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Zur Lehre

von den Darstellungsmitteln in der Poesie.

Von

Hubert Roetteken.

n Viehoffs Poetik*) ist das dritte Kapitel des zweiten Buches im ersten Bande gewifs das wertvollste. Viehoff stellt hier eine Reihe von Kunstmitteln zusammen, durch welche es dem Dichter gelingt, in unsere Phantasie Bilder von Dingen aus der physischen Welt einzupflanzen; es handelt sich namentlich um das innere Schauen von Gestalten. Ich füge zu diesen Untersuchungen einiges hinzu.

Viehoff ist zu seinem Ergebnis auf folgendem Wege gelangt. Es wurden zunächst aus Gedichten solche Stellen gesammelt, welche eine besonders starke Wirkung ausübten. Durch Gruppierung dieses Materials wurde auf empirischem Wege festgestellt, dafs gewisse Wirkungen von bestimmten Kunstmitteln abhängen. Dann wurde versucht, diese Abhängigkeit auf allgemein anerkannte Sätze der empirischen Psychologie zurückzuführen. Trotz dieser gewiss richtigen Methode bin ich von manchen Sätzen Viehoffs nicht überzeugt. Seine psychologischen Auseinandersetzungen scheinen mir nicht immer ganz einwandsfrei und seine Beispiele versagen hier und da ihre Wirkung auf mich oder äufsern sie wenigstens in anderer Weise, als Viehoff es beschreibt. Nun hat zwar Viehoff seine Beobachtungen nicht nur an sich selbst gemacht, sondern er konnte bei seiner Stellung als Lehrer auch an einer grofsen Anzahl jüngerer Personen solche Beobachtungen machen, und so scheint es etwas dreist, wenn ich mein abweichendes Verhalten gegenüber einer solchen Menge von Versuchsobjekten geltend machen will. Allein Viehoff teilt nicht mit, in welcher

*) Die Poetik auf der Grundlage der Erfahrungsseelenlehre. Trier 1888. Ztschr. f. vgl. Litt.-Gesch. u. Ren.-Litt. N. F. IV.

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Weise er jene Beobachtungen gemacht hat. Man mufs bei dem Abfragen äusserst vorsichtig sein, man darf jedenfalls nicht direkt fragen, ob die Versuchsperson bei dieser oder jener Gelegenheit nicht diese oder jene bestimmte Anschauung habe, sonst spannt sich die Aufmerksamkeit auf die bezeichnete Anschauung, und wenn sie nun erscheint, so ist es fraglich, ob der Grund davon wirklich in der Dichterstelle oder in jener Frage liegt. Namentlich wenn der Lehrer mit seiner Autorität an den Schüler eine solche suggerierende Frage richtet, wird der Betreffende das Gefühl haben, dafs er die bezeichnete Anschauung doch haben müfste und sich Mühe geben, sie spontan hervorzubringen. Auch wenn man sich auf die allgemeine Frage beschränkt, ob die Stelle irgend einen Eindruck mache und welchen, ist man keineswegs sicher, eine Antwort zu erhalten, auf der sich bauen liefse; Viehoffs Schüler werden jedenfalls sehr bald gewufst haben, was ihr Lehrer von ihnen zu hören wünschte, eine Generation wird es schon der andern gesagt haben, und so wird denn immer wieder der bestimmte Wunsch vorhanden gewesen sein, entsprechend antworten zu können, die Furcht, bei einem etwaigen Abläugnen jeder Wirkung als weniger empfänglich zu erscheinen, und eine bestimmte Absicht wird die Wirkung der Dichterstelle unterstützt haben. Damit ist denn der Selbsttäuschung Tür und Tor geöffnet.

