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Vollbracht, vollbracht ist unser Lauf!

Das Hochzeitbette thut sich auf!

Die Toten reiten schnelle!

Wir sind, wir sind zur Stelle !'

Rasch auf ein eisern Gitterthor
Ging's mit verhängtem Zügel.

Mit schwanker Gert' ein Schlag davor
Zersprengte Schloss und Riegel.

Die Flügel flogen klirrend auf,
Und über Gräber ging der Lauf.
Es blinkten Leichensteine
Rund um im Mondenscheine.

Ha sieh! Ha sieh! im Augenblick,
Huhu! ein grässlich Wunder!

Des Reiters Koller, Stück für Stück,

Fiel ab, wie mürber Zunder.

Zum Schädel, ohne Zopf und Schopf,

Zum nackten Schädel, ward sein Kopf;
Sein Körper zum Gerippe,

Mit Stundenglas und Hippe.

Hoch bäumte sich, wild schnob der Rapp'

Und sprühte Feuerfunken;

Und hui! war's unter ihr herab

Verschwunden und versunken.

Geheul! Geheul aus hoher Luft,

Gewinsel kam aus tiefer Gruft.

Lenorens Herz, mit Beben,

Rang zwischen Tod und Leben.

Nun tanzten wohl bei Mondenglanz,

Rund um herum im Kreise,

Die Geister einen Kettentanz,

Und heulten diese Weise :

'Geduld! Geduld! Wenn's Herz auch 'bricht !

Mitt Gott im Himmel hadre nicht!

Des Leibes bist du ledig;

Gott sei der Seele gnädig!'

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JOHANN CASPAR LAVATER.

[Scherer D. 511, E. II .126.]

Geboren 1741 zu Zürich, wo er studierte und später als Prediger lebte. Er starb an einer Wunde, die er bei der Einnahme von Zürich 1801 durch einen französischen Soldaten erhielt. Ein Dichter von religiöser und patriotischer Gesinnung, namentlich aber als Gründer der Physiognomik bekannt. Seine Physiognomischen Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntniss und Menschenliebe' erschienen 1775-78; seine 'Sämmtlichen Werke' in 6 Bänden (Augsburg, 1836-38).

I.

PHYSIOGNOMISCHE FRAGMENTE.

SIEBENTES FRAGMENT.

VON DER WAHRHEIT DER PHYSIOGNOMIE.

ΤΟ

Einer der vornehmsten Zwecke meines Werkes ist, zu beweisen, darzuthun, fühlbar zu machen, dass es eine Physiognomie giebt; dass die Physiognomie Wahrheit, das ist, dass sie wahrer sichtbarer Ausdruck innerer an sich selbst unsichtbarer Eigenschaften ist. Da nun jede Zeile des ganzen Buches diesen Zweck mittelbar oder unmittelbar erreichen hilft, so werde ich also keine besondere ausführliche Abhandlung über die Wahrheit, und die innere objectivische Zuverlässigkeit der Physiognomieen voransetzen. Ich würde 20 darinn beynah alles das sagen müssen, was ich in den folgenden Bruchstücken, bey verschiedenen Beyspielen schicklicher, verständlicher und einleuchtender zu sagen Gelegenheit haben werde. Also hier nur einige vorläufige, vorbereitende-Gedanken. Alle Gesichter der Menschen, alle Gestalten, alle Geschöpfe sind nicht nur nach ihren Klassen, Geschlechtern, Arten, sondern auch nach ihrer Individualität verschieden.

Jede Einzelheit ist von jeder Einzelheit ihrer Art verschieden. Es ist die bekannteste, aber für unsere Absicht die wichtigste, die entscheidendste Sache, die gesagt werden kann: 'Es ist keine Rose 30 einer Rose, kein Ey einem Ey, kein Aal einem Aale, kein Löwe einem Löwen, kein Adler einem Adler, kein Mensch einem andern Menschen vollkommen ähnlich.'

