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Biographisches Vorwort des Herausgebers.

Friedrich Albert Lange ist am 28. September 1828 in Wald bei Solingen geboren. Sein Vater, der spätere Ober-Consistorial-Rath Professor Dr. J. P. Lange in Bonn, war dort Pastor.

Seine erste Schulbildung hat er in Duisburg genossen, wohin der Vater inzwischen berufen war. Aus seinem siebenten Jahre ist ein Gedicht von ihm aufbewahrt geblieben. Als er zwölf Jahre alt war, im Frühjahr 1841, folgte der Vater dem Rufe als Professor nach Zürich. So wurde die Schweiz seine zweite Heimath.

Im Frühjahr 1847 bezog er die Hochschule in Zürich, wo er theologische und philosophische Collegien hörte. Nach zwei Semestern, im Frühjahr 1848, ging er nach Bonn, um dort Philologie und Philosophie zu studiren.

Zwanzig Jahre alt, verlobte er sich. Im März 1851 promovirte er zu Bonn mit einer Dissertation,,Quaestiones metricae", und nachdem er bald darauf die Staatsprüfung bestanden, diente er sein Jahr. Am Ende des Jahres 1852 ist er Hülfslehrer am Gymnasium zu Köln. Im September 1853 endlich fand seine Vermählung mit Friederike Colsman statt.

Als Lehrer stieg er bis zum Unterricht in der Prima auf. Aber 1855 verliess er die Schule und habilitirte sich in Bonn als Privatdocent der Philosophie. Er las über Pädagogik und Geschichte derselben, vergleichende Statistik des Schulwesens, Geschichte des Gymnasial-Unterrichts, über die Schulen des 16. Jahrhunderts, zweimal Psychologie, Moralstatistik und endlich im Sommer 1857 Geschichte des Materialismus.

Für den Sommer 1858 hatte er Logik angekündigt; aber zu Ostern siedelte er an das Gymnasium zu Duisburg über. Im Februar 1859 wurde er Oberlehrer, im Frühjahr 1861 rückte er in die dritte Oberlehrerstelle ein. Aber seine politische Thätigkeit hatte begonnen. Zum 1. Oktober nahm er die selbstgeforderte Entlassung.

Sein Studium und seine Thätigkeit richtete sich jetzt auf die ökonomischen Dinge und die socialen Verhältnisse. Er wurde Handelskammer-Secretär in Duisburg. Zugleich hielt er in einem Privatkreise Vorträge über Geschichte der neueren Philosophie und arbeitete an der,,Geschichte des Materialismus". Am 5. Januar 1863 meldet er seinem Verleger, dass bereits acht Bogen druckfertig seien.

In derselben Zeit übernahm er die stellvertretende Redaction der Rhein- und Ruhr-Zeitung, war in politischer Agitation thätig, und Ende 1863 erschien die Schrift über ,,die Leibesübungen, eine Darstellung des Werdens und Wesens der Turnkunst in ihrer pädagogischen und culturhistorischen Bedeutung", ein erweiterter Abdruck aus der Schmid'schen Encyklopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens. Schon als Student hatte er das Turnen als eine vaterländische Sache eifrig betrieben und als Lehrer den Turnunterricht selbst übernommen.

Im Anfang des Jahres 1865 wurde er Theilhaber einer Buchhandlung und Druckerei, welche letztere er selbst leitete. Er wollte Volksschriften verbreiten. Aus diesem Plane entstand das Schriftchen ,,das päpstliche Rundschreiben und die 80 verdammten Sätze, erläutert durch Kernsprüche von Männern der Neuzeit, sowie durch geschichtliche und statistische Notizen". Es enthält etwa 240 Octavseiten.

Eine rheinisch-westfälische Arbeiterzeitung wollte er begründen; dagegen erschien im Januar 1865 im eigenen Verlage ,,die Arbeiterfrage in ihrer Bedeutung für Gegenwart und Zukunft“. Unter solchen Bestrebungen wurde seine Stellung in Duisburg schwierig, weil isolirt. Pressprozesse bedrängten ihn. Und dennoch vermochte er zu wissenschaftlicher Arbeit sich zu sammeln.

