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B. Die Epik.

§. 309. Die Epik beschäftigt sich mit der Vergangenheit. Das epische Gedicht ist im Allgemeinen die poëtische Erzählung einer vergangenen Begebenheit. Der epische Dichter verhält sich zu seinem Stoffe nicht so wie der Lyriker; im Gegentheil, seine Subjectivität tritt gegenüber dem Objecte, der Begebenheit, ganz in den Hintergrund, und seine Kunst besteht darin, den Stoff als einen fertigen, ganz und gar abgeschlossenen, außer sich zu halten, sich ihn gegenüberzustellen und ihn so vor den Augen fremder Phantasie zu entfalten.

Die epische Handlung entwickelt sich nicht psichologisch, d. h. sie geht nicht aus der freien Selbstbestimmung des Helden hervor, der sein Sach' auf sich selbst gestellt hätte; sondern das Handeln des epischen Helden ist ein unbewustes Ringen gegen das Nothwendige und Unvermeidliche; die epische Handlung ist Begebenheit. Die Personen handeln; aber über ihnen waltet Gott, und, was Gott will, geschieht. Nichtsdestoweniger fällt das epische Gedicht dennoch nicht mit der Geschichte zusammen, weil es als harmonisches Ganzes eine innere Einheit hat, welche ihm bestimmte, aus seinem Wesen hervorgehende Grenzen setzt, die seine Handlung nicht ins Maßlose sich auflösen lassen. Diese Einheit des epischen Gedichtes bedingt aber mit Nothwendigkeit einen bestimmten und lebendigen Zweck der Handlung; ohne ein bestimmtes Ziel ist eine innere Einheit ganz und gar problematisch.

§. 310. Das epische Gedicht ist seinem Wesen nach ein Spiegelbild der Cultur. Als Culturgemälde muß es das ganze gesellschaftliche Leben seiner Zeit in sich aufnehmen. Aber auch die Naturschilderung hat ihre Berechtigung im epischen Gedicht; nur muß sie in stete Beziehung zum Menschen, zum Träger der Handlung, gebracht werden können. Unsere jetzigen Culturverhältnisse sind übrigens so verwickelter Natur, daß von einer erschöpfenden Behandlung derselben nicht mehr die Rede sein kann, ohne den Rahmen, in den das Kunstwerk gebracht werden soll, gewaltsam zu durchbrechen. Es sind freilich auch jezt noch einfache Verhältnisse zu finden; da aber die Personen, die in solchen Verhältnissen leben, nicht auf der Höhe der Bildung stehen, so kann der moderne Epiker sich ihrer

zum Zwecke ausführlicher Sitten schilderung nicht bemächtigen, ohne seine Mission zu gefährden. Ein einzelnes Schlaglicht, das er bisweilen auf derlei Verhältnisse wirft, genügt, um ein episches Lebensbild zu entfalten.

Hauptinhalt der epischen Handlung ist immer der Kampf, mag dieser äußerlich, mit den Waffen in der Hand, oder innerlich, auf selischem Gebiete, durchgefochten werden. Die Entscheidung des Kampfes fällt aber nicht der Willenskraft des Helden entsprechend aus, sondern, wie Gott will. Das Walten Gottes im Geschicke der Völker oder der Menschheit ist der Grundgedanke, der durch's epische Gedicht hindurch leuchtet. Das Hereinragen höherer Mächte in die Welt des Epikers findet sich daher bei den epischen Dichtungen aller Nationen mehr oder weniger vor. Nur erscheinen eben diese höheren Mächte je nach dem Glauben der Völker anders geartet. Jener Dichter, welcher die sogenannte Göttermaschinerie seines Heldengedichtes nicht dem Glauben seines Volkes gemäs einrichtet, d. h. der religiösen Bildungsstufe desselben anbequemt, darf von vornherein darauf gefasst sein, seine Leser kalt zu lassen.

Was nun die Ausdehnung des Stoffes anbelangt Stoff kann bekanntlich alles sein, was Gegenstand sprachlicher Mittheilung, was erzählt, was gesagt werden kann, so wird entweder nur eine einzelne Begebenheit, ein Gegenstand, eine Idee zur Darstellung kommen und für sich als Ganzes abgeschlossen, oder es werden eine Reihe von Begebenheiten und Gegenständen im Zusammenhang als harmonisches Ganzes vorgeführt und das großartige Bild einer bestimmten Culturwelt entfaltet im erstern Falle erhält das Gedicht je nach dem Character des Stoffes und der Art und Weise seiner Behandlung seinen eigenen Namen; im zweiten Falle heißt es stets Epos.

