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73) Vgl. Mohl, Gesch. u. Liter. der Staatswissensch. I. p. 231 u. f. 74) Ueber den Streit zwischen Locke und dem Finanzminister Lowndes vgl. Karl Marx, zur Kritik der polit. Oekonomie, Berlin 1859, 1. Heft, S. 53 u. ff. Lowndes wollte bei der Umprägung der schlechten und entwertheten Münzen den Schilling leichter machen als er früher gesetzlich hätte sein sollen; Locke setzte durch, dass die Prägung nach der gesetzlichen, aber faktisch längst nicht mehr bestehenden Norm erfolgte. Daraus ergab sich, dass Schulden (und darunter namentlich die Staatsschulden!), welche in leichten Schillingen contrahirt waren, in schweren zurückbezahlt werden mussten. Lowndes stützte seine materiell richtigere Ansicht mit schlechten Gründen, die von Locke siegreich widerlegt wurden. Mit scharfer Kennzeichnung der Parteistellung des letzteren sagt Marx: „John Locke, der die neue Bourgeoisie in allen Formen vertrat, die Industriellen gegen die Arbeiterklasse und die Paupers, die Commerciellen gegen die altmodischen Wucherer, die Finanzaristokraten gegen die Staatsschuldner, und in einem eigenen Werk sogar den bürgerlichen Verstand als menschlichen Normalverstand nachwies, nahm auch den Handschuh gegen Lowndes auf. Locke siegte, und Geld geborgt zu 10 oder 14 Schillingen die Guinee wurde zurückbezahlt in Guineen von 20 Schillingen." Uebrigens behauptet Marx (bekanntlich wohl der gründlichste jetzt lebende Kenner der Geschichte der Nationalökonomie) weiterhin auch, dass die werthvollsten Beiträge Lockes zur Theorie des Geldes nur eine Verflachung von demjenigen seien, was Petty schon in einer Schrift vom Jahre 1682 entwickelt habe, vgl. Marx, das Kapital, Hamb. 1867, I, S. 60. Kritik der polit. Oekon., I, S. 56.

75) S. die Erzählung in der dem Essay concerning human understanding vorangeschickten „,Epistle to the reader"; danach bei Hettner, Literaturg. d. 18. Jahrh., I, S. 150.

76) Das Bild von der „,tabula, in qua nihil est actu scriptum" findet sich bei Aristoteles de anima III, c. 4. Bei Locke II, 1 § 2 wird der Geist einfach als ,,white paper" betrachtet, ohne dass von dem aristotelischen Gegensatz der Möglichkeit und Wirklichkeit die Rede ist. Dieser Gegensatz ist aber grade hier von grosser Bedeutung, da die aristotelische „Möglichkeit“ alle verschiedenen Schriftzüge aufzunehmen als eine reale Eigenschaft der Tafel gedacht wird, nicht als die blosse Denkbarkeit oder Abwesenheit verhinderter Umstände. Aristoteles steht daher denjenigen näher, welche wie Leibniz und in tieferer Ausführung Kant zwar nicht fertige Vorstellungen in der Seele annehmen, wohl aber die Bedingungen dafür, dass im Contact mit der Aussenwelt grade dasjenige Phänomen entstehe, welches wir vorstellen nennen und mit denjenigen Eigenthümlichkeiten, welche das Wesen der menschlichen Vorstellung ausmachen. Diesen Punkt, die subjectiven Vorbedingungen des Vorstellens als Fundament unserer ganzen Erscheinungswelt hat Locke nicht hinlänglich beachtet. In Bezug auf den Satz,,nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu“ (welchem Leibniz in der Polemik gegen Locke den Zusatz gab,,nisi intellectus ipse"; vgl. Ueberwegs Grundr. III, 3. Aufl., S. 127) beachte man Aristoteles de anima III, c. 7 u. 8. Auch Thomas v. Aquino lehrte, dass das wirkliche Denken im Menschen erst durch Zusammenwirken des intellectus mit einem sinnlichen

phantasma zu Stande komme. Aber der Möglichkeit nach enthält der Geist alles Denkbare schon in sich. Dieser wichtige Punkt verliert bei Locke jede Bedeutung.

