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Als Hartmann diese Worte schrieb, war er selbst ein Landesverwiesener, der eine Freistätte am Genfer See gefunden hatte, und die unter Deutschlands und Österreichs besten Männern, welche die Niederlage überlebt hatten, waren entweder gefangen oder verbannt, wie er.

Das Jahr 1848 bekam keine entscheidende politische Bedeutung, obgleich Europa in diesem Jahr zum erstenmal die alte Weltordnung fast gleichzeitig in allen Ländern schwanken sah. Während die lokalen Revolutionen der Jahre 1789 und 1830, welche spätere Folgen sie auch hatten, Revolutionen waren, welche glückten, war die allgemeine europäische Revolution von 1848 ein in allen Ländern mißglückter Versuch!

Aber das Jahr 1848 hat eine entscheidende geistige Bedeutung. Es wird in Europa nach diesem Jahr anders gefühlt, gedacht und geschrieben als vorher. Dieses Jahr ist die rote Trennungslinie, welche unser Jahrhundert litterarisch teilt und Epoche macht. Es war ein Jubeljahr, wie das, welches die alte hebräische Gesetzgebung für jedes fünfzigste Jahr stiftete, das, in welchem über das ganze Land mit Posaunen geblasen, welches heilig gehalten und in welchem „Freiheit im Lande für alle, die darin wohnen“ ausgerufen werden sollte. (Drittes Buch Moses 25, 8 flg.) Es war — dieses Jahr mit seinem schnellen Pulsschlag, mit seiner alles beherrschenden Jugendlichkeit wie jenes biblische Jubeljahr ein Jahr der Zurückerwerbung, der Einlösung, wo die, welche verkauft waren, losgekauft wurden". Noch heutzutage ist Jugend aus seinen Märztagen, Erfahrung aus seinen Novembertagen zu schöpfen.

Es ist das Jubeljahr, das Trauerjahr, das Grenzjahr.

XXX

Es ist ein großes Gemälde, das sich während des Studiums der oppositionellen, schließlich revolutionären Gefühle und Gedanken in Deutschland vom Jahre 1815–1848 vor unseren Augen entrollt hat. Wir sehen den Geist Metternichs in seiner Leere über Österreich und Deutschland brüten. Wir haben die geistige Bewegung vom erstenmale an, wo sie beim Feste auf der Wartburg 1817 zum Ausdruck gelangt, verfolgt; wir haben gesehen, wie die Ermordung Kozebues zum Verfolgungskrieg gegen den Liberalismus und zu einer langwierigen, rücksichtslosen Reaktion und Unterdrückung Anlaß giebt. Unter dem Einflusse dieser Strömung wird Goethe als freiheitsfeindlicher Quietist aufgefaßt, gepriesen oder angegriffen, und die deutsche Philosophie unter Hegels Auspizien konservativ, wenn schon auf zweideutige Weise. Die oppositionelle Grundstimmung kommt mitunter, nicht allzu langatmig, zu Worte bei Dichtern wie Chamisso, Platen und Heine, aber im allgemeinen herrscht ein Zustand tiefer Niedergeschlagenheit, von Selbstironie durchzogen. In dieses Stillestehen hinein fällt die Nachricht von der Julirevolution von 1830 und wirkt elektrisierend auf das öffentliche Bewußtsein, giebt den Schriftstellern und Dichtern neuen Mut und eine neue Inspiration. Die Erinnerung an Byrons Leben und Tod fügt sich harmonisch mit diesem Eindruck zusammen, und der polnische Aufstand erweckt Mitgefühl und Begeisterung troz Deutschlands Anteil an dem Untergang Polens. Börne wird der hervorragende Für

sprecher der freien Ideen in der Politik, er hält die Liebe zur Freiheit und zur Gerechtigkeit aufrecht, er zeigt sich durch Festigkeit und Ernst der Überzeugung als ein Muster, legt aber einen naiven und fanatischen Optimismus an den Tag, der beweist, daß er nichts von dem Naturell eines Staatsmannes in sich hat. In Heine, dem größten Dichter des Zeitalters, vibrieren alle seelischen Fibern desselben. In ihm entwickelt sich aus den Windeln der Romantik die moderne Poesie. In der Erotik, in der Naturschilderung, in politischer, sozialer und religiöser Gefühlsweise, in malerischem, dichterischem und satirischem Stil ist er der moderne Mensch, mehr als irgend jemand - wie hervorgehoben wurde - dazu geeignet, mit dem modernen Leben in dessen Härte und Häßlichkeit, dessen Reiz und Unruhe und Reichtum an schneidenden Kontrasten, anzubinden. Auf eine andere, doch verwandte Art bildet gleichzeitig Immermann durch seine vorzüglichste Schöpfung den Übergang zu einer naturtreueren Kunst als derjenigen der vorhergehenden Periode. Die Julirevolution hatte indessen nicht nur den öffentlichen Ton und die litterarische Stimmung, sondern auch den Charakter der Hegelschen Philosophie verändert. Von nun an wird sie als eines der in die Umformung des Lebens am stärksten eingreifenden Elemente ausgelegt; die Jugend zieht reformatorische oder revolutionäre Folgerungen aus der Lehre des bei seinem Tode so konservativen Meisters. Und nun erscheint unter dem Eindrucke von dem dröhnenden Widerhall der Julirevolution, von Hegels Philosophie und Goethes Poesie, die als eine antikirchliche Macht aufgefaßt wird, mit Heine und Börne als Meistern, mit George Sand und Rahel als Musen, eine Gruppe junger Schriftsteller, welche bald als das junge Deutschland bezeichnet wird. Sie wollen die Litteratur mit dem Leben verschmelzen. Sie verlangen nach einer Auflösung des herrschenden Herkommens in Religion und Moral, nach freieren Formen der Vereinigung und Trennung der beiden Geschlechter und nach einer neuen pantheistischen Religiosität.

