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erpressen. Das Fräulein aber machte ihre Schleierwolke noch dichter um sich her und gegenredete gar bescheidentlich also: Vermag eine Sterbliche dir zu widerstehen, Gebieter meines Herzens? Deine Standhaftigkeit hat obgesiegt. Nimm das Geständniss von meinen Lippen, aber lass mein Erröthen und meine Zähren diesen Schleier auffassen. Warum Zähren, o Geliebte? fiel der beunruhigte Geist ihr ein; jede deiner Zähren fällt wie ein brennender Naphthatropfen mir auf's Herz; ich heische Lieb um Liebe und will nicht Aufopferung. Ach, erwiderte Emma, warum missdeutest du meine Thränen? Mein Herz lohnt 10 deiner Zärtlichkeit; aber bange Ahnung zerreisst meine Seele. Das Weib hat nicht stets die Reize einer Geliebten ; du alterst nimmer; aber irdische Schönheit ist eine Blume, die bald dahin welkt. Woran soll ich erkennen, dass du der zärtliche, liebevolle, gefällige, duldsame Gemahl sein werdest, wie du als Liebhaber warest? Er antwortete: Fordre einen Beweis meiner Treue oder des Gehorsams in Ausrichtung deiner Befehle; oder stelle meine Geduld auf die Probe und urtheile daraus von der Stärke meiner unwandelbaren Liebe. Es sey also! beschloss die schlaue Emma, ich heische nur Einen Beweis deiner Gefälligkeit. Gehe hin und 20 zähl die Rüben alle auf dem Acker; mein Hochzeittag soll nicht ohne Zeugen seyn; ich will sie beleben, dass sie mir zu Kränzeljungfrauen dienen; aber hüte dich, mich zu täuschen, und verzähle dich nicht um Eine; denn das ist die Probe, woran ich deine Treue prüfen will.

So ungern sich der Gnom in diesem Augenblick von seiner reizenden Braut schied, so gehorchte er doch sonder Verzug, machte sich rasch an sein Geschäfte und hüpfte so hurtig unter den Rüben herum, wie ein französischer Lazaretarzt unter den Kranken, die er auf den Kirchhof zu spediren hat. Er war durch diese Geschäftig- 30 keit mit seinem Additionsexempel bald zu Stande; doch um der Sache recht gewiss zu seyn, wiederholte er die Operation nochmals und fand zu seinem Verdruss einen Varianten in der Rechnung, welcher ihn nöthigte, zum drittenmal den Rübenpöbel durchzumustern; aber auch diessmal ergab sich eine neue Differenz, und das war eben nicht zu verwundern: ein schöner Mädchenkopf kann den besten arithmetischen Hirnkasten verwirren, und selbst dem

infallibeln Kästner solls ehedem unter gleichen Umständen oft begegnet seyn, sich verrechnet zu haben.

Die verschmitzte Emma hatte ihren Getreuen nicht so bald aus den Augen verloren, als sie zur Flucht Anstalt machte. Sie hielt eine saftvolle, wohlgenährte Rübe in Bereitschaft, welche sie flugs in ein muthiges Ross mit Sattel und Zeug umwandelte. Rasch schwang sie sich in den Sattel, flog über die Heiden und Steppen des Gebirges dahin, und der flüchtige Pegasus wiegte sie ohne Straucheln auf seinem sanften Rücken hinab ins Maienthal, wo sie dem geliebten Ratibor, der der Kommenden ängstlich entgegen 10 harrte, sich fröhlich in die Arme warf.