77) Auch in Beziehung auf den Gedanken, dass der Staat Freiheit der religiösen Meinungsäusserung geben solle, hatte Locke seine Vorgänger, unter denen besonders Thomas Morus (in der „Utopia", 1516) und Spinoza zu nennen sind. Auch auf diesem Gebiete gewann er also seine Bedeutung (vgl. Anm. 74) nicht sowohl durch originelle Gedanken, als durch die zeitgemässe und erfolgreiche Durchführung von Ideen, die dem veränderten Zustande der Gesellschaft entsprachen. Ueber seine Ausnahmen von der Regel der Toleranz (mit Beziehung auf Atheisten und Katholiken) vgl. Hettner, I, S. 159 u. f.

78) Näheres über Toland, namentlich auch über seine noch ganz an Locke anknüpfende erste Schrift: „Christianity not mysterious“ (1696) s. bei Hettner, Lit. d. 18. Jahrh. I, S. 170 u. ff. - Aus der ,,sokratischen LiturHettner hat auch schon mit Recht auf den Zusammenhang des englischen Deismus mit dem Freimaurer-Bunde hingewiesen. Hier mag noch der specielle Zug hervorgehoben werden, dass Toland seinen Cultus der „Pantheisten" entschieden im Sinne der esoterischen Lehre der Philosophie als Cultus eines geheimen Bundes der Aufgeklärten behandelt. Die Eingeweihten können daneben bis zu einem gewissen Grade den rohen Vorstellungen des Volkes, das ihnen gegenüber aus unmündigen Kindern besteht, nachgeben, wenn es ihnen nur gelingt durch ihren Einfluss im Staate und in der Gesellschaft den Fanatismus unschädlich zu machen. Diese Gedanken sind besonders in dem Anhang „de duplici Pantheistarum philosophia" niedergelegt. Folgende bezeichnende Stelle aus dem 2. Capitel dieses Anhangs (Pantheisticon, Cosmopoli 1720, p. 79 u. ff.) möge hier Platz finden: ,,At cum Superstitio semper eadem sit vigore, etsi rigore aliquando diversa; cumque nemo sapiens eam penitus ex omnium animis evellere, quod nullo pacto fieri potest, incassum tentaverit: faciet tamen pro viribus, quod unice faciendum restat; ut dentibus evulsis et resectis unguibus, non ad lubitum quaquaversum noceat hoc monstrorum omnium pessimum ac perniciosissimum. Viris principibus et politicis hac animi dispositione imbutis, acceptum referri debet, quidquid est ubivis hodie religiosae libertatis, in maximum literarum, commerciorum et civilis concordiae emolumentum. Superstitiosis aut simulatis superum cultoribus, larvatis dico hominibus aut meticulose piis, debentur dissidia, secessiones, mulctae, rapinae, stigmata, incarcerationes, exilia et mortes."

79) Letters to Serena, London 1704, p. 201. Die das. citirten Stellen der Principia (p. 7 und p. 162 der 1. Ausgabe) finden sich in der Anmerkung zu den vorausgeschickten Erklärungen und im Eingang von Abschnitt 11 des 1. Buches (Uebers. von Wolfers, S. 27): „Es kann nämlich sein, dass kein wirklich ruhender Körper existirt," und S. 166: ,,Bis jetzt habe ich die Bewegung solcher Körper auseinandergesetzt, welche nach einem unbeweglichen Centrum hingezogen werden, ein Fall, der kaum in der Natur existirt."

80) Letters to Serena, p. 100.

81) Letters to Serena, p. 231–233.

82) Vgl. Letters to Serena, p. 234-237. Toland braucht hier gegenüber dem empedokleischen Entstehungsprincip das, wie es scheint, ernsthaft gemeinte Beispiel, dass man die Entstehung einer Blume oder Fliege aus dem an sich zwecklosen Zusammentreffen der Atome ebenso wenig erklären könne, als etwa die Entstehung einer Aeneis oder Ilias aus dem millionenmal wiederholten Zusammenwerfen der Buchdruckerlettern. Das Argument ist falsch aber plausibel; es gehört unter denselben Punkt der Wahrscheinlichkeitsrechnung, auf dessen totales Missverständniss von Hartmann seine Philosophie des Unbewussten begründet hat. Toland huldigt übrigens auch in den wichtigsten übrigen Punkten keineswegs der epikureischen Lehre. Er verwarf die Atome und den leeren Raum und mit ihm zugleich den Begriff eines unabhängig von der Materie bestehenden Raumes überhaupt.

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VIERTER ABSCHNITT.