Als Menzel im Jahre 1835 sie der Staatsgewalt denunziert, wird dies zum Signal einer neuen Reihe von Verfolgungen gegen alles, was man in der damaligen Zeit mit unter den Begriff von Bewegungslitteratur rechnete. Nur wenige unter den Persönlichkeiten des jungen Geschlechtes erwiesen sich bei diesen Prüfungen als Charaktere. Aber unter der Verfolgung entwickelten sich sowohl die großen Talente (wie Guzkow), die kleineren (wie Laube), wie die ganze Schar ihrer Nachfolger. Es werden Bücher verfaßt, die in verschiedenen Formen die Hoffnungen und Kämpfe des Zeitalters, die Gedanken und Gefühle, die Versuchungen, die Fehltritte und die Siege der Persönlichkeiten genau abspiegeln.

Doch das, was sich in den Jahren von 1830 bis 1840 in den deutschen Gemütern innerlichst vollzog, ist, daß Goethes Weltanschauung und Poesie, von Anfang an ausschließlich von begeisterten Frauen verfochten, bei allen Entwickelten durchdringt, sie unempfänglich gegen theologische Eindrücke und empfänglich für alles wertvoll Menschliche macht. Der Goethekultus führt selbst in den Frauengemütern zu dem Kultus der politischen Freiheit und der sozialen Reform hinüber.

Ums Jahr 1840 beginnt die deutsche Philosophie sich in radikaler Richtung zu entwickeln und die Dichter fangen an, der politischen Freiheit direkt den Weg zu bahnen. Das Geschlecht, welches nun auftritt, verdankt wiederum Hegel seine philosophische Bildung, aber sie hat dessen Lehre zu einer Schule gottverleugnender Gotteserklärung und eine die Alleinherrschaft bekämpfenden Politik umgestaltet. Die neue Generation verwirft den Standpunkt des jungen Deutschland als viel zu' belletristisch, sie beschäftigt sich lebhaft mit dem Wesen des Christentumes und der Idee des Staates.

In Preußen herrscht nun ein König von sehr zusammengeseztem Naturell und reicher Begabung, eine Übergangsgestalt zwischen der älteren und der neueren Zeit, deren Persönlichkeit in

ihrem Verhältnis zur Litteratur und zum Geistesleben des Zeitalters von großem Interesse ist. Wie Metternich im Süden, so beherrscht Friedrich Wilhelm der Vierte im Norden Deutschlands die äußeren Begebenheiten. Wir sehen die litterarischen und politischen Charaktere an ihn herangezogen werden, mit ihm zusammenstoßen und zurückprallen. Die älteren invaliden Talente, wie Tieck und Schelling, verleben ihre lezten Tage in seiner Nähe. Herwegh und Freiligrath werden angezogen und abgestoßen, Jacoby bekämpft ihn und Dingelstedt verspottet ihn. Und nun folgen wir der Entwickelung der politischen Lyrik von ihrem Stammvater Anastasius Grün bis zu Herwegh und Dingelstedt und beobachten, wie tief ein Denker wie Ludwig Feuerbach in das Gedankenleben seiner Zeitgenossen eingreift.

Geister wie Freiligrath und Pruz, Sallet und Hartmann sind schließlich wie Sturmvögel, welche den Sturm verkünden; und zur Zeit der europäischen Umwälzung von 1848 hören wir den Gesang einzelner großer Lyriker das Toben des politischen Orkans übertäuben, während die überwältigenden Begebenheiten gleichzeitig eine Anzahl geringerer oder noch nicht entwickelter Talente zu Organen des großen Augenblicks machen.

Wir haben, indem wir dieses Stück Geistesgeschichte studierten, Anlaß gehabt, bei einer ganzen Galerie eigentümlicher Gestalten zu verweilen und uns gründlich in die bedeutungsvollsten und typischsten derselben zu vertiefen.

Wir sahen, wie die große, der Vergangenheit angehörende Persönlichkeit Napoleons, von der Legende umgedichtet, zu Anfang der Periode einen fast ebenso mächtigen Einfluß auf das Gefühlsleben ausübte wie diejenige Byrons. Von den großen Geistern des achtzehnten Jahrhunderts sind Goethe, Jean Paul, Heinse, Hegel die, von denen die am leichtesten nachweisbare Beeinflussung ausgeht. Die Romantiker wirken teils als Lehrer und Meister (Wilh. Schlegel, Brentano, Chamisso), teils als Gegner (Tieck) auf die Empor

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