Viehoff sagt nicht, welche Vorsichtsmafsregeln er gegen diese Möglichkeiten ergriffen hat und so sind mir seine Beobachtungen an seinen Schülern nicht ganz mafsgebend. Es ist überhaupt mit derartigen Beobachtungen eine eigene Sache: auch wer sie an sich selbst macht und übrigens genau weifs, worauf es ankommt, ist vor Selbsttäuschung keineswegs sicher, da es sich eben um Wirkungen handelt, die auch durch spontanen Willensimpuls hervorzubringen sind. Namentlich steht es schlimm um die Nachprüfung solcher Kunstmittel, die von anderer Seite erörtert sind; scheint die theoretische Begründung überzeugend, so kann sehr leicht ein leises absichtliches Nachhelfen eintreten; und der Effekt ist dann eben zum Teil auf die Rechnung des Theoretikers zu setzen, der uns eingeredet hat, wir müfsten dieses und jenes sehen*). In geringerem Grade ist diese Schwierigkeit auch

*) Ein Beispiel von dem Einflufs theoretischer Auseinandersetzungen auf die innere Wahrnehmung bei Wundt, Essays S. 205 f. In unserem Falle liegt sie jedenfalls noch näher, als in dem von Wundt erwähnten, Vergl. auch Ebbinghaus, Über das Gedächtnis, S. 38 ff.

bei solchen Kunstmitteln vorhanden, auf die man selbst einmal aufmerksam geworden ist; sowie wir sie wiedererkennen, ist auch die Erinnerung an die früher beobachtete Wirkung und damit der Antrieb zur Wiederholung derselben gegeben. Wir erfahren dann, ob wir überhaupt Anschauungen vollziehen können, aber nicht, ob der Dichter uns dazu veranlasst hat.

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Ein vollkommen radikales Mittel gegen diese Gefahren giebt es meines Wissens nicht. Versuche mit Ausschlufs des Wissens, wie sie Ebbinghaus*) auf seinem Gebiete anstellen konnte, sind auf dem unsrigen unmöglich. Aber wenigstens mit einiger Sicherheit ist man doch im stande, den Einfluss des spontanen Willens zurückzudrängen und sich passiv hinzugeben nur muss man sich dabei hüten, nicht ins Gegenteil zu verfallen und sich in einen halben Schlaf zu versenken. Etwas unsicher bleibt es doch immer, ob die Dinge auf uns gerade so wirken, wie auf einen vollkommen unbefangenen. Will man Versuche mit anderen machen, so muss.man sich Personen aussuchen, die dem theoretischen Nachdenken über Poesie ferne stehen; man muss eine einzelne Stelle vorlesen und dann fragen, ob der Betreffende etwas gesehen habe; bejaht er, so mufs durch nochmalige Frage genau festgestellt werden, ob die Anschauung wirklich sofort dagewesen ist oder erst in Folge der Frage gebildet wurde; und man darf jede Versuchsperson nur für einen Versuch benutzen. Wenigstens würde dieses der sicherste Weg sein, um unanfechtbare Ergebnisse zu erhalten. Man könnte allerdings auch dieselbe Versuchsperson beibehalten und etwa Kontrollversuche mit solchen Dichterstellen machen, von denen man überzeugt ist, dafs sie keine Kraft zur Hervorlichtung des inneren Bildes haben. Aber auch wenn die Versuchsperson hier richtig antwortet, kann man doch bei den weiteren Versuchen die Antworten nicht mehr mit demselben Vertrauen hinnehmen, wie die erste: entsteht in der Versuchsperson immer sofort beim Hören die Frage, habe ich die Anschauung oder nicht? und diese Frage kann das Ergebnis beeinflussen. Für diese Dinge würden wohl Damen ganz geeignete Versuchspersonen sein; will aber Jemand die Versuche in gröfserem Mafsstabe machen, so mufs er dafür sorgen, dafs die Damen, mit denen er experimentiert hat, nicht den anderen erzählen, wonach sie gefragt worden sind.

*) Gedächtnis S. 139 ff.