Es ist diess, (damit wir nun bey dem Menschen stille stehn,) der erste, tiefste, sicherste, unzerstörbarste Grundstein der Physiognomik, dass bey aller Analogie und Gleichförmigkeit der unzähligen menschlichen Gestalten nicht zwo gefunden werden können, die, neben einander gestellt und genau verglichen, nicht merkbar unterschieden wären.

Nicht weniger unwidersprechlich ists, dass eben so wenig zween vollkommen ähnliche Gemüthscharacter, als zwey vollkommen ähnliche Gesichter zu finden sind.

Mehr sollte man nicht wissen dürfen, als diess-um es als eine 10 keines weitern Beweises bedürfende Wahrheit anzunehmen-'dass diese äussere Verschiedenheit des Gesichtes und der Gestalt mit der innern Verschiedenheit des Geistes und Herzens in einem gewissen Verhältnisse, einer natürlichen Analogie stehen müsse 'Was? die innere zugestandne Verschiedenheit des Gemüths aller Menschen, diese sollte von der, abermals zugestandnen, Verschiedenheit aller menschlichen Gesichter und Gestalten, diese von jener kein Grund seyn ?

Nicht von innen heraus soll der Geist auf den Körper, nicht von aussen herein soll der Körper auf den Geist wirken ?

Zorn schwillt zwar die Muskeln auf, aber aufgeschwollne Muskeln und ein zorniges Gemüthe sollen nicht als Wirkung und Ursache angesehen werden dürfen ?

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Feuerige, schnelle blitzähnliche Bewegung des Auges-und ein durchdringender Verstand und schneller Witz sollen zwar hundertmal beysammen gefunden werden; aber keine Beziehung auf einander haben? Sollen zufälliger Weise zusammen treffen? Zufall -soll's seyn, nicht natürlicher Einfluss, nicht unmittelbare wechselseitige Wirkung, wenn gerad in dem Augenblicke, da der Verstand tiefblickend, der Witz am geschäfftigsten ist, das Feuer, die 30 Bewegung oder Stellung der Augen ebenfalls sich am merklichsten verändert ?

Ein offnes, heiteres, uns gleichsam entgegenkommendes Auge, und ein offnes, heiteres, uns entgegen wallendes Herz sollen sich bey tausend Menschen zufälliger Weise beysammen finden, und keines des andern Wirkung und Ursache seyn ?

In allem soll die Natur nach Weisheit und Ordnung handeln,

allenthalben soll sich Ursachen und Wirkungen entsprechen-allenthalben soll man nichts sicherer wahrnehmen, als diess unaufhörliche Verhältniss von Wirkungen und Ursachen-und in dem schönsten, edelsten, was die Natur hervorgebracht hat-soll sie willkührlich, ohne Ordnung, ohne Gesetze handeln? Da, im menschlichen Angesichte, diesem Spiegel der Gottheit, dem herrlichsten aller ihrer uns bekannten Werke, da soll nicht Wirkung und Ursache, da nicht Verhältniss zwischen dem Aeussern und Innern, zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, zwischen Ursach und Wirkung statt haben?

Und das ists, was alle Bestreiter der Wahrheit der Physiognomie im Grunde behaupten.

Sie machen die Wahrheit selbst zur unaufhörlichen Lügnerinn; die ewige Ordnung zur willkührlichsten Taschenspielerinn, die immer etwas anders zeigt, als sie sehen lassen will.

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Der gesunde Menschenverstand empört sich in der That gegen einen Menschen, der behaupten kann: dass Newton und Leibnitz allenfalls ausgesehen haben könnten, wie ein Mensch im Tollhause, der keinen festen Tritt, keinen beobachtenden Blick thun kann; und nicht vermögend ist, den gemeinsten abstrakten Satz zu be- 20 greifen, oder mit Verstand auszusprechen; dass der eine von ihnen im Schädel eines Lappen die Theodicee erdacht, und der andere im Kopfe eines Labradoriers, der weiter nicht, als auf sechse zählen kann, und was drüber geht, unzählbar nennt, die Planeten gewogen und den Lichtstral gespaltet hätte ?