§. 311. Die epische Characteristik entwickelt an ihrem Helden eine Anzahl von Eigenschaften, die ihn in zahlreichen Beziehungen zu einer vielgegliederten Welt zeigen. Da aber der im Epos dargestellte Kampf ein Kampf der Massen, oft ein Völkerconflict ist, so hat der Hauptheld des Epos denn einen solchen gibt es dennoch - bei weitem nicht die hervorragende Bedeutung eines sich durch seine selbstschöpferischen Ideen isolirenden Characters; er ist der Träger der öffentlichen Meinung

des Jahrhunderts, er geht mit der Masse und unterscheidet sich nur dadurch von ihr, daß in ihm alle Fäden des Volksvertrauens zusammenlaufen, daß er der Träger aller Begebenheiten ist. Wie entwickelt nun das Epos seine Charactere? Es entwickelt dieselben von vielen Seiten, entfaltet ihr Leben in umfassender Weise, so daß dieselben mehrfache Berührungspuncte darbieten, und ihr Contrast dem epischen Gesetze harmonischer Abrundung gemäs ein sanfter sein muß. Zwar wird der Character eines jeden epischen Helden durch den ihm eigentümlichen Grundzug z. B. den der Großherzigkeit, der Treue, der Schlauheit u. s. w. sich scharf ausprägen; er wird aber, da sich der Held in verschiedenen Lagen von verschiedenen Seiten zeigt, nicht einseitig werden und so mehr die ganze menschliche Natur an sich zur Schau tragen. Als Träger der Cultur seiner Zeit kann er keine Schichte des Volkes, sondern eben nur das Volk repräsentiren. Im Ringen des Einzelnen zeigt sich das Ringen der ganzen Menschheit.

Da die göttliche Weltordnung eine Kette von Ursachen und Wirkungen schafft, deren Glieder fest ineinandergreifen, 80 folgt daraus für die Composition des Epos die Nothwendigkeit stetiger Entwickelung, ununterbrochenen Fortschrittes in Raum und Zeit; wir müssen den Helden Schritt für Schritt auf seiner Wanderschaft begleiten. Das Einschachteln früherer Begebenheiten in spätere verletzt nicht das eben angeführte Gesetz epischer Stetigkeit, weil die Erzählung selbst als eine Begebenheit sich zwanglos an die andern anschließt. Zudem soll der Epiker seinen Hörer in Spannung versetzen; zwar bewegt sich diese langsam, unter zahlreichen Hemnissen dem epischen Ziel entgegen; aber sie ist ja keine Spannung, die auf die Zukunft gerichtet eine solche kennt des Epos wegen seines fest bestimmten Zieles nicht, sondern eine Spannung, die auf die Vergangenheit geht. Die handelnden Personen haben ja ein Vorleben, das, anfangs in misteriöses Dunkel gehüllt, sich erst allmählich klärt und aufschließt. Diese Enthüllungen im rechten Augenblick zu machen, wo sie bedeutsam für den ganzen Gang der Ereignisse werden, und so fort und fort den Leser oder Hörer in Spannung auf die Vergangenheit zu erhalten, darin liegt zum Theil die Kunst des Epikers, sobald er uns in die Mitte der Begeben

wäre

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heit versetzt hat.

Von der Einheit der Handlung, bewirkt durch das bestimmte und lebendige Ziel, wird also die Episode, so nennt man jede Nebenbegebenheit, die außerhalb des Fortganges der Haupthandlung liegt, keineswegs ausgeschlossen; der Epiker, dessen Aufgabe es ja ist, ein Culturbild, das sich im Helden abspiegelt, zu geben, muß, will er dasselbe einigermassen erschöpfen, bisweilen das Ziel aus dem Auge verlieren, d. h. den geraden Weg verlassen, um sich mit Dingen zu beschäftigen, die oft nur in loser Beziehung zum Helden des Epos stehen, aber wesentlich sind zum Zwecke eines Culturgemäldes.

