Page images
PDF
EPUB

Goethes Stellung zur Religion.

Der Einfluss bedeutender Männer auf ihre Zeit und über diese hinaus wird nicht allein durch die Intensität und Extensität ihrer Thätigkeit und ihres Strebens, sondern vielfach auch durch ihre allgemein menschlichen Eigenschaften, durch ihre Persönlichkeit bestimmt. Eine richtige Beurtheilung eines Dichters nach seinen Geistesproducten einzig und allein wird es niemals geben, weil diese doch selbst mit den individuellen Zuständen und Verhältnissen des Dichters eng verwebt sind. Man hat es daher in der Geschichte der geistigen Entwickelung eines Volkes an Untersuchungen über persönliche und allgemein menschliche Zustände hervorragender Männer nicht fehlen lassen, um wesentliche Züge an dem Allgemeinbilde desselben nicht zu verlieren. Wenn nun bei irgend einem Grossen unserer Literatur solche Kenntnisse förderlich und zu näherem Verständnisse nothwendig erscheinen, so zumeist bei Goethe, nicht blos um in seine dichterischen Schöpfungen, die ja Gelegenheitsgedichte im besten Sinne sind, einen richtigen Einblick, sondern auch den Menschen Goethe zu gewinnen, der in so manchen Beziehungen als Idealbild gelten kann. Es fehlt denn auch an Schriften nicht, die sich mit einzelnen persönlichen Verhältnissen und inneren Zuständen des Dichters beschäftigen. Auch Goethes Stellung zur Religion und zum Christenthume ist Gegenstand für eine Abhandlung von van Oosterzee 1) und eine solche von v. Lancizolle 2) geworden. Sie haben Beide meine Arbeit

1) Goethes Stellung zum Christenthum, ein literarischer Vortrag von J J. van Oosterzee. Bielefeld, Velhagen und Klasing 1858.

2) Ueber Goethes Verhältniss zur Religion und zum Christenthum von Ludwig v. Lancizolle, Berlin, Nicolai 1855.

Viel Material hierüber, nur etwas confus, auch bei Gelzer,,die neuere deutsche National-Literatur nach ihren ethischen und religiösen Gesichtspuncten" Leipzig 1849, Weidmann. II. Bd. S. 332-414.

Auf andere kleinere Schriften über diesen Gegenstand bin ich erst

nicht überflüssig gemacht. Der erstere nicht, weil er von vorne herein kritisch vom orthodoxen Standpuncte aus vorgeht und daher die nöthige Objectivität vermissen lässt; der zweite nicht, weil er Goethes Jugendzeit fast gar nicht in den Kreis seines Studiums zog, sondern sein Hauptaugenmerk auf Göthes Alter verlegt und so nicht den ganzen Göthe uns bietet. Ich habe nun nicht die Absicht, philosophisch-kritisch an Goethes Stellung zur Religion heranzugehen, sondern wesentlich eine Entwickelungsgeschichte des Goethe'schen Geistes nach religiöser Richtung in objectivem Anschluss an das uns vorliegende Material zu geben. Hierzu benutze ich die Eintheilung, die ich bei Gelzer und Vockerath 3) practisch fand, in drei Perioden: in die genial-naturalistische, idealistischklassische und eklektisch-universelle Periode im Leben des Dichters.

Genial-naturalistische Periode.

Es bildet ein Talent sich in der Stille,
Sich ein Character in dem Strom der Welt.

Wie es verfehlt wäre, bei der Behandlung der Entwickelung einer Fruchtpflanze das der Erde anvertraute Korn zu übergehen, so wäre es ungeeignet und unvollständig, das Leben und Weben religiöser Gedanken in der Knabenseele ausser Acht zu lassen, auf dem sich nachher das vollendete Werk eines reichen Lebens aufgebaut hat. Zwei Elementarereignisse waren es, die den siebenjährigen Knaben, dessen Religionsunterricht von dem seiner Altersgenossen sich wesentlich nicht unterschied, zum erstenmale nöthigten, selbstständig über Gott und sein Wesen skeptisch nachzudenken, das eine ein grossartiges, welterschütterndes: das Erdbeben von Lissabon; das andere: efn Hagelschlag, ein kleines, aber durch unmittelbare Nähe und Beziehung zu der Umgebung des Knaben um so nachhaltiger wirkendes. 4) Beide Erscheinungen erschütterten sein Vertrauen und den Glauben an einen allgütigen Schöpfer und Erhalter des Himmels und

nach Abfassung dieses ersten Theils der Abhandlung durch Unflads GoetheBibliographie aufmerksam gemacht worden.

3) Göthes Lyrik von Vockerath. Paderborn 1872.

4) Wahrheit und Dichtung. Erster Theil, erstes Buch. LewesFrese Göthes Leben und Werke, Berlin, Dunker 1875. I. B. 3. Abschn.

