleitet von dem Bewußtsein, zu diesem individuellen Seelenleben zu gehören: ich weiß jederzeit um mich selbst, wer ich bin und woher ich komme, in welcher Stellung und Umgebung ich lebe, welche Aufgaben und Pflichten ich habe; nicht im einzelnen ist es eben Gegenstand der Aufmerksamkeit oder des Nachdenkens, aber doch ist es als ein immer bereites da, in jedem Bewußtseinsvorgang als das Ich sich selber gegenwärtig.

So stellt sich der Inhalt des Bewußtseins in jedem Augenblick dar: eine große Fülle von Elementen sind gleichzeitig bewußt, freilich nicht gleich bewußt; jederzeit steht eine eng begrenzte Gruppe als stärkstbewußte im Mittelpunkt, um sie gruppieren sich, anfangs mit rasch abnehmender Bewußtseinsstärke, die übrigen. Aber nur einen Augenblick dauert die Konstellation; das Bewußtseinsmaximum ist gleichsam beweglich, wie eine Welle läuft es über die Vielheit der Elemente hin, bald dieses bald jenes zum Gipfel hebend.

Man kann mit Wundt den Inhalt des Bewußtseins mit dem Inhalt des Sehfeldes vergleichen. Eine große Menge von Objekten ift gleichzeitig im Sehfeld, davon steht ein geringer Teil im Blickpunkt und wird mit größter Deutlichkeit gesehen, die übrigen werden auch gesehen, aber mit einer Deutlichkeit, die mit der Entfernung vom Blickpunkt abnimmt. Wenn man den Blick auf ein aufgeschlagenes

Buch richtet, so übersieht man das ganze Blatt mit seinen Zeichen, man sieht auch noch die Umgebung, den Tisch und die Gegenstände, die darauf liegen, bis schließlich am Rande des Sehfeldes (die Bilder der Dinge ganz verschwimmen. Aber auch das Blatt und seine Buchstaben sieht man nicht mit gleicher Deutlichkeit; firiert man das Auge auf einen bestimmten Buchstaben und versucht nun, ohne ihm Bewegung zu gestatten, die angrenzenden Buchstaben zu erkennen, so findet man, daß man kaum noch den dritten oder vierten nach beiden Seiten deutlich sieht. Die übrigen werden nur noch als unbestimmte Masse gesehen, man unterscheidet etwa noch einen großen Buchstaben als solchen, oder ein fett gedrucktes Wort, oder eine Halbzeile, kann aber die einzelnen Zeichen nicht mehr erkennen. Sich selbst überlassen, beharrt aber das Auge nicht auf einem Punkt; über die Zeilen hinfliegend, bringt es in schneller Folge die einzelnen Zeichen auf einen Augenblick auf den Punkt des deutlichsten Sehens und gewinnt so ein deutliches Bild des Ganzen."

Ähnlich ist es mit dem Bewußtsein. Auch hier haben wir ein weites Sehfeld, mit zahlreichen Elementen erfüllt, darin einen Blickpunkt, den in jedem Augenblick ein engbegrenzter Inhalt einnimmt; um ihn gruppieren sich die übrigen Inhalte, mit rasch abnehmender Deutlichkeit vorgestellt, bis sich am Rande die Umrisse verlieren; der Blickpunkt ist auch hier beweglich, er eilt über die Objekte hin, hebt eines nach dem andern heraus und gewinnt so die Anschauung des Ganzen. Auch das Mehr oder Minder von Helligkeit überhaupt, wie es für das Sehfeld bedingt ist durch die äußere Lichtquelle, die die Objekte beleuchtet, kehrt hier in den verschiedenen Intensitätsgraden des Bewußtseins überhaupt wieder.

7. Über das Wesen der Seele, ihre metaphysische Konstitution

und ihren Sit im Leibe.

In den Kreisen, die dem Materialismus nicht anhangen, ist etwa folgende Vorstellung von dem metaphysischen Wesen der Seele herrschend': die Seele ist eine einfache, unausgedehnte, immaterielle Substanz; als solche ist sie absolut beharrlich und unvergänglich; sie ist Träger von Kräften, wodurch sie die Bewußtseinsvorgänge bewirkt; endlich, sie hat an einem bestimmten Punkt des Gehirns ihren Sig, von dem sie mit

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