Der Materialismus des achtzehnten
Jahrhunderts.

I. Der Einfluss des englischen Materialismus auf Frankreich und

Deutschland.

Wiewohl der moderne Materialismus in Frankreich zuerst als System auftrat, so war doch England das klassische Land der materialistischen Weltanschauung. Hier war der Boden schon von Roger Baco und Occam her vorbereitet; Baco von Verulam, dem zum Materialismus fast nichts fehlte als ein wenig mehr Consequenz und Klarheit, war ganz der Mann seiner Zeit und seiner Nation, und Hobbes, der consequenteste unter den Materialisten der neueren Zeit, verdankt seinen englischen Ueberlieferungen mindestens ebenso viel, als dem Beispiel und Vorgang Gassendi's. Freilich wurde durch Newton und Boyle der materiellen Weltmaschine wieder ein geistiger Urheber gegeben, allein nur um so fester wurzelte die mechanische und materialistische Auffassung der Naturvorgänge ein, je mehr man sich der Religion gegenüber auf den göttlichen Erfinder der grossen Maschine berufen konnte. Diese eigenthümliche Mischung von religiösem Glauben und Materialismus1) hat sich in England bis auf unsere Tage erhalten. Man denke nur an den frommen Sectirer Faraday, der seine grossen Entdeckungen wesentlich der sinnlichen Lebendigkeit verdankt, mit welcher er sich die Naturvorgänge vorstellte, und der Consequenz, mit welcher er das mechanische Princip durch alle Gebiete der Physik und Chemie zur Geltung brachte.

Auch um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, als auf dem Continent die französischen Materialisten die Geister in Aufruhr brachten, hatte England seine besondern Materialisten. Der Arzt David Hartley gab im Jahre 1749 ein zweibändiges Werk heraus, welches grosses Aufsehen erregte. Es führte den sonderbaren Titel: ,,Betrachtungen über den Menschen, seinen Bau, seine Pflicht und seine Erwartungen".) Es sind hauptsächlich die „Erwartungen“ im zukünftigen Leben gemeint. Das Buch hat einen physiologischen, oder wenn man will, psychologischen Theil und einen the ologischen, und der letztere ist es, welcher am meisten Staub aufwarf. Hartley verstand sich auf theologische Fragen. Er war Sohn eines Geistlichen und hätte sich selbst diesem Berufe gewidmet, wenn ihn nicht Bedenken gegen die 39 Artikel zur Medicin getrieben hätten. Er huldigte also nicht dem,,Hobbismus“ in Sachen der Religion, sonst hätte von solchen Bedenken kaum die Rede sein können. In seinem Werke sehen wir, wo es ihm fehlte: er vertheidigt die Wunder, vertheidigt die Autorität der Bibel, handelt ausführlich vom Leben nach dem Tode, aber er bezweifelt die Ewigkeit der Höllenstrafen! Das griff der Hierarchie an die Wurzeln und warf auch auf seine übrigen Lehren den finstern Schatten der Ketzerei.

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Im physiologischen Theile seines Werkes unternimmt Hartley allerdings die vollständige Zurückführung des menschlichen Denkens und Empfindens auf Gehirnschwingungen, und es lässt sich nicht leugnen, dass der Materialismus aus dieser Theorie reichliche Nahrung gezogen hat. Sie verstösst aber in Hartley's Fassung nicht gegen die Orthodoxie. Hartley theilt den Menschen pflichtschuldigst in zwei Theile: Leib und Seele. Der Leib ist das Instrument der Seele, das Gehirn das Instrument des Empfindens und Denkens. Auch andere Systeme, bemerkt er, nehmen an, dass jede Veränderung im Geiste von einer entsprechenden Veränderung im Körper begleitet werde. Sein System versucht nur, gestützt auf die Lehre von der Association der Vorstellungen, eine vollständige Theorie dieser entsprechenden Veränderungen zu geben. Die Lehre von der Ideenassociation als Grundlage des geistigen Geschehens, ist in ihrem Keime schon bei Locke vorhanden. Es war ein Geistlicher, Reverend Gay3), welcher Hartley's unmittelbarer Vorgänger wurde, indem er alle Seelenvorgänge aus dem Zusammenwirken von Associationen zu erklären versuchte und diese Grundlage der Psychologie hat sich in England bis auf den heutigen Tag erhalten, ohne dass Jemand ernst

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