Über den Ursprung dieser Vorurteile erhalten wir von Johnson selbst oder seinen Zeitgenossen keinen Aufschluß. Eine naheliegende psychologische Beantwortung dieser Frage vermag uns jedoch „London" zu geben. Wie Juvenal in seiner dritten Satyre, auf der „London" beruht, die Griechen als die Urheber der Verderbtheit Roms bezeichnet, so schreibt Johnson den Franzosen den nachteiligsten Einfluß auf die Engländer zu. In den Franzosen, von denen er in den moralischen Zeitschriften Addisons und Steeles gelesen haben mochte, daß sie die vornehme englische Gesellschaft unheilvoll beeinflußten denn aus eigener Anschauung kannte er damals weder die einen noch die andere —, in diesen „Schmaroßern" findet er einen treff= lichen Blizableiter für den bittern Groll über seine Zeit, die, wie er ausführt, völlig durchseucht ist von allen Lastern, in der Tugend nichts mehr gilt und wahres Verdienst sich vergebens abmüht, in die Höhe zu kommen. An all' diesem Unglück, das ihm London, „die Abzugskloake von Paris“, so zuwider macht, sind einzig und allein die Franzosen schuld. Sie, die allen Lastern huldigen, sind somit die indirekte Ursache, daß auch er tro allen ehrlichen, geraden Strebens keine Anerkennung finden kann, nur weil es ihm unmöglich ist, zu schmeicheln und zu lügen, nur weil er arm ist. Solche Überlegungen bewegten damals das überreizte Gemüt Johnsons, dessen Jugendillusionen von stets siegreicher Tugend und stets belohntem Verdienst in der Großstadt die erste herbe Enttäuschung erlitten. Es läßt sich verstehen, daß sich zu jener Zeit die Verachtung und der Haß gegen die Franzosen so tief in die Seele des hungernden Dichters einfreffen konnte, - daß keine spätere Überlegung, keine gegenteilige Erfahrung diese früh ge= faßte Abneigung zu tilgen imstande war. Damit soll nicht gesagt sein, daß ihm der Ursprung seiner Geringschätzung selbst so bestimmt zum Bewußtsein gekommen ist; vielmehr wird es sich damit ähnlich verhalten, wie bezüglich seiner Vorurteile gegen die Schotten: ihr Entstehen wird ihm selbst nicht klar gewesen sein. Aber die ganze Stimmung in London" läßt die eben dargelegte Analyse seines damaligen Gemütszustandes doch berechtigt erscheinen. In London" wirft er den Franzosen alle erdenklichen Laster vor; besonders beschuldigt er sie der Schmeichelei, Kriecherei, Heuchelei und Schauspielerei, die sie nach England gebracht hätten (XI 324 ff.) An anderer Stelle spricht er von ihrer angeborenen Unverschämtheit" (Bosw. 176). Eine weitere wenig empfehlenswerte Eigenschaft, die er ihnen beilegt, ist die Grimassenschneiderei, die nach seiner Vorstellung so schrecklich ist, daß er sich die Furcht der englischen Soldaten vor den Franzosen es handelt sich dabei um den Krieg, den England damals mit Frankreich in Amerika führte satyrisch zum großen Teil aus dieser Angewohnheit ihrer Feinde erklärt. Um daher die Engländer an die Grimassen ihrer Feinde zu ge= wöhnen, solle man „den französischen Gefangenen erlauben zu grinsen“ (Id. 8, VIII 33, vgl. auch XI 170). Seine Meinung von den Franzosen wurden durch die Pariser Reise im Jahre 1775 noch verschlechtert durch einige persönliche Beobachtungen. Er wirft ihnen nun auch noch Unsauberkeit und Unanständigkeit vor, während er vorher ihre Beachtung des „sçavoir vivre“ (R. 98, VI 173) rühmend hervorgehoben hatte. Mit Widerwillen erwähnt er mehrmals die Angewohnheit, auf den Boden zu spuden: The French are an indelicate people, they will spit upon any place (Bosw. 264). The French are a gross, ill-bred, untaught people, a lady will spit on the floor and rub it with her foot (Bosw. 400, vgl. ebenso Bosw. 503). Auch von ihrer Kochkunst ist er sehr wenig befriedigt, was er öfters hervorhebt (Their meals are gross Bosw. 259, vgl. ferner Bosw. 264; Misc. I 216); be= sonders aber entsegt er sich über das Essen von Fröschen (X 387, Misc. I 183). In seinen Zeitschriften bekämpfte Johnson den französischen Einfluß auf das gesellschaftliche Leben der höheren Kreise, in denen mehr Gewicht auf äußere Umgangsformen als auf eine gründliche Bildung gelegt werde, so daß