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der durch den Tanzschritt gebundenen Rede, die er „Chorlied" nennt, behauptet: „Das ist die einzige Quelle, aus der der Rhythmus, wenn wir die Sache im Grofsen ansehen, herstammt: durch den Tanz des Chorliedes ist der Rhythmus in die Welt gekommen" (S. 12). Selbst wenn wir davon absehen wollen, dafs das Zusammenspringen und das Zusammensingen mehrerer nicht hat eintreten können, bevor ein rhythmisches Einzelspringen und Einzelsingen die Grundlage und die Möglichkeit dafür gegeben hat, so ist der Vorgang selbstverständlich umgekehrt: die angenehme Empfindung, die aus der Erkenntnis des Zusammengehörens gleichmässig sich wiederholender Eindrücke im Gegensatze zu der bei ungleichmässiger Wiederholung nicht zu erlangenden Einheitlichheit des Eindrucks, bildet die Grundlage, die in allen Künsten auftritt, auf dem Gebiete des Sehens nicht minder wie auf dem des Hörens, und damit die Vorbedingung für die Herbeiführung einer rhythmischen Bewegung des Körpers und der Laute, die schliesslich auch zu dem zugleich getanzten und gesungenen Liede und wiederum durch eine Fortführung desselben Grundsatzes zu einem ebensolchen Chorliede führen kann. Eine die Frage vertiefende Untersuchung würde die Entstehung und das Wesen des Rhythmus als der ersten zum Kunstschaffen führenden Äusserung menschlicher Geistestätigkeit im Gegensatze zu tierischer zum Ziele haben: hier wird mit einem Worte darüber abgesprochen, das bei flüchtig verrauschendem Schalle geistreich klingt, das aber nicht zur Dauer des im Drucke gefesselten Wortes hätte kommen sollen. Geschieht dies aber und fährt ein solches Wort, das durch seine drastische Kraft sich doppelt leicht einprägt, unter der Flagge eines so stolzen Namens daher, so zeigt sich deutlich die Gefahr einer unfertigen Arbeit, zumal solche unhaltbare Anschauungen nicht etwa vereinzelt erscheinen: die ganze ästhetische Grundlage schwankt in dieser Beziehung sehr bedenklich.

Um die Ausführungen nicht Schritt für Schritt zu begleiten, was zu einem neuen Buche führen müfste, sei hier nur noch auf einiges Wenige, zunächst das wichtige Kapitel über den „Ursprung der Poesie" hingewiesen. Die Untersuchung leidet nur allzusehr an dem Mangel, den Scherer den Philosophen vorwirft, dafs sie „ein partikulares Phänomen für das Ding an sich" nehmen: der erotische Tanz der Australier spielt in seiner Untersuchung die Rolle des partikularen Phänomens. Da lernen wir denn: „Die Poesie gewährt Vergnügen durch die Vorstellung eines künftigen Vergnügens“ „begleitet von altüberlieferten Äufserungen des wirklichen Vergnügens: Springen und Jubeln, Tanzen und Singen" „auf höherer Stufe verdeutlicht durch eine symbolische Handlung".,,Und vermutlich ist auch die dritte Äufserung des Vergnügens, das Lachen, damit verbunden: vermutlich lachen diese Menschen auch im Vorgefühle des Vergnügens“. „Der ursprüngliche Gegenstand ist vermutlich erotischer Natur" (S. 74 ff.). Eine in ihrer Begründung gekünstelte Untersuchung versucht die Lösung für die schwere Frage:,,wie kommt's, dafs das Unangenehme in der Poesie angenehm wird, dafs der dargestellte Schmerz Vergnü