Der gesunde Menschenverstand empört sich gegen eine Behauptung wie diese: ein starker Mensch könn' aussehen, wie ein schwacher; ein vollkommen gesunder, wie ein vollkommen schwindsüchtiger; ein feuriger, wie ein sanfter und kaltblütiger. Er empört sich gegen die Behauptung: Freude und Traurigkeit, Wollust 30 und Schmerz, Liebe und Hass, hätten dieselben, das ist, gar keine Kennzeichen im Aeusserlichen des Menschen; und das behauptet der, der die Physiognomik ins Reich der Träumereyen verbannet. Er verkehrt alle Ordnung und Verknüpfung der Dinge, wodurch sich die ewige Weisheit dem Verstande so preiswürdig macht.

Man kann es nicht genug sagen, die Willkührlichkeit ist die Philosophie der Thoren, die Pest für die gesunde Naturlehre,

Philosophie und Religion. Diese allenthalben zu verbannen, ist das Werk des ächten Naturforschers, des ächten Weltweisen, und des ächten Theologen.

Ich habe schon gesagt, dass ich mir in diesem Fragmente nicht selber vorgreifen wolle; aber folgendes muss ich noch sagen.

Alle Menschen, (so viel ist unwidersprechlich,) urtheilen in allen, allen, allen-Dingen nach ihrer Physiognomie, ihrer Aeusserlichkeit, ihrer jedesmaligen Oberfläche. Von dieser schliessen sie durchgehends, täglich, augenblicklich auf ihre innere Beschaffenheit. Ich muss die allertäglichsten Dinge sagen, um eine Sache 10 zu beweisen, die so wenig Beweise bedürfen sollte, als unsere Existenz. Aber, ich muss den Schwachen schwach, fast möcht' ich sagen, den Thoren ein Thor werden, um der Wahrheit willen.

Welcher Kaufmann in der Welt beurtheilt die Waaren, die er kauft, wenn er seinen Mann noch nicht kennt, anders, als nach ihrer Physiognomie? Anders, als nach dieser, wenn er sie auf den Mann hin gekauft hat, und seiner Erwartung gemäss, oder anders, als seine Erwartung findet? Beurtheilt er sie anders, als nach ihrer Farbe? Ihrer Feinheit? Ihrer Oberfläche? Ihrer Aeusserlichkeit? Ihrer Physiognomie? Alles Geld nach seiner Physio- 20 gnomie? Warum nimmt er den Einen Louisd'or an, wirft den andern weg? Warum wiegt er den dritten auf der Hand? Um seiner bleichern oder röthern Farbe, seines Gepräges, seiner Aeusserlichkeit, seiner Physiognomie willen ?-Kommt ein Unbekannter, der inm etwas verkaufen, oder abkaufen will, auf sein Comtoir, wird er ihn nicht ansehen? Nichts auf sein Gesicht rechnen? Wird er nicht, kaum mag er weg seyn, ein Urtheil über ihn fällen? 'Der Mann hat ein ehrliches Gesicht'; oder: 'Er hat ein schlimmes Paar Augen'; oder: 'Er hat was Widriges oder Einnehmendes?' - Urtheil' er richtig, oder unrichtig, was thuts zur Sache? Er 30 urtheilt. Er urtheilt nicht ganz, aber doch zum Theil von dem Aeussern des Menschen. Er macht daraus einen Schluss auf sein Inneres.

Der Bauer, der durch seine Felder, oder durch seinen Weinberg geht, bestimmt seine Hoffnung, wornach? Nach der Farbe, Grösse, Stellung, Aeusserlichkeit-nach der Physiognomie des blühenden Saamens, der Halmen, der Aehren, des Weinstocks, der Reben:

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