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Auf die Art und Weise, wie Wieland seinen Stoff nach seiten der dramatischen Technik und Komposition gestaltet hat, ist hier einzugehen nicht der Raum. Nur ein paar Worte über die Behandlung der beiden Hauptcharaktere, soweit von einer solchen die Rede sein kann, mögen gestattet sein. Bei Clementinen lag die Hauptschwierigkeit in dem Zustande hysterischen Tiefsinns, in dem Wieland sie ungeschickterweise gleich zu anfang auf der Bühne erscheinen lässt. Mendelssohn sieht hierin den schwächsten Punkt des Stücks. Den Wahnsinn als fait accompli auf die Bühne zu bringen, erklärt er mit Recht als dramatisch durchaus verwerflich, da es undenkbar sei, „dass man sich für eine rasende Person interessiere, die man nie in ihrem heiteren Gemütszustande gekannt und geliebt oder hochgeachtet hat". Nur wo der Zuschauer die Verwirrung des Geistes gleichsam vor seinen Augen oder doch erst im Verlauf der Handlung werden und entstehen sieht, kann er mit der betroffenen Person wirklich sympathisieren. Ophelia, Lear, Gretchen u. a. m. sind die vollkommensten Zeugnisse hierfür. Bei Wieland erscheint die erste Scene, in der Clementina, noch in völliger Geistesnacht befangen, auftritt, viel zu sehr als absichtliche Spekulation auf das Mitleid des Zuschauers, um nicht zu verstimmen. Während es sodann dem englischen Grandison durch liebevolle Zusprache erst ganz allmählich gelingt, Clementinens Trübsinn aufzuhellen, mufs bei Wieland dieser psychiatrische Prozefs in ebenso vielen Stunden vollzogen werden, als es dort Wochen sind, und vom dritten Akt an gilt Clementina dem Zuschauer bereits wieder als geheilt. Alle die kleinen, feinen Züge und Schlaglichter, mit denen Richardson seine vielbewunderte Heldin ausgestattet und durch die er sich als ein Meister epischer Charakteristik bewährt hat, sind im Drama spurlos verloren gegangen. Aus Clementina ist eine phrasenreiche Tragödienheldin im Geschmack der französischen Klassizisten geworden, eine Art deutscher Zaïre, und ein stark verwässerter Auf

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gufs des englischen Originals. Eine ähnliche unvorteilhafte Wandlung hat sich auch Grandison selbst gefallen lassen müssen, dieses gemeinsame Ideal aller weiblichen schönen Seelen der Zeit, den man füglich den ins moralische übersetzten Amadis nennen könnte. Ein derartig vollkommener Charakter, der mangels eigener Entwicklung durch den Mund anderer Personen charakterisiert werden muss, ist an sich schon undramatisch, und Lessing hat hierüber in einem ganz ähnlichen Falle eine klassische Bemerkung gemacht (H. Dr. 9. St.). Er spielt bei Wieland eine völlig passive Rolle, und all sein Handeln besteht allein in zahlreichen Reden und häufiger Rührung. Ist schon Richardsons tugendsamer Held für unsere Begriffe eine Ausschreitung der moralisierenden Phantasie, so wird dieser Grandison vollends zur Karrikatur.

So ergiebt eine Betrachtung dieses rasch verschollenen Stückes wenigstens ein negatives Resultat: dafs Wieland zum Dramatiker so ziemlich alles und jedes fehlte. Und es darf als ein wahres Glück betrachtet werden, dafs ihn die rechtzeitige Erkenntnis dieser Tatsache verhinderte, sein dichterisches Talent auf einem für ihn unfruchtbaren Gebiete zu verzetteln.

Berlin.

Der „Clericus Eques" des Johannes Placentius und

das 22. Fastnachtsspiel des H. Sachs.

Von

A. L. Stiefel.

H. Holstein hat in der Zeitschrift für deutsche Philologie 23 B., S. 436-51) einen Artikel „Zur Litteratur des lateinischen Schauspiels des 16. Jahrhunderts“ veröffentlicht, worin er uns mit drei Dramen eines bisher wenig bekannten Johannes Placentius bekannt machte. Holstein begnügte sich mit der Inhaltsangabe der Stücke und versäumte es, sich über deren Quellen und andere Beziehungen zu äussern, was ich wenigstens für ein Stück hier thun will. Unter den dreien verdient nämlich das

Clericus Eques

betitelte Schauspiel besonderes Interesse, weil es inhaltlich mit H. Sachsens 22. Fastnachtspiel „Der farendt Schuler im Paradeifs“ in der Hauptsache übereinstimmt. Der Nürnberger verfafste sein Spiel am 8. Oktober 1550, nachdem er den Stoff schon am 7. Mai 1549 als Meistergesang behandelt hatte; der Clericus Eques erschien aber 1535 im Druck und das dem Stück vorangestellte Widmungsschreiben ist noch ein Jahr früher datiert. Es kann sich also nur darum handeln, ob etwa Sachs den Clericus Eques gekannt, oder ob er mit ihm eine gemeinsame Quelle benutzt hat. Diese Frage soll uns hier beschäftigen. Des besseren Verständnisses halber möge kurz der Inhalt des deutschen Spiels folgen:

Ein farendt Schuler" kommt zu einer „Pewrin", sie um eine milde Gabe bittend, und bemerkt, er komme eben von Paris. Was weifs das einfältige Weib von Paris? Für sie hat nur Paradies einen Sinn und daher fragt sie den „Schuler“, ob er ihren vor einem Jahre gestorbenen ersten Mann nicht darin gesehen habe? Der Schüler schnell begreifend, welches Geistes Kind er vor sich hat, bejaht die Frage, schildert die Lage des Verstorbenen als sehr traurig, so dass

die „Pewrin“, von Mitleid gerührt, dem „Schuler" Geld, Kleiderstoffe u. s. w. für den Unglücklichen mitgiebt. Ihrem heimkehrenden zweiten Mann erzählt die Frau naiv freudig das Geschehene und dieser, rasend über den dummen Streich des „Dildap“ von Weibes, verbeifst seine Wut und eilt dem Gauner zu Pferde nach, um ihm die Beute wieder abzujagen. Als der „Schuler" sich verfolgt sieht, versteckt er die Sachen, entfernt, was ihn kenntlich machen müsste und berichtet dem Bauern, der ihn ahnungslos nach dem Betrüger fragt, dafs dieser sich kurz vorher seitwärts in die Gebüsche geschlagen habe. Der Bauer steigt ab, um in der angegebenen Richtung den Wald zu durchsuchen und giebt dem Gauner das Pferd zu halten. Kaum ist der Tor verschwunden, so schwingt sich der Schüler aufs Pferd und giebt ihm die Sporen. Der betrogene Bauer verliert das Recht seinem albernen Weibe Vorwürfe zu machen; ist es doch ihm, dem Klugen, auch nicht besser als ihr, der Dummen ergangen. Und so sagt er der Frau, er habe dem „Schuler“ auch noch das Pferd gegeben, „Auff das er kumb in kurzer zeit Ins Paradeiss“.

In meiner Abhandlung „Über die Quellen der H. Sachsischen Dramen“, die, während ich dieses schreibe, den Druck*) verlässt, gelangte ich bezüglich Hans Sachsens Fastnachspiel zu dem Ergebnisse, dafs die 463. Erzählung in J. Paulis „Schimpf und Ernst (Oesterleys Ausgabe S. 274) die Hauptquelle sei. lung, einzelne Nebenumstände und mehrere erheben das über jeden Zweifel. Aufser den erwähne ich noch folgende:

Sachs V. 199.

Wil leinen mich an meinen stab,

V. 202

Hast nit ein sehen laufen du,
Hat ein gelbs strenlein**) an dem
hals

Vnd tregt auff seinem ruck nach

mals

Ein kleines pürlein, das ist plab?

Der Verlauf der Handwörtlich entlehnte Sätze dort angeführten Stellen

Pauli.

vnd lent sich also vff ein stecken.

hast du nit ein gesellen gesehen, der tregt ein weifs blunderlin vff dem rucken.

*) In Behaghels Germania N. R. XXIV, p. 1–60, vgl. p. 14.

**) V. 144 sagt die Bäuerin: „An seinem hals ein gelbes garn“. Auch das führt auf Pauli zurück, wo es heisst: „(die Fraw) . . . sahe das gernlin das er an hat.“ Ztschr. f. vgl. Litt.-Gesch. u. Ren.-Litt. N. F. IV.

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Allein Pauli kann nicht die einzige Quelle des Nürnbergers sein. Es fehlt bei ihm das komische Mifsverständnis Paradies für Paris ferner hat die Frau nicht ihren Mann, sondern ihren Sohn verloren. Nun finden sich diese beiden charakteristischen Züge in den Facetiis des Heinrich Bebel und ich glaubte bisher, dafs diese Sachsens zweite Quelle seien. Bei nochmaliger sorgfältiger Vergleichung des Spiels mit der kurzen lateinischen Anekdote musste ich jedoch meine Ansicht ändern. Damit der Leser sich selbst ein Urteil bilden kann, will ich die Bebelsche Erzählung hier ganz anführen.*)

Jocofum factum cuiufdam vetulae.

Cvm quaedam, viatorem pauperem ftudendi gratia Parhifios proficifcentem, rogaret, quo nam ire vellet? & ille, Parhifios, refpondiffet, intellexit vetula Paradisum. Proinde dixit, maritum suum, qu vita excefferat paucis ante diebus etiam illo commigraffe: rogavitque illum vt veftes argentum, & alia quaedam illi portare dignaretur. Qui, quae vetula dederat, accipiens, iter conftitutum confecit, atque rebus ad ufum & victum neceffariis provifus in egregium virum evafit.

Da fällt sogleich auf, dass der Student erst auf Befragen sagt, dafs er nach Paris reist, während er bei Sachs unbefragt bemerkt, dafs er von Paris kommt, ferner, dafs der Mann des dummen Weibes erst vor einigen Tagen gestorben, während er es bei Sachs schon seit Jahresfrist ist; endlich ist noch Bebels ganz verschiedener Schluss

dafs der Student von „argentum vestes etc.", die ihm so zu sagen aufgenötigt worden waren, einen guten Gebrauch macht und ein trefflicher Mann wird zu beachten. Sachs würde sich diesen Zug gewifs nicht entgehen haben lassen, wenn er den Schwank Bebels gekannt hätte.

Ausserdem bietet Sachs Mehreres, das weder bei Pauli noch bei Bebel zu finden ist. So sagt z. B. „der farendt Schuler" von dem Verstorbenen (V. 47 ff.):

Er geht dort vmb ohn hossn vnd schuch,
Vnd hat ahn weder hem noch bruch,

Sonder wie man jn legt ins grab;

während Pauli nur sagt: „er leidet hunger vnd grosen Frost“. Bei Sachs ist die Frau sehr unglücklich über die Not des Verstorbenen,

*) Ich benütze Nicodemi Frischlini Balingensis Facetiae selectiores: qvibvs ob Argvmenti fimilitudinem accefferunt Henrici Bebelii, P. L. Facetiarum Libri tres etc. Argentorati Typis haeredum Bernhardi Iobini 1600. 135 Bl kl. 8°. Der Schwank steht Bl. 47 b.

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