gen macht?" Das Schlufsergebnis des Ganzen wird wieder in ein drastisches Wort zusammengefasst:,,die Poesie entspringt aus der Heiterkeit und wirkt auf die Mehrzahl der Menschen als Vergnügen“ (S. 113). Die Frage auf welcher menschlichen Eigentümlichkeit das Vergnügen und speziell das ästhetische Vergnügen beruht, bleibt unberührt. In keiner Weise die Sache treffend, ist er geneigt anzunehmen, Gedächtnis und Phantasie seien allerdings dasselbe: die Fähigkeit zur Reproduktion aller Vorstellungen" (S. 161). Erst durch die Hinzunahme der Behauptung, dafs die Reproduktion „mehr oder weniger genau“ ist, gelangt er dazu der Phantasie eine weitere Arbeit zuzuschreiben, die also auf einer Unfähigkeit, einem Mangel beruht: „Die Phantasie ist die verwandelnde Reproduktion." Da nun aber auf der umwandelnden Kraft der Phantasie gerade die poetische Fähigkeit beruht, so mufs man folgern, dafs wenn diese wegfiele, d. h. wenn die Phantasie imstande wäre die Vorstellungen ganz genau wieder zu geben, diese Vollkommenheit der Phantasie den Fortfall der Poesie zur Folge haben müsste. Die wesentlichste Eigenschaft der Phantasie, Neuverbindungen herzustellen, die nur im Subjekt und nicht in einem tatsächlich vorhandenen Objekt ihre Begründung haben und die nicht eigentlich die Quelle für das Schaffen", die „Poesie" sind, wird nicht erwähnt. Ihre Stelle wird ersetzt durch die „Fäden, die zwischen den Vorstellungen hin und herlaufen und die Kombinationen vermitteln" (S. 167). Aber auch hier handelt es sich immer nur um Reproduktion. Einen besonderen Wert legt Scherer auf die Bedeutung, die das Publikum für den Dichter und sein Arbeiten hat. Er geht darin so weit, dafs er das wichtigste ästhetische Prinzip, die Einheit in der Mannigfaltigkeit oder, wie er es auch mit Fechner bezeichnet, die einheitliche Verknüpfung des Mannigfaltigen, nicht aus dem Künstler und der ihm eigentümlichen Natur herleitet: „diese [einheitliche Verknüpfung des Mannigfaltigen] entspringt für mich also aus dem Publikum". Wäre dies Wort nicht ein rasch gesprochenes, sondern mit langsamer Überdenkung der Folgerungen aufgeschriebenes, so hätte es vielleicht gelautet: Die Rücksicht auf das Publikum bildet neben den wesentlichen inneren Gründen auch eine äufsere Veranlassung für den Dichter diesen Punkt besonders zu berücksichtigen und der Aufnahmefähigkeit des Publikums durch möglichst scharfe Betonung nahe zu bringen." So aber werden wir, wenn Scherer hinzufügt, während sie bei Anderen anders hergeleitet wird", uns allerdings auf die Seite der „Anderen“ stellen müssen.

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Alle die hier berührten Fragen, zu denen in dem inhaltsreichen Buche noch viele sich anschliefsende kommen, gehören recht eigentlich in das Gebiet der Ästhetik, sind aber selbstverständlich auch für eine Poetik, die nur ein einzelnes Gebiet der Ästhetik behandelt, wichtig und bilden für sie den Unterbau. Dafs Scherer sie so ausführlich, wenigstens im Verhältnis zum übrigen Teile des Buches behandelt, ist um so merkwürdiger als er von der Ästhetik überhaupt herzlich wenig hält. Während er einerseits sehr richtig eine ihrer Aufgaben dahin bestimmt,