Der geschäftige Gnom hatte sich indessen so in seine Zahlen vertieft, dass er von dem, was um und neben ihm geschah, so wenig wusste, als der kalkulirende Newton von dem geräuschvollen Siegesgepränge der Blindheimer Schlacht, das unter seinem Fenster vorüberzog. Nach langer Mühe und Anstrengung seiner Geisteskraft war es ihm endlich gelungen, die wahre Zahl aller Rüben auf dem Ackerfelde, klein und gross mit eingerechnet, gefunden zu haben. Er eilte froh zurück, sie seiner Herzensgebieterin gewissenhaft zu berechnen, und durch die pünktliche 20 Erfüllung ihrer Befehle sie zu überzeugen, dass er der gefälligste und unterwürfigste Gemahl seyn werde, den jemals Phantasie und Caprice einer Adamstochter beherrscht hat. Mit Selbstzufriedenheit trat er auf den Rasenplatz, aber da fand er nicht, was er suchte; er lief durch die bedeckten Lauben und Gänge, auch da war nicht, was er begehrte; er kam in den Palast, durchspähte alle Winkel desselben, rief den holden Namen Emma aus, den ihm die einsamen Hallen zurücktönten, begehrte einen Laut von dem geliebten Munde; doch da war weder Stimme noch Rede. Das fiel ihm auf, er merkte Unrath; flugs warf er das schwerfällige Phantom der 30 Verkörperung ab, wie ein träger Rathsherr seinen Schlafrock, wenn vom Thurme der Feuerwächter Lärm bläst, schwang sich hoch in die Luft und sah den geliebten Flüchtling in der Ferne, als eben der rasche Gaul über die Grenze setzte. Wüthend ballte der ergrimmte Geist ein Paar friedlich vorüberziehende Wolken zusammen und schleuderte einen kräftigen Blitz der Fliehenden nach, der eine tausendjährige Grenzeiche zersplitterte; aber jenseits derselben

war des Gnomen Rache unkräftig, und die Donnerwolke zerfloss in einen sanften Heiderauch.

... Das sonderbare Abenteuer der Prinzessin, das ihr auf dem Riesengebirge begegnet war, ihre kühne Flucht und glückliche Entrinnung wurde das Mährchen des Landes, pflanzte sich von Geschlechte zu Geschlechte fort bis in die entferntesten Zeiten, und die schlesischen Damen nebst ihren Nachbarinnen zur Rechten und Linken und vom Aufgang zum Niedergang fanden so vielen Geschmack daran, dass sie das Stratagem der schlauen Emma noch oft benutzen. Und die Inwohner der umliegenden Gegenden, 10 die den Nachbar Berggeist bei seinem Geisternamen nicht zu nennen wussten, legten einen Spottnamen auf, riefen ihn Rübenzähler oder kurzweg Rübezahl.

IMMANUEL KANT.

[Scherer D. 520, E. II. 136.]

Geboren 1724 als Sohn eines Sattlers in Königsberg, woselbst er auch studierte und den grössten Theil seines Lebens verbrachte. Seit 1755 lehrte er an der Universität, ward 1776 Bibliothekar, 1780 Professor der Logik und Metaphysik, 1781 erschien seine 'Kritik der reinen Vernunft', 1788 'Kritik der praktischen Vernunft', 1790 'Kritik der Urteilskraft'. Er 20 starb 1804. Die neueste Ausgabe seiner gesammelten Schriften veranstaltete v. Kirchmann, 8 Bde., mit Erläuterungen (Berlin 1868–73).

SÄTZE AUS Der GrundleGUNG ZUR METAPHYSIK DER SITTEN UND AUS DER METAPHYSIK DER SITTEN 2. THEIL.

Pflicht ist die Nothwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz.

Die Vorstellung eines objectiven Princips, so ferne es für einen Willen nöthigend ist, heisst ein Gebot (der Vernunft) und die Formel des Gebots heisst Imperativ.

Der kategorische Imperativ würde der seyn, welcher eine Hand

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lung als für sich selbst, ohne Beziehung auf einen andern Zweck, als objectiv-nothwendig vorstellte.

Endlich giebt es einen Imperativ, der, ohne irgend eine andere durch ein gewisses Verhalten zu erreichende Absicht als Bedingung zum Grunde zu legen, dieses Verhalten unmittelbar gebietet. Dieser Imperativ ist kategorisch. Er betrifft nicht die Materie der Handlung und das, was aus ihr erfolgen soll, sondern die Form und das Princip, woraus sie selbst folgt, und das Wesentlich-Gute derselben besteht in der Gesinnung, der Erfolg mag seyn, welcher er 10 wolle. Dieser Imperative mag der der Sittlichkeit heissen.

Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger, und zwar dieser handle nur nach derjenigen Maxime, durch die Du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.

VON DER MENSCHENLIEBE.

Liebe ist eine Sache der Empfindung, nicht des Wollens, und ich kann nicht lieben, weil ich will, noch weniger aber weil ich soll 20 (zur Liebe genöthigt werden); mithin ist eine Pflicht zu lieben ein Unding. Wohlwollen (amor benevolentiae) aber kann als ein Thun einem Pflichtgesetz unterworfen seyn. Man nennt aber oftmals ein uneigennütziges Wohlwollen gegen Menschen auch (obzwar sehr uneigentlich) Liebe; ja, wo es nicht um des Andern Glückseligkeit, sondern die gänzliche und freie Ergebung aller seiner Zwecke in die Zwecke eines anderen, (selbst eines übermenschlichen) Wesens zu thun ist, spricht man von Liebe, die zugleich für uns Pflicht sey. Aber alle Pflicht ist Nöthigung, ein Zwang; wenn er auch ein Selbstzwang nach einem Gesetz seyn sollte. Was 30 man aber aus Zwang thut, das geschieht nicht aus Liebe.

Anderen Menschen nach unserem Vermögen wohlzuthun, ist Pflicht; man mag sie lieben oder nicht, und diese Pflicht verliert nichts an ihrem Gewicht, wenn man gleich die traurige Bemerkung machen müsste, dass unsere Gattung leider! dazu nicht geeignet ist, dass, wenn man sie näher kennt, sie sonderlich liebenswürdig

befunden werden dürfte.-Menschenhass aber ist jederzeit hässlich, wenn er auch, ohne thätige Anfeindung, blos in der gänzlichen Abkehrung von Menschen (der separatistischen Misanthropie) bestände. Denn das Wohlwollen bleibt immer Pflicht, selbst gegen den Menschenhasser, den man freilich nicht lieben, aber ihm doch Gutes erweisen kann.

Das Laster aber am Menschen zu hassen ist weder Pflicht noch pflichtwidrig, sondern ein blosses Gefühl des Abscheues vor demselben, ohne dass der Wille darauf, oder umgekehrt dieses Gefühl auf den Willen einigen Einfluss hätte. Wohlthun ist Pflicht. Wer 10 diese oft ausübt, und die Absicht seines Wohlthuns gelingen sieht, kommt endlich wohl gar dahin, den, welchem er wohl gethan hat, wirklich zu lieben. Wenn es also heisst: du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst, so heisst das nicht; du sollst unmittelbar (zuerst) lieben und vermittelst dieser Liebe (nachher) wohlthun, sondern thue deinem Nebenmenschen wohl, und dieses Wohlthun wird Menschenliebe (als Fertigkeit der Neigung zum Wohlthun überhaupt) in dir bewirken !

Die Liebe des Wohlgefallens (amor complacentiae) würde also allein direct seyn. Zu dieser aber (als einer unmittelbar mit der zo Vorstellung der Existenz eines Gegenstandes verbundenen Lust) eine Pflicht zu haben, d. i. zur Lust woran genöthigt werden zu müssen, ist ein Widerspruch.

VON DER TUGEND ÜBERHAUPT.

Tugend bedeutet eine moralische Stärke des Willens. Aber dies erschöpft noch nicht den Begriff; denn eine solche Stärke könnte auch einem heiligen (übermenschlichen) Wesen zukommen, in welchem kein hindernder Antrieb dem Gesetze seines Willens entgegen wirkt; das also Alles dem Gesetz gemäss gerne thut. 30 Tugend ist also die moralische Stärke des Willens eines Menschen in Befolgung seiner Pflicht: welche eine moralische Nöthigung durch seine eigene gesetzgebende Vernunft ist, in so ferne diese sich zu einer das Gesetz ausführenden Gewalt selbst constituirt.-Sie ist nicht selbst, oder sie zu besitzen ist nicht Pflicht (denn sonst würde es eine Verpflichtung zur Pflicht geben müssen), sondern sie ge

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