66

der Erde und wirkten um so tiefer auf das kindliche Gemüth ein, als die Bibel, die eifrigst um Aufschluss befragt wurde, hierüber keine unwidersprechliche Beruhigung und Nachricht geben konnte. Trotzdem verdrängten angenehme Erfahrungen, der Anblick und die allmähliche Erkenntniss der Schönheit der Schöpfung diese Gedanken wieder, ohne dass jedoch der Knabe in der kirchlich-protestantischen Lehre, wie sie ihm als,,eine Art von trockener Moral" ohne ,,geistreichen Vortrag" vorgeführt wurde, hätte volle Befriedigung finden können. Als ein aufmerksamer Knabe fühlte er sich vielmehr von den sich damals geltend machenden, die Innerlichkeit betonenden Separatisten angezogen durch deren,,Originalität, Herzlichkeit, Beharrung und Selbständigkeit." Er verband es mit einem eigenen, sinnigen Cultus, der an die Vorstellungen des alten Testamentes und an die Opfer der alten Völker erinnert und aus biblischen Reminiscenzen erwuchs ,,Der Gott", berichtet der Greis in,,Wahrheit und Dichtung“ 5), der mit der Natur in unmittelbarer Verbindung stehe, sie als sein Werk anerkenne und liebe, dieser schien ihm der eigentliche Gott," der ja wohl auch für den Menschen, wie für alles Uebrige, ebenso wie für die Bewegung der Sterne, für Tages und Jahreszeiten, für Pflanzen und Thiere Sorge tragen werde. Einige Stellen des Evangeliums besagten dieses ausdrücklich. Eine Gestalt konnte der Knabe diesem Wesen nicht verleihen; er suchte ihn also in seinen Werken auf und wollte ihm auf gut alttestamentliche Weise einen Altar errichten. Naturproducte sollten die Welt im Gleichniss vorstellen, über diesen sollte eine Flamme brennen und das zu seinem Schöpfer sich aufsehnende Gemüth des Menschen bedeuten." Heimlich und stille, zum erstenmale bei Sonnenaufgang trieb er in kindlicher Andacht diesen Cultus, im Vertrauen, sich dadurch Gott mehr zu nähern, als im Bereiche der öffentlichen Religion. Dieses letztere ist auf die Einwirkung der Separatisten zurückzuführen, die ja auch aus dem Streben nach Innerlichkeit heraus die gewohnten Formen des Gottesdienstes umwandelten. Die Religiosität des Knaben wurde verstärkt durch fleissige Bibellectüre (sogar im hebräischen Urtext) und den Umgang mit dem noch später besonders wirksam auftretenden Fräulein von Klettenberg, einer Freundin seiner Mutter und trieb die ersten poëti

5) a. a. 0. 1. Theil 1. B.

schen Früchte in geistlichen Oden und Liedern, einem in Stil und Inhalt nicht von den Producten der Zeit verschiedenen Gedichte (,,Die Höllenfahrt Christi", auf Verlangen entworfen von J. W. G. 1765) und in einem leider nicht erhaltenen Epos,,Joseph und seine Brüder." Klopstocks,,Messias" entzückte den Knaben und wurde mit Hilfe der Mutter, selbst gegen das Gebot des gegen alle reimlose Poësie eingenommenen Vaters, nicht blos gelesen, sondern auch auswendig gelernt und mit der Schwester in dramatischer Weise recitirt. 6)

Wie ein dem Käfig entflogener Vogel, der im frischen, grünen Walde wieder von Baum zu Baum, von Zweig zu Zweig sich schwingen kann, fühlte sich der aus dem (mit der pedantischen Strenge des Vaters erfüllten) Elternhause entlassene junge Goethe, als er in die Arme der alma mater Lipsiensis aufgenommen worden. 7) Goethe hat selbst die Schatten und Lichtseiten seines Aufenthaltes in Leipzig freimüthig und offen geschildert. 8) Lücken in der Erinnerung des Greises an diesen Theil seiner Jugendzeit ergänzen die Briefe, die er aus Leipzig an seine Freunde richtete. 9) Wir sehen den reichbegabten, aus der Enge des Vaterhauses in die Welt getretenen Jüngling in ein Leben voll reicher und tiefempfundener Eindrücke der mannigfaltigsten Art hineingeworfen. Die erste Liebe (man kann wohl die knabenhafte Neigung zu Gretchen in Frankfurt übersehen) entzündet mit der ganzen ihr eigenthümlichen Gewalt das junge Herz. Daneben entwickelt sich schon nicht ohne innere Kämpfe in der jugendlichen Brust der Wunsch, sich einem Berufe weihen zu können, der zwar für Goethe nicht der einzige sein konnte und war, aber doch dessen bedeutendster und für seine Nation folgenreichster gewesen ist, dem Künstlerberufe, wenn es ihm auch noch nicht klar genug wurde, welcher Zweig der Kunst für ihn der entsprechendste sein würde. Launische Eifersüchteleien lockern das Band der Liebe und werfen ihn in Zerstreuungen gefährlicher Art, die den gesunden Kern seiner Seele zwar gefährden, aber nicht zerstören. In diesem

6) Wahrheit und Dichtung I. Th. 2. Bch.

7) Der junge Goethe,,Seine Briefe und Dichtungen von 1764 bis 1776." Leipzig Hirzel S. 7 ff.

8) Wahrh. u. Dehtg. 2. Th. 6.-8. Bch.

D. j. G. S. 7-20.

« PreviousContinue »