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dafs sie von der Geschichte lernen soll allen Erscheinungen der Dichtkunst und allen Völkern der Erde gerecht werden und ihnen im System ihre Stelle vorbehalten“, so untersagt er ihr mit aller Entschiedenheit vorschnell von Gut und Schlecht zu reden“, oder vielmehr er erklärt: „des Urteils über Gut und Schlecht kann sie sich gänzlich enthalten“ (S. 64). Er findet den Hauptfehler der „früheren Poetik und Ästhetik darin, dafs sie „prinzipiell parteiisch war": sie ,,sucht das wahre Epos, die wahre Lyrik, das wahre Drama“ (S. 62): ,,die Aufgabe der früheren Poetik, die wahre Poesie zu suchen, hat sich als unlösbar erwiesen" (S. 63). Wir lassen es dahin gestellt, ob dieser Vorhalt und der ihm zu Grunde liegende Tatbestand ohne weiteres zuzugeben ist, weisen vielmehr nur darauf hin, dafs Scherer keineswegs auf das Urteil Gut oder Schlecht verzichtet: er giebt ein ausführliches Kapitel über den Wert der Poesie“. Da zeigt sich „die Poesie als eine Macht. Es ist ein würdiger Gegenstand des Strebens, an dieser Macht teilzuhaben um sie auszuüben, an ihren Segnungen teilzunehmen um sie zu geniessen“ (S. 118). Aber dann muss es doch auch erlaubt sein, die Schöpfungen, die diese Segnungen bringen als gut zu bezeichnen, und solche, die keine bringen, als schlecht, so wohl ihrem inneren Werte nach wie mit Rücksicht auf ihre Form. Dann mufs man aber auch die Vorschrift machen dürfen, dass das Gute erstrebt, das Schlechte vermieden werden soll. Dieser Ansicht ist jedoch Scherer keineswegs: die Ästhetik und die Poetik haben nichts vorzuschreiben, sie sollen nicht legislativ sein. Aber die Wertschätzung darf doch nicht fehlen. Da findet denn Scherer den Ausweg: „die Handlungen zerfallen in solche, welche niedrige Gefühle in uns erregen, und in solche, welche hohe Gefühle in uns erregen. Ich sage nicht: die Poesie soll hohe Gefühle anregen, sondern ich sage dem Dichter: willst du die Anerkennung der Edlen, so zeige dich edel. Genügt es dir z. B. die niedere tierische Sinnlichkeit des Menschen anzuregen, gut! tue es. Aber sei darauf gefafst, dafs die Menschen dich betrachten als ein Werkzeug niedriger Lüste und dich nicht höher achten als eine käufliche Schöne" (S. 220 f.). Das heifst denn doch den Teufel mit Beelzebub austreiben! Die Ästhetik darf also nicht mehr ästhetisch urteilen: dein Werk ist schlecht! sondern sie mufs ethisch urteilen: du selbst bist ein schlechter Kerl! Mich dünkt, die ästhetische Unparteilichkeit wäre vollständig gewahrt, wenn urteilte: das Werk, das niedere tierische Sinnlichkeit anregt, führt sachlich sowohl dem Autor gegenüber wie inbezug auf gleichgestimmte Seelen eine durchaus berechtigte Existenz; nichts destoweniger ist es der Kunst gegenüber ein Mifsbrauch, weil es die Mittel der Kunst zu einem Zweck benutzt, der der Kunst ferne steht: die niedere tierische Sinnlichkeit soll durch die Natur, nicht durch die Kunst gereizt werden. Insofern das Werk ein durch Mifsbrauch entstandenes ist, muss es von der Ästhetik als ein künstlerisch schlechtes bezeichnet werden: das Urteil über den Menschen aber gehört nicht in die Ästhetik, und Scherers Verweisung auf die Ethik löst die Frage nicht,

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wie sich die Ästhetik selbst zu solchen Werken zu verhalten hat; noch weniger aber geschieht dies durch die Behauptung, dafs diese Frage überhaupt aufserhalb des Bereiches der Ästhetik steht. Diese braucht noch nicht legislativ" zu sein, wenn sie auf Grund ihrer Erkenntnisse Kritik übt.

Aber Ästhetik und immer Asthetik! Was wird dann aus Scherers ,,Poetik?" "Von nun an ist Abkürzung nötig," heifst es gegen Schlufs der Einleitung S. 203: das Buch, soweit es von Scherer herrührt, hat 276 Seiten. Scherer bestimmt den Begriff der Poetik gleich anfangs S. 32 so: „Die Poetik ist vorzugsweise die Lehre von der gebundenen Rede; ausserdem aber von einigen Anwendungen der ungebundenen, welche mit den Anwendungen der gebundenen in naher Verwandtschaft stehen." Dafs damit nicht viel anzufangen ist, ergiebt sich aus der Unbestimmtheit des Zusatzes: worin besteht die nahe Verwandtschaft und wie weit gehen die „einigen Anwendungen?" Der Grund für diese schwankende Bestimmung liegt darin, dass Scherer als Urelemente der Dichtung neben dem Chorlied das Sprichwort und das Märchen aufstellt, also sofort Platz für Schöpfungen in ungebundener Rede haben muss. Nun ist aber die Poetik ganz einfach die Lehre von den dichterischen Gattungen und Formen: der Unterschied der gebundenen und der ungebundenen Rede ist kein mafsgebender. Allein gerade diese Fragen interessieren Scherer am wenigsten: überall bricht wieder der weitere und gröfsere Gesichtspunkt durch, die inneren Grundlagen der Dichtung zu ergründen vortrefflich, nur ist das keine Poetik. Die Frage nach den Gattungen wird nur gestreift, die Formen nur flüchtig und nur teilweise erwähnt, das Verhältnis von Gattungen und Formen nicht behandelt. So bezeichnet Scherer jene Urelemente der Dichtung, die folgerichtigerweise zur Erkenntnis der Gattungen führen müssen, mit Namen, die besonderen Formen zukommen. Und doch ist die Sache durchaus richtig sobald man die Urelemente mit den ihnen zukommenden Gattungsnamen bezeichnet: Das Märchen ist Epik, das Chorlied ist Lyrik, das Sprichwort ist reflektierende Dichtung, eine Erkenntnis, zu der man allerdings auf ganz anderem Wege kommen kann. Ob sich diese Gattungen dieser oder jener Form bedienen, ist eine zweite Frage: so kann Scherer mit dem Kern der Frage sehr recht haben, wenn man auch gewichtige Zweifel hegen muss, ob die von ihm aufgeführten Formen des Chorliedes, des Märchens, des Sprichwortes wirklich die ältesten Verkörperungen der von ihnen dargestellten Gattungen sind.