der französische Tanzlehrer dem gewissenhaften englischen Hauslehrer vorgezogen werde (vgl. R. 130, VI 381, R. 132, VI 393, R. 194, VII 310, R. 195, VII 321, Id. 65, VIII 259). Über die Pariser Reise selbst (Bosw. 259 ff.) ist nicht viel zu sagen, da sie in literarischer Hinsicht überhaupt von keiner Bedeutung ist. Carlyle charakterisiert Johnsons Pariser Erlebnisse ganz treffend mit den Worten: Observe too what it is that he sees in the city of Paris: no feeblest glimpse of those D'Alemberts and Diderots, or of the strange questionable work they did; solely some Benedictine Priests, to talk kitchenlatin with them about ,,Editiones Principes" (Carlyle IV 103). Wenn wir vorwegnehmen, daß Johnson einmal mit dem Journalisten Fréron (1719--1776), dem Gegner Voltaires, zusammentraf, der, wie Johnson in seinem Tagebuch vermerkt, „sehr wenig Latein konnte, der ihn aber troßdem verstanden zu haben schien" (Bosw. 260); daß er mit Eifer in der Bibliothek des Benediktiner Klosters herumstöberte und einmal eine Bibel ent= deckte, die noch mit hölzernen Buchstaben gedruckt war, so ist alles gesagt, was über Johnsons literarische Errungenschaften während seines zweimonatlichen Aufenthaltes in Frankreich anzuführen ist. Allerdings besuchte er einmal das Theater, in dem ein Lustspiel gegeben wurde, von dem er aber „nichts sah, noch hörte“ (Bosw. 261). Als er nach England zurückgekehrt war, behauptete er, er sei in Paris nicht ins Theater gegangen, weil er die Schauspieler verachte; sie seien nicht besser als „tanzende Hunde“ (Bosw. 264). Im übrigen scheint er sich ganz der Führung der Familie Thrale anvertraut zu haben, mit der er alle Sehenswürdigkeiten von Paris besichtigte. Dabei scheint die Pracht der Paläste und Kirchen einigen Eindruck auf ihn gemacht zu haben. Größeres Interesse brachte er den sozialen Verhältnissen entgegen, der Einrichtung von Kranken- und Armenhäusern, Gefängnissen, der Verpflegung elternloser Kinder; am besten scheint er sich aber mit den wilden Tieren in den Menagerien, die sich damals die Großen Frankreichs hielten, unterhalten zu haben: sorgsam notierte er alles mögliche Getier, für das Boswells zoologische Kenntnisse nicht ausreichten und dessen Aufzählung ihm daher wegen der schlechten Schrift Johnsons große Mühe bereitete. Mit den Menschen selbst aber ist Johnson in keine Verbindung getreten; er wandelte völlig fremd unter Fremden, weshalb er auch mit ihrer Eigenart durchaus nicht vertraut wurde. In einem Brief aus Frankreich schrieb er, daß er daselbst keine Bekanntschaften geschlossen habe (Bosw. 258), und nach seiner Rückkehr sagte er zu Boswell, daß er mit den Franzosen selbst nicht in nähere Berührung gekommen sei (Bosw. 246), was sich um so besser verstehen läßt, wenn man erfährt, daß Johnson in Paris fast nur lateinisch sprach, da ihm, wie Boswell bemerkt, die Aussprache des Französischen schwer fiel (Bosw. 264; vgl. auch Bosw. 259). - Seine Eindrücke, die er mit nach Hause brachte, faßte er kurz in folgenden Äußerungen zusammen. Paris sei keine so feine Stadt als man erwarten sollte, das Leben scheine ihm dort nicht behaglich und angenehm zu sein (Bosw. 258). In Frankreich gäbe es nur Reiche und Arme, während der Mittelstand gänzlich fehle (Bosw. 259, 261, 264, X 170 Misc. II 289) es war das 15 Jahre vor dem Ausbruch der französischen Revolution. Frankreich sei in allem noch schlechter als Schottland außer im Klima (Bosw. 264), dem er einen wohltuenden Einfluß auf seine Gesundheit zuschrieb (Bosw. 259, 263). Und sein Gesamturteil über den Nußen dieser Reise lautete: What I gained by being in France was learning to be better satisfied with my own country (Bosw. 400). So urteilte Johnson selbst über die Bedeutung seiner Reise nach Frankreich, die auf seine Stellung zu Land und Leuten kaum irgend welchen Einfluß ausübte. Johnson war bereits 65 Jahre alt, als er die Reise unternahm, und in diesem Alter pflegen die Menschen ihre Anschauungen nicht mehr zu ändern, besonders nicht ein Mann wie Johnson, der stets sehr zäh festhielt an einmal gefaßten Vorurteilen. Diese Verachtung