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So wird dein starker Fuss mein Bein,
Mein helles Auge deines seyn.

Der Lahme hängt, mit seinen Krücken,
Sich auf des Blinden breiten Rücken.
Vereint wirkt also dieses Paar,

Was einzeln keinem möglich war.

Du hast das nicht, was andre haben,
Und andern mangeln deine Gaben;
Aus dieser Unvollkommenheit
Entspringet die Geselligkeit.

Wenn jenem nicht die Gabe fehlte,
Die die Natur für mich erwählte :
So würd er nur für sich allein,

Und nicht für mich, bekümmert seyn.

Beschwer die Götter nicht mit Klagen!
Der Vortheil, den sie dir versagen

Und jenem schenken, wird gemein,
Wir dürfen nur gesellig seyn.

ΤΟ

2.

DIE GESCHICHTE VON DEM HUTE.
DAS ERSTE BUCH.

Der Erste, der mit kluger Hand

Der Männer Schmuck, den Hut, erfand,
Trug seinen Hut unaufgeschlagen,

Die Krempen hingen flach herab;

Und dennoch wusst' er ihn zu tragen,

Dass ihm der Hut ein Ansehn gab.

Er starb und liess bei seinem Sterben
Den runden Hut dem nächsten Erben.
Der Erbe weiss den runden Hut
Nich recht gemächlich anzugreifen.
Er sinnt und wagt es, kurz und gut,
Er wagt's, zwo Krempen aufzusteifen.
Drauf lässt er sich dem Volke sehn.

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Das Volk bleibt vor Verwundrung stehn
Und schreit: 'Nun lässt der Hut erst schön!'
Er starb und liess bei seinem Sterben
Den aufgesteiften Hut dem Erben.
Der Erbe nimmt den Hut und schmählt.
'Ich', spricht er, 'sehe wohl, was fehlt!'
Er setzt darauf mit weisem Muthe

Die dritte Krempe zu dem Hute.
'O!' rief das Volk, der hat Verstand!
Seht, was ein Sterblicher erfand!
Er, er erhöht sein Vaterland!'

Er starb und liess bei seinem Sterben
Den dreifach spitzen Hut dem Erben.
Der Hut war freilich nicht mehr rein;
Doch sagt, wie konnt' es anders sein?
Er ging schon durch die vierten Hände.

Der Erbe färbt' ihn schwarz, damit er was erfände.
'Beglückter Einfall!' rief die Stadt;

'So weit sah keiner noch, als der gesehen hat. Ein weisser Hut liess lächerlich;

Schwarz, Brüder, schwarz! so schickt es sich!'

Er starb und liess bei seinem Sterben
Den schwarzen Hut dem nächsten Erben.
Der Erbe trägt ihn in sein Haus,
Und sieht, er ist sehr abgetragen.

Er sinnt und sinnt das Kunststück aus,
Ihn über einen Stock zu schlagen.
Durch heisse Bürsten wird er rein;
Er fasst ihn gar mit Schnüren ein.
Nun geht er aus, und alle schreien:
'Was sehn wir? Sind es Zaubereien?
Ein neuer Hut!-O glücklich Land,
Wo Wahn und Finsterniss verschwinden!
Mehr kann kein Sterblicher erfinden,

Als dieser grosse Geist erfand!'

Er starb und liess bei seinem Sterben
Den umgewandten Hut dem Erben.

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Erfindung macht die Künstler gross
Und bei der Nachwelt unvergessen.
Der Erbe reisst die Schnüre los,
Umzieht den Hut mit goldnen Tressen,
Verherrlicht ihn durch einen Knopf

Und drückt ihn seitwärts auf den Kopf.

Ihn sieht das Volk und taumelt vor Vergnügen.

'Nun ist die Kunst erst hoch gestiegen!

Ihm', schrie es, 'ihm allein ist Witz und Geist verliehn!

Nichts sind die andern gegen ihn!'

Er starb und liess bei seinem Sterben

Den eingefassten Hut dem Erben;
Und jedesmal ward die erfundne Tracht
Im ganzen Lande nachgemacht.

[Ende des ersten Buches.]