Im Juli 1865 erschien ,,die Grundlegung der mathematischen Psychologie. Ein Versuch zur Nachweisung des fundamentalen Fehlers bei Herbart und Drobisch". Im Oktober desselben Jahres erschien seine,,Geschichte des Materialismus", und während er Versuche machte, in den grössten Städten Deutschlands Vorlesungen zu halten, brachten die ersten Tage des April 1866:,,J. St. Mill's Ansichten über die sociale

Frage und die angebliche Umwälzung der Socialwissenschaft durch Carey". Dabei nahm ihn die Verwaltung des Geschäftes, die Arbeit und die Sorge um Verlag und Druckerei unvermindert in Anspruch.

In dieser Zeit bot ihm sein alter Züricher Schulkamerad, der Inhaber des Winterthurer,,Landboten", Bleuler, die Geschäftssocietät an, und im November 1866 siedelte Lange mit Weib und Kindern nach Winterthur über. Für die erste Zeit nahm er auch dort eine Stelle als Gymnasiallehrer an. Alsbald aber sass er im demokratischen, im Consum- und im Kunstverein, wurde Mitglied des Bank- und Erziehungsrathes, im Stadtrath endlich machte er den Forstinspector. Von wissenschaftlichen Arbeiten bemerken wir aus diesen Tagen nur die gegen den Professor Schilling gerichtete Replik ,,Neue Beiträge zur Geschichte des Materialismus“, und eine zweite, sehr veränderte Auflage der Arbeiterfrage", die 1874 in dritter wiederum veränderter Auflage erschienen ist.

Auch als Feuilletonist versuchte er sich und er verhandelte mit seinem Verleger über die Beschaffung guter Belletristik für die kleineren Tageblätter. Aber die Sehnsucht nach dem Katheder wurde wieder wach; er habilitirte sich in Zürich, blieb jedoch in Winterthur wohnen, bis er im Herbst 1870 zum ordentlichen Professor in Zürich ernannt wurde.

Zwei Jahre hat er daselbst als Lehrer der Philosophie gewirkt und gleichwie am Gymnasium treue Schüler sich erworben. Da rief ihn, auf den Antrag der Universität Marburg, der Minister Falk in die Heimath. Im September 1872 zog er in Marburg ein. Aber er trug den Keim des Todes in sich. Kurz vorher hatte er sich von Bruns in Tübingen operiren lassen. Von dort schreibt er seiner Frau: ,,Gestern im botanischen Garten las ich ,,die Künstler" noch einmal. Ich konnte nicht umhin, die prachtvollen Verse, die mir immer besonders gut gefallen, ein wenig auf mich zu beziehen:

Mit dem Geschick in hoher Einigkeit,

Gelassen hingestützt auf Grazien und Musen,
Empfängt er das Geschoss, das ihn bedräut,
Mit freundlich dargebotnem Busen

Vom sanften Bogen der Nothwendigkeit.

Kann man den christlichen Gedanken der Ergebung schöner auf philosophisch ausdrücken? Und dabei so durch und durch poetisch!" In diesen schweren Tagen hat er für die Schmid'sche Encyklopädie den Artikel über Ludwig Vives geschrieben.

Zwei Jahre noch waren ihm zum Wirken im Vaterlande beschieden. Er hat mit Nichtachtung des herannahenden Todes jede von den schwersten Schmerzen freiere Stunde benutzt, um sein Werk zur zweiten Auflage umzuarbeiten. Und als er sie in Händen hatte, fing er die,,Logischen Studien" an, an denen er bis drei Wochen vor seinem Tode gearbeitet hat. Sie sind 1877 erschienen.

Aber seine eifrige literarische Thätigkeit hat seine glückliche Wirksamkeit als Lehrer nicht beeinträchtigt. Er hat vor einem gleich zahlreichen Auditorium in Marburg über Logik und Psychologie, wie über Schiller's philosophische Gedichte, die Geschichte der neueren Pädagogik und über die Theorie der Abstimmungen gelesen.

Als er am letzten Februar 1875 das Colleg geschlossen, hat er sein Haus nicht wieder verlassen. Am 21. November ist er gestorben.

