Page images
PDF
EPUB

res ist, als der allgemeine Typus der Art, den wir in unsrer Phantasie mit dem Namen „,Apfelbaum" in Verbindung bringen.

Man könnte nun die metaphysische Frage nach dem Verhältniss des Einzelnen zum Allgemeinen, des Einen zum Vielen hier noch weiter verfolgen. Gesetzt es sei uns eine Formel der Stoffmischung oder der Erregungszustände in einer Keimzelle bekannt, durch welche bestimmt werden könnte, ob der Keim sich zu den Formen des Apfel- oder Birnbaums entfalten wird. Dann wird vermuthlich eine jede einzelne Keimzelle ausser den Bedingungen dieser Formel auch noch ihre individuellen Abweichungen und Zuthaten haben, und wirklich ist im Grunde überall erst das Resultat aus dem Allgemeinen und Individuellen, oder vielmehr das concret Gegebene, worin gar keine Unterscheidung des Allgemeinen und Individuellen stattfindet. Die Formel liegt rein in unserm Geist.

[ocr errors]

Man sieht hier leicht, dass dagegen nun wieder realistische Einsprache erhoben werden könnte; allein um den Irrthum der aristotelischen Lehre vom Allgemeinen zu verstehen, haben wir nicht nöthig, diese Kette weiter zu verfolgen. Dieser Irrthum liegt schon weiter oben; denn Aristoteles hält sich direct an das Wort. Er sucht nichts Unbekanntes hinter dem allgemeinen Wesen des Apfelbaums. Dasselbe ist vielmehr völlig bekannt. Das Wort bezeichnet direct eine Wesenhaftigkeit und dies geht so weit, dass Aristoteles, in der Uebertragung dessen, was bei den Organismen gefunden wurde, auf andre Gegenstände, sogar an einem Beil noch die Individualität dieses bestimmten Beiles von seinem Beilsein" unterscheidet. Das ,,Beilsein" und der Stoff, das Metall, zusammengenommen machen das Beil, und kein Stück Eisen kann Beil werden, ohne von der Form, die dem Allgemeinen entspricht, ergriffen und durchdrungen zu werden. Diese Tendenz, das Wesen unmittelbar aus dem Worte abzuleiten, ist der Grundfehler der aristotelischen Begriffslehre und führt in ihren Consequenzen, so wenig sich Aristoteles mit denselben zu befassen liebt, doch folgerichtig zu der gleichen Ueberschätzung des Allgemeinen gegenüber dem Besondern, welche wir bei Plato finden. Denn ist erst einmal zugegeben, dass das Wesen der Individuen in der Art liege, so muss dann auf einer höheren Stufe wieder das Wesentlichste der Art, oder anders ausgedrückt der Grund der Arten, in der Gattung liegen u. s. w.

In der That zeigt sich dann auch dieser durchgreifende Einfluss der platonischen Anschauungen klar in der Methode der

Untersuchung, welche Aristoteles anzuwenden pflegt. Da sieht man bald, dass sein Ausgehen von den Thatsachen und die Induction, welche von den Thatsachen zu den Principien aufsteigen soll, eine Theorie geblieben ist, welche Aristoteles selbst fast nirgend anwendet. Höchstens führt er etwa einige vereinzelte Thatsachen an und springt dann sofort von diesen zu den allgemeinsten Principien, die er fortan in rein deductivem Verfahren dogmatisch festhält.54) So demonstrirt Aristoteles aus allgemeinen Principien, dass es ausser unsrer geschlossenen Weltkugel nichts geben könne; so kommt er zu seiner verderblichen Lehre von der ,,natürlichen“ Bewegung eines jeden Körpers im Gegensatze zu der ,,gewaltsamen" Bewegung, zu der Behauptung, dass die linke Seite des Körpers kälter sei als die rechte, zu der Lehre vom Uebergang eines Stoffes in einen andern, von der Unmöglichkeit der Bewegung im leeren Raum, zu dem absoluten Unterschied von kalt und warm, schwer und leicht u. s. w. So construirt er a priori, wie viele Arten von Thieren es geben könne, beweist aus allgemeinen Principien, warum die Thiere diese oder jene Theile haben müssen, und zahlreiche andre Sätze, die dann stets wieder mit strengster Consequenz angewandt werden und die in ihrer Gesammtheit eine erfolgreiche Forschung durchaus unmöglich machen. Diejenige Wissenschaft, zu welcher sich die platonische und aristotelische Philosophie am günstigsten stellen, ist natürlich die Mathematik, in welcher das deductive Princip so glänzende Resultate erzielt hat. Aristoteles betrachtet denn auch die Mathematik als das Vorbild aller Wissenschaften, allein ihrer Anwendung in der Erforschung der Natur verschliesst er den Weg, indem er überall das Quantitative auf Qualitatives zurückführt, also genau den umgekehrten Weg einschlägt, wie die neuere Naturwissenschaft.