Stellen wir die epischen Motive, welche die epische Technik des geschickten Abbrechens und Aufnehmens der Erzählung und so ein beständiges Wacherhalten des Interesses ermöglichen, übersichtlich zusammen, so erhalten wir 1. rückwärts schreitende, wodurch die Handlung von ihrem Ziele entfernt wird; 2. hemmende, welche den Gang aufhalten oder den Weg verlängern; 3. zurückgreifende, wodurch dasjenige, was vor der Epoche des Gedichtes geschehen ist, hereingehoben wird und 4. vorwärtsschreitende, wodurch die Handlung gefördert wird.

§. 312. Der Styl des Epos ist plastisch, im eminenten Sinne objectiv. Klarheit, Bestimmtheit, reines Gepräge und zwar bis in die kleinsten Formen wird von den epischen Characteren gefordert. Das äußere und innere, geschichtliche und selische Leben muß diese Objectivität an sich tragen; stets bleibt der Dichter aus der Sache; er führt die Begebenheiten und Gedanken mit der Ruhe eines Berichterstatters vor der Phantasie des Hörers vorüber, und seine eigene Empfindung wird sich nur kundthun in der Wärme und Innigkeit, von der die Empfindung seiner Helden durchdrungen ist. Die Sprache des Epikers wird also eine klare, bestimmte und würdevolle sein; unter den Tropen ist es die Metapher in ihrer weiteren Entfaltung, dem Vergleich (der Comparation), die im Epos vorzüglich in Anwendung kommt. All das Gesagte gilt aber nur vom reinen Epos. In den lyrisch-epischen Mischgattungen läst der Dichter, sei es in der Auffassung oder in der Darstellung, mehr oder weniger seine Subjectivität mit einfließen und weicht in demselben Grade vom rein Epischen ab. Vom Drama entlehnt das Epos nur

scheinbar bisweilen die Form des Dialogs, der aber durchaus nichts wesentliches, sondern nur zufällige Einkleidung ist und sich auch durch sein behagliches Schildern und Ausmalen gar sehr vom dramatischen Dialog unterscheidet.

§. 313. Als Versform liebt das Epos vorzüglich ein ruhiges, majestätisch sich fortbewegendes Metrum; lange Verszeilen und Rhythmenwechsel kennzeichnen die epische Form. Der Hexameter, der Nibelungenvers, die Ottave, Terzine sind episch; jedoch finden sich in den lyrisch-epischen Mischgattungen oft auch die manchfaltigsten Rhythmen.

§. 314. Das Gebiet des Epischen zerfällt in eine Menge Untergebiete, die nun in gehöriger Ordnung behandelt werden sollen.

I. Die Volksepopöe.

Stoff der Volksepopöe ist die Cultur des heroischen Zeitalters, einer Epoche, in welcher der Mensch noch den Eingebungen des Augenblicks, den Eingebungen seines Gemüthes folgt und von religiösen oder politischen Satzungen keinen Begriff hat. Er folgt dem kräftigen Zug seiner Natur und ahnt in ihr die Stimme der Gottheit. Alles, was ihn drängt und treibt, sei es äußerlich oder innerlich, alles nimmt bei ihm Gestalt an, wird zur Person, zur Gottheit. Daher dieser beständige Verkehr der Götter und Menschen im Volksepos und daher für dasselbe die sogenannte Göttermaschinerie unentbehrlich. Dieses Eingreifen der Geisterwelt, der wohlwollenden wie der feindseligen verleiht dem Volksepos seinen großartigen Character, der gerade in dem unabänderlichen Gange gerechter Weltordnung über allen Bestrebungen der Menschheit besteht. Zu den Bedingungen des Volksepos gehört die Selbständigkeit und Unabhängigkeit der kämpfenden Helden; sie sind die Träger der Cultur ihrer Zeit und können als solche unmöglich jemand andern über sich anerkennen, als eben nur die Gottheit. Jedes Volksepos ist in den entscheidenden Zügen dem Dichter vom Volke vorgedichtet worden; er hat nur die Aufgabe, die aus dem Meer der Sage gewonnenen Perlen zu einem kunstvollen Ganzen aneinanderzureihen und demselben Harmonie zu verleihen. Der Grundton

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