Was mit dem Hute sich noch ferner zugetragen,

Will ich im zweiten Buche sagen.

Der Erbe liess ihm nie die vorige Gestalt,

Das Aussenwerk ward neu; er selbst, der Hut, blieb alt;

Und dass ich's kurz zusammenzieh'

Es ging dem Hute fast, wie der-Philosophie.

2.

DIE GÜTE GOTTES.

Wie gross ist des Allmächtgen Güte! Ist der ein Mensch, den sie nicht rührt?

Der mit verhärtetem Gemüthe

Den Dank erstickt, der ihm gebührt?
Nein, seine Liebe zu ermessen,

Sey ewig meine grösste Pflicht.

Der Herr hat mein noch nie vergessen; 'Vergiss mein Herz auch seiner nicht.

Wer hat mich wunderbar bereitet?

Der Gott, der meiner nicht bedarf.
Wer hat mit Langmuth mich geleitet?

Er, dessen Rath ich oft verwarf.

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Wer stärkt den Frieden im Gewissen ?
Wer giebt dem Geiste neue Kraft?
Wer lässt mich so viel Glück geniessen?
Ists nicht sein Arm, der alles schafft?
Schau, o mein Geist, in jenes Leben,
Zu welchem du erschaffen bist;
Wo du, mit Herrlichkeit umgeben,
Gott ewig sehn wirst, wie er ist.

Du hast ein Recht zu diesen Freuden;

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Durch Gottes Güte sind sie dein.

Sieh, darum musste Christus leiden,
Damit du könntest selig seyn !

Und diesen Gott sollt ich nicht ehren?

Und seine Güte nicht verstehn?

Er sollte rufen, ich nicht hören?

Den Weg, den er mir zeigt, nicht gehn?
Sein Will ist mir ins Herz geschrieben,
Sein Wort bestärkt ihn ewiglich.

Gott soll ich über alles lieben,

Und meinen Nächsten gleich als mich.

Diess ist mein Dank, diess ist sein Wille,

Ich soll vollkommen seyn, wie er.

So lang ich diess Gebot erfülle,

Stell ich sein Bildniss in mir her.

Lebt seine Lieb in meiner Seele :

So treibt sie mich zu jeder Pflicht;
Und ob ich schon aus Schwachheit fehle,
Herrscht doch in mir die Sünde nicht.
O Gott, lass deine Güt und Liebe

Mir immerdar vor Augen seyn!
Sie stärk in mir die guten Triebe,

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Mein ganzes Leben dir zu weihn;

Sie tröste mich zur Zeit der Schmerzen ;

Sie leite mich zur Zeit des Glücks;

Und sie besieg in meinem Herzen
Die Furcht des letzten Augenblicks.

MAGNUS GOTTFRIED LICHTWER.

[Scherer D. 447, E. II. 58.]

1719 geboren zu Wurzen; Privatdocent in Wittenberg; starb 1783 als Regierungsrath zu Magdeburg. Seine Vier Bücher Äsopischer Fabeln in

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Rebundener Schreib-Art' erschienen 1748. Chrdinace no late.

DIE KATZEN UND DER HAUSHERR.

Thier' und Menschen schliefen feste,
Selbst der Hausprophete schwieg,
Als ein Schwarm geschwanzter Gäste
Von den nächsten Dächern stieg.

In dem Vorsaal eines Reichen
Stimmten sie ihr Liedchen an,
So ein Lied, das Stein' erweichen,
Menschen rasend machen kann.

Hinz, des Murners Schwiegervater,
Schlug den Takt erbärmlich schön,
Und zween abgelebte Kater
Quälten sich, ihm beizustehn.

Endlich tanzten alle Katzen,
Poltern, lärmen, dass es kracht,
Zischen, heulen, sprudeln, kratzen,
Bis der Herr im Haus erwacht.

Dieser springt mit einem Prügel

In dem finstern Saal herum,

Schlägt um sich, zerstösst den Spiegel,
Wirft ein Dutzend Schaalen um.

Stolpert über ein'ge Späne
Stürzt im Fallen auf die Uhr,

Und zerbricht zwo Reihen Zähne ;

Blinder Eifer schadet nur!

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