Mit der Deduction im Bunde steht die dialektische Behandlung der Streitfragen. Aristoteles liebt es, die Ansichten seiner Vorgänger historisch-kritisch zu erörtern. Sie sind ihm die Repräsentanten aller überhaupt möglichen Meinungen, denen dann seine eigne Ansicht abschliessend gegenüber tritt. Uebereinstimmung Aller ist ein vollgültiger Beweis; Widerlegung aller andern Ansichten lässt die scheinbar einzig übrig bleibende als nothwendig erscheinen. Schon Plato unterschied das ,,Wissen" von der „,richtigen Meinung" durch die Fähigkeit des Wissenden, alle Einwürfe dialektisch abzuweisen und die eigne Ansicht im Kampf der Meinungen siegreich zu be

haupten. Aristoteles führt die Gegner selbst auf; er lässt sie ihre Ansichten (oft mangelhaft genug!) darlegen, disputirt auf dem Papier mit ihnen und sitzt dann in eigner Sache zu Gericht. So tritt der Sieg im Disput an die Stelle des Beweises, der Meinungskampf an die Stelle der Analyse und das ganze Verfahren bleibt ein völlig subjektives, aus welchem wirkliche Wissenschaft nicht hervorgehen kann.

Wenn man sich nun fragt, wie es möglich war, dass ein solches System nicht nur dem Materialismus, sondern jeder empirischen Richtung überhaupt auf Jahrhunderte den Weg verschliessen konnte, und wie es möglich ist, dass ,,die organische Weltanschauung des Aristoteles" noch heute von einer mächtigen Schule als die gegebene und unumstössliche Basis aller wahren Philosophie gepriesen wird, so dürfen wir dabei zunächst nicht vergessen, dass die Speculation überhaupt es liebt, an die naiven Anschauungen des Kindes und des Köhlers anzuknüpfen und so gleichsam im Gebiete des menschlichen Denkens das Niedrigste und das Höchste in Verbindung zu bringen gegenüber der relativistischen Mitte. Wir haben bereits gesehen, wie der consequente Materialismus zwar fähig ist in einer Weise, welche allen andern Systemen versagt bleibt, Ordnung und Zusammenhang in die sinnliche Welt zu bringen und wie er berechtigt ist, von hier aus selbst den Menschen mit sammt seinen Handlungen als Specialfall der allgemeinen Naturgesetze zu betrachten; wie aber dabei zwischen dem Menschen als Gegenstand der empirischen Forschung und dem Menschen, so wie das Subjekt unmittelbar sich selbst weiss, eine ewige Kluft befestigt bleibt. Daher kehrt der Versuch immer und immer wieder, ob denn nicht vielleicht das Ausgehen vom Selbstbewusstsein eine befriedigendere Weltanschauung gebe und so stark ist der geheime Zug des Menschen nach dieser Seite, dass dieser Versuch hundertmal als gelungen betrachtet wird, wenn auch alle früheren Versuche bereits als unzulänglich erkannt sind.

Zwar wird es einer der wesentlichsten Fortschritte der Philosophie sein, wenn diese Versuche endlich definitiv aufgegeben werden; aber nimmer wird das geschehen, wenn der Einheitstrieb der menschlichen Vernunft nicht auf anderem Wege seine Befriedigung erhält. Wir sind nun einmal nicht geschaffen, bloss zu erkennen, sondern auch zu dichten und zu bauen, und mit mehr oder weniger Misstrauen gegen die definitive Gültigkeit dessen, was Verstand und

Sinne uns zu bieten vermögen, wird die Menschheit immer wieder den Mann freudig begrüssen, der es versteht, in genialer Weise, alle Bildungsmomente seiner Zeit benutzend, jene Einheit der Welt und des Geisteslebens zu schaffen, welche unsrer Erkenntniss versagt ist. Diese Schöpfung wird gleichsam nur der Ausdruck der Sehnsucht einer Zeitperiode nach dem Einen und Vollkommenen sein, aber dies ist etwas Grosses und für die Erhaltung und Ernährung unsres geistigen Lebens so wichtig wie die Wissenschaft, wiewohl nicht so dauerhaft als diese; denn die Forschung im Stückwerk des positiven Wissens und in den Relationen, welche allein den Gegenstand unsrer Erkenntniss ausmachen, ist absolut durch ihre Methode, und die speculative Erfassung des Absoluten kann nur eine relative Bedeutung als Ausdruck der Anschauungen eines Zeitalters in Anspruch nehmen.