Es ist selbstverständlich, dafs in einer Arbeit neben bedeutenden Punkten, die zum Widerspruche zwingen, sich andere finden, die als eigenartige Ergebnisse eines selbständigen Denkens dauernd die Kraft immer erneuter Anregung zum Weiterdenken und Weiterforschen geben, ebenso dafs neben vielen treffenden Einzelbemerkungen sich manche finden, die doch wohl nur der augenblicklich vorherrschenden Anschauung beim mündlichen Vortrag ihre Eingebung verdanken

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und bei Durcharbeitung des Gegenstandes wohl gefallen wären, wie die auffallende Behauptung (S. 240), dass bei Shakespeare „eine gleichmäfsig gehobene Sprache" herrsche; dann auch wieder andere, die auf augenblicklichem Übersehen beruhen und die trotz aller Pietät für den Verfasser, die der Herausgeber in so schöner Weise durchweg bewiesen hat, doch hätten geändert werden dürfen, wie wenn (S. 215) als Beispiel für Geschwister, die sich lieben und nicht kennen" Goethes „Geschwister" angeführt werden, die bekanntlich sich lieben und keine Geschwister sind. Viel wichtiger ist es jedoch einige Punkte hervorzuheben, bei denen sich die von Scherer gegebene Anregung ganz unmittelbar verfolgen lässt.

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Im Anschluss an seine Begriffserklärung der Poetik stellt Scherer das Programm dessen, was zu lehren ist, auf. Er will nicht sowohl eine Beschreibung des Hervorgebrachten lehren als vielmehr „die dichterische Hervorbringung, die wirkliche und die mögliche, vollständig beschreiben in ihrem Hergang, in ihren Ergebnissen, in ihren Wirkungen" (S. 65). „Eine umfassende Klassifikation ist nötig. Einen Anfang macht die Lehre von den Dichtungsarten, aber diese ist höchst unvollständig; besonders bezüglich des Inhalts der Lyrik muss man viel genauer sein, als dies bisher der Fall war" (S. 67). Scherer weist auf die Notwendigkeit hin zu allgemeiner psychologischer Erfahrung vorzudringen" (S. 68) und erklärt S. 69, worum es sich hier ungefähr handeln mufs: die allgemeinen Bedingungen dichterischer Hervorbringungen, den eigentlichen dichterischen Prozefs, endlich die Dichtungsarten und die verschiedenen möglichen Formen innerhalb jeder Dichtungsart." Es liegt für ihn der „Accent nicht auf der Lehre von den Gattungen, sondern auf dem was vorhergeht: auf dem allgemeinen Teil, der Betrachtung des dichterischen Prozesses“ (S. 70). Sehr wichtig erscheinen ihm die Selbstbekenntnisse der Dichter: ,,Hätten wir doch mehr solche Selbstbekenntnisse von Dichtern," ruft er S. 169 aus: „Das, was etwa vorhanden, wäre sorgfältig zu sammeln." Zur Charakteristik der Dichter und ihrer Stile sollen allgemeine Schemata" entworfen werden (S. 178). Als Versuch führt er „ein oberflächliches Buch" an: Deschanel, Physiologie des écrivains et des artistes (Paris 1864). Als Kapitelüberschriften giebt er: le siècle; le climat; le sol; la race; le sexe; l'âge; le tempérament; le caractère; la profession; l'hérédité physique et morale; la santé; le régime; les habitudes (Erregungsmittel der Dichter, z. B. Kaffee, Thee, Wein; Arbeitszeit der Dichter; Nacht, Morgenfrische u. s. w.). Hierzu macht er die interessante Bemerkung: „Solche Mitteilungen sind meines Wissens zu einer Verallgemeinerung noch nicht geeignet, wenn es auch wohl möglich ist, dafs man damit etwas anzufangen lernt“ (S. 179).

Im Anschlufs nicht an Scherers Buch, sondern wohl an Scherers Lehreinfluss ist R. M. Werners Buch geschrieben: „Lyrik und Lyriker." Es galt ihm „den dichterischen Prozefs in der Lyrik soweit als möglich zu erforschen" (Vorrede XI). Er bestrebt sich eine umfassende

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