der Franzosen, die er nach der Mitteilung der Miß Reynolds, der Tochter des Malers, auch nach seinem Aufenthalt in Frankreich als „rückständige, stupide und unwissende Geschöpfe" bezeichnete (behind hand, stupid and ignorant creatures Misc. II 289; vgl. auch Bosw. 400), paart sich mit einer großen Bewunderung der französischen Literatur, die er vom Zeitalter der Renaissance an mit Lust und Eifer studiert hat. Man wird das in gewisser Hinsicht unvereinbar finden; denn schließlich können das doch keine so völlig stupiden Geschöpfe sein, die nach seiner eigenen Ansicht die Träger einer hohen, vielseitigen Geisteskultur sind. Die Verehrung der Literatur muß doch notwendigerweise auch eine Verehrung der Menschen mit sich bringen, die diese Literatur schufen. Bei Johnson war das Bestehen eines solchen Widerspruches jedoch durchaus möglich; er dachte nicht daran, ihn auszugleichen, „er lachte eher darüber" (Misc. II 226). Es darf aber auch nicht vergessen werden, daß diese widerspruchsvolle Beurteilung seinen Zeitgenossen weniger auffallen mußte als uns heutzutage; denn nach klassi= zistischer Auffassung war die Literatur nicht der Ausdruck des Charakters, der Denk- und Anschauungsweise eines Volkes. In der französischen Literatur sollte sich die französische Eigenart ebensowenig offenbaren wie in der englischen die Besonderheit der Engländer. War es doch das Verlangen der Klassizisten und somit auch das Johnsons -, daß in der Literatur jedes Individuelle, jedes Besondere, jedes Nationale unterdrückt werden sollte, damit der allgemeine Geist der Menschheit um so reiner und abgeklärter zum Ausdruck komme. Die französischen Sitten, Gewohnheiten und Lebensauffassungen offenbaren den Franzosen, die französische Literatur aber zeigt nur den Menschen. So konnte es kommen, daß Johnson die Franzosen als Volk geringschäßte, die französischen Autoren aber verehrte und liebte, obwohl auch ihnen gegenüber seine englischen Vorurteile oft genug zur Geltung kommen. II. Johnsons Urteil über die franzöfifche Literatur im allgemeinen und über verschiedene ihrer Erscheinungsformen. 1. Johnson über die französische Literatur im allgemeinen. Johnson ist einer der leßten englischen Schriftsteller des 18. Jahrhunderts, die sich nicht allein in ihrem Schaffen nach den Regeln und Ge= sehen der Franzosen richteten, sondern die auch selbst immer wieder die französische Literatur studierten, um sich dort Anregung und Stoff zu ihren Werken zu suchen. Denn seitdem der Klassizismus seinen Einzug in England gehalten hatte, war für alle, die sich schriftstellerisch betätigen wollten, die Kenntnis der französischen Literatur ebenso notwendig wie diejenige der Antike. In die Glanzzeit des englischen Klassizismus, in die Zeit, in der der französische Einfluß auch in die weiteren Kreise des Volkes gedrungen war, fällt Johnsons Jugend. Die erste eingehende Bekanntschaft Johnsons mit der französischen Literatur dürfte wohl in die Zeit zwischen dem 16. und 18. Lebensjahre fallen, die, wie Leslie Stephen (S. 6) hervorhebt, die Hauptperiode seines Studiums gewesen zu sein scheint. Es ist dies die Zeit, in der er zu Haus bei seinem Vater weilte, um sich mit dem Buchhandel vertraut zu machen, wobei sich ihm Gelegenheit zu eifriger Lektüre bot, so daß er, als er die Universität bezog, über eine erstaunlich große Belesenheit verfügte, und später im Alter von 54 Jahren behaupten konnte, daß er mit 18 Jahren bereits ebenso viel gelesen gehabt hätte, als jeßt.1) Daß er in diesem Lebensabschnitt auch die gelesensten Autoren Frankreichs kennen lernte, ist mehr als wahrscheinlich; ist doch ein Buchhändlerladen der beste Barometer für den jeweiligen Zeitgeschmack. Sehr bezeichnend für die damalige Hegemonie der französischen Literatur in England ist die Tatsache, 1) I. Sir, in my early years I read very hard. It is a sad reflexion, but a true one, that I knew almost as much at eighteen as I do now (Bosw. 123). Wenn diese Aussage auch nicht wörtlich genommen werden darf, so beweist sie doch sehr viel für jene Zeit, bevor er die Universität bezog. |