Steht uns nun aber das aristotelische System beständig als eine feindliche Macht gegenüber in Beziehung auf die klare Unterscheidung dieser Gebiete, ist es noch immer das Urbild des Verkehrten, das grosse Beispiel dessen, was nicht sein soll, in seiner Vermengung und Verwechslung von Speculation und Forschung und in dem Anspruch, das positive Wissen nicht nur zusammenzufassen, sondern auch zu beherrschen; so müssen wir anderseits anerkennen, dass dies System das vollendetste Beispiel wirklicher Herstellung einer einheitlichen und geschlossenen Weltanschauung ist, welches die Geschichte uns bisher gegeben hat. Mussten wir auch den Forscherruhm des Aristoteles schmälern, so bleibt doch allein die Art, wie er das Gesammtwissen seiner Zeit in sich aufnahm und zu einer Einheit verband, eine Riesenarbeit des Geistes und neben dem Verkehrten, das wir hier nachweisen mussten, finden sich auf allen Gebieten reiche Spuren eines durchdringenden Scharfsinns. Dazu verdient Aristoteles schon allein als Urheber der Logik einen hohen Ehrenplatz in der Philosophie und wenn die völlige Verschmelzung derselben mit seiner Metaphysik auch den Werth der Leistung an sich genommen beeinträchtigt, so steigt dadurch doch wieder die Kraft und der Zauber des Systems. In einem so fest gefügten Bau konnten die Geister ausruhen und ihre Stütze finden in gährender und treibender Zeit, als die Trümmer der alten Cultur verbunden mit den ergreifenden Ideen einer neuen Religion in den Köpfen der Abendländer eine so grosse und trübe Bewegung und ein so stürmisches Ringen nach neuen Formen hervorriefen. Wie wohl war

es unsern Vorfahren in dem geschlossenen Ring des sich ewig umwälzenden Himmelsgewölbes auf ihrer ruhenden Erde, und welche Zuckungen rief der scharfe Luftzug hervor, der aus der Unendlichkeit hereindrang, als Kopernikus diese Hülle sprengte!

Doch wir vergessen, dass wir noch nicht daran sind, die Bedeutung des aristotelischen Systems für das Mittelalter zu erörtern. In Griechenland gewann dasselbe erst ganz allmählich das Uebergewicht über alle andern Systeme, als nach dem Untergang der klassischen Zeit, welche vor Aristoteles liegt, auch jene reiche Blüthe des wissenschaftlichen Lebens, welche erst nach ihm eintrat, in Verfall kam und das schwankende Gemüth auch hier nach der stärksten Stütze griff, welche sich ihm zu bieten schien. Für einstweilen strahlte das Gestirn der peripatetischen Schule hell genug neben andern Sternen, aber der Einfluss des Aristoteles und seiner Lehre vermochte noch nicht zu hindern, dass bald nach ihm materialistische Anschauungen mit erheblicher Gewalt wieder hervortraten und selbst in seinem eignen Systeme Anknüpfungspunkte zu finden suchten.

IV. Der Materialismus in Griechenland und Rom nach Aristoteles. Epikur.

Wir haben im vorigen Kapitel gesehen, wie jene Entwicklung in Gegensätzen, welche durch Hegel eine so grosse Bedeutung für die philosophische Betrachtung der Geschichte gewonnen hat, stets aus den allgemeinen culturhistorischen Verhältnissen zu erklären ist. Eine mächtig sich ausbreitende und scheinbar ihr ganzes Zeitalter durchdringende Richtung lebt sich aus und findet in der jüngeren Generation keinen rechten Boden mehr, während aus andern, bisher verborgen strömenden Gedankenkreisen sich frische Kräfte erheben und, an den veränderten Charakter der Völker und Staaten anknüpfend, ein neues Losungswort ausgeben. Generationen erschöpfen sich in der Hervorbringung von Ideen, wie der Boden, welcher längere Zeit das gleiche Produkt hervorbringt und aus dem Brachfeld spriesst die reichste Saat hervor.

Ein solcher Wechsel von Kraft und Ohnmacht tritt auch in der Geschichte des griechischen Materialismus hervor. Materialistische Denkweise beherrschte die Philosophie des fünften Jahrhunderts vor

« PreviousContinue »