Bald nach seinem Tode erschienen Uebersetzungen seines Hauptwerkes: 1877 die französische von B. Pommerol,,,avec une introduction par D. Nolen"; 1879 die englische von Thomas, als second edition bezeichnet. Und ferner eine mit Liebe und Sachkenntniss geschriebene Biographie von O. A. Ellissen.*) Inzwischen hat die literarische Nachwirkung Lange's nirgend aufgehört. Die verschiedensten Richtungen haben sich auf ihn berufen. Aber wenn man die Bedeutung von Albert Lange's Leben und Wirken in einem symbolischen Worte bezeichnen darf, so möchte er als ein Apostel der Kantischen Weltanschauung zu nennen sein. In dieser Mission lassen sich alle seine Verdienste begreifen; wie denn die Aneignung der Kantischen Weltanschauung die Aufgabe ist, in welcher alle Culturfragen unseres Zeitalters sich zusammenfassen. Diese Aneignung setzt persönliches Verhältniss zu den Problemen voraus; sie kann nicht erlernt, sie muss erlebt werden. An der eigentlichen Entwicklung Lange's, welche übrigens auch die zweite Auflage seines Hauptwerkes darstellt, vollzieht sich dieses persönliche Ringen mit den Problemen und mit denjenigen Formulirungen, welche das Kantische System enthält.

Die Probleme unserer Zeit sind von der einen, der theoretischen Seite: die Basirung der Wissenschaften auf ihren eigentlichen einfachsten Principien, deren genaue und deutliche Ermittelung daher angestrebt wird. Von der andern, der praktischen Seite gilt es lebendig und buchstäblich wahr zu machen die Kernwahrheit des Gottes*) Friedrich Albert Lange. Eine Lebensbeschreibung. 1894. Wohlf. M. 2.50 geh., M. 3.- geb.

Ausg.

glaubens, die Nächstenliebe, das will sagen: die Regeneration der Völker aus dem ethischen Ideal des Socialismus.

In diesen beiden Richtungen ist die Kantische Weltanschauung obschon die Kämpfenden nicht immer darum wissen das Schiboleth der Gegenwart und die Losung der Zukunft. Und in beiden Richtungen hat Albert Lange mit seinem klaren universellen Kopfe und mit seinem Herzblut gearbeitet.

In einer Zeit, in welcher der Materialismus-Streit als das einzige Symptom gelten konnte, dass die Liebe zum Philosophiren in deutschen Landen nicht erstarrt war, da zeigte Lange, auf Kant gestützt, an der Geschichte des Materialismus den Werth desselben als eines die Forschung regulirenden Gedankens, wie nicht minder die Unzulänglichkeit desselben als eines Princips systematischer Weltanschauung. So entsetzte er jene salbungsvolle Metaphysik, die mit dem schmeichelhaften Titel des Idealismus prunkt, und beschwichtigte und verständigte die Redlichen aber Unklaren, die in Freimuth eine Fahne erhuben, unter der es wenigstens nichts zu heucheln gab. Ebenso unerbittlich aber drückte er den Uebermuth dieser naturalistischen Partei, indem er ihre latente Abhängigkeit von den idealen Momenten demonstrirte, und in der Consequenz des Materialismus seine Selbstauflösung nachwies. Somit wurde die Geschichte des Materialismus zu einer Rechtfertigung des Idealismus, des echten, der in der Geschichte des Denkens von Anbeginn seine Fruchtbarkeit bewährt hat, des kritischen. Der transcendentale Idealismus wurde als die Ueberwindung und das Ende des Materialismus gelehrt und gepredigt.

In solchem kritischen Grundgedanken nahm Lange seine Stellung zu den theoretischen Problemen unserer Gegenwart. Und wie er den Kantischen Apriorismus auffasste, so machte er deutlich, dass alle Handhaben der Forschung, die Materie, die Atome, die Kräfte und die mechanischen Principien ihre Wurzel und ihren Bestand haben in der physisch-psychischen Organisation des Menschen. Die Materie mit ihren Kräften und Gesetzen ist nicht ein Selbständiges neben uns, sondern die Ausgeburt unseres eigenen Geistes. Dessen Gesetze, dessen Elemente spiegeln sich in jenen scheinbar uns fremden Dingen. Die Materie ist unsere Vorstellung.

Ich kann dieses Verfahren, mit dem Zauberwort der Organisation die Räthsel der Wissenschaften lösen zu wollen, nicht als den zureichenden Ausdruck des Kantischen Apriorismus anerkennen. Idealisten in diesem Sinne hat es, wie Lange selbst gezeigt hat, auch vor

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