Ich habe nun keine Ergebnisse derartiger Versuche vorzulegen, sondern bin auf die an mir selbst unter möglichster Vorsicht gemachten Erfahrungen angewiesen. Ich werde im Folgenden nicht die sämtlichen von Viehoff angeführten Kunstmittel durchnehmen, sondern nur diejenigen anführen, zu denen ich etwas zu bemerken habe; über manche der anderen mufs ich mir mein Urteil einstweilen vorbehalten.

Selbstverständlich weist Viehoff ausführliche Beschreibungen ruhender Gegenstände ab und er empfiehlt das Kunstmittel Lessings, Beschreibung in Handlung umzusetzen (S. 121 ff.). Im einzelnen nennt er Anfertigung eines Gegenstandes (Achillesschild) Zeichnen des Bildes. (Amor als Landschaftsmaler) Bekleidung von Menschen, (die bekannten homerischen Beispiele) und successives Erscheinenlassen des Gegenstandes (Gang durch die Landschaft in Herrmann u. Dorothea und Kleist, Penthesilea 356 ff.) Die Wirkung dieser Mittel erklärt er sich S. 123 Anm. folgendermafsen. Wenn der Dichter uns den Teil eines Ganzen nenne, müsse unsere Phantasie sofort das Ganze nach den Gesetzen der Ideenassociation dunkler oder heller entwerfen: würden dann noch neue Details gegeben, so würden sie in den wenigsten Fällen zu dem bereits geschaffenen Ganzen passen und die Phantasie werde verwirrt. Werde dagegen ein Gegenstand als successiv entstehend dargestellt, so sei die Phantasie genötigt, den Teil sich als etwas für sich Bestehendes zu denken, und die Erzeugung des Ganzen auszusetzen, bis alle Teile successiv erschienen seien. Viehoff meint offenbar, dafs unsere Phantasie wirklich im stande sei, das Ganze zu erzeugen, nachdem die einzelnen Teile in der bezeichneten Weise uns gegeben sind; und dieses Kunststück sollte man doch nach allem, was seit Herder darüber geschrieben ist, unserer Phantasie nicht mehr zu

trauen.

Eines der von Viehoff angeführten Beispiele ist mir besonders interessant, weil es deutlich ist, dafs Viehoff selbst hier keine Anschauung gehabt haben kann; er hat das Beispiel wohl nur genommen, weil er theoretisch sein Kunstmittel darin verwirklicht fand. Ich meine Penthesilea Vers 356 ff. Die Verse lauten:

Seht! Steigt dort über jenes Berges Rücken

Ein Haupt nicht, ein bewaffnetes empor?

Ein Helm, von Federbüschen überschattet?

Der Nacken schon, der mächtge, der es trägt? etc.

Hier wird zunächst in Vers 1 und 2 eben der Fehler gemacht, der nach Viehoffs Angabe durch das successive Erscheinenlassen ver

hindert werden soll: das bewaffnete Haupt muss ich mir doch irgend wie vorstellen, aber erst in der folgenden Zeile wird mir gesagt, dass der Helm mit Federbüschen geschmückt war; wenn ich mir nun den Helm mit einer anderen Bekrönung vorgestellt habe, so wird meine Phantasie ja durch die Federbüsche verwirrt. Indessen ist dieses nicht so schlimm, cf. S. 23: der Nacken aber, welchen die folgende Zeile giebt, ist überhaupt nicht in ein anschauliches Bild einzuordnen, denn Achilles kommt ja auf den Sprechenden zu, es könnte also höchstens von seinem Halse die Rede sein. Diese Einzelheit war wohl auch in Kleists Phantasiebild nicht deutlich, und vom Nacken hat er wohl deshalb gesprochen, weil ihm der Träger des Hauptes im Sinne lag, wozu Nacken besser pafst als Hals*). Diese von Viehoff höchst wirkungsvoll genannte Stelle macht es also geradezu unmöglich, die Einzelheiten zu einem Gesamtbilde zusammenzufassen. Wenn ich die Worte lese: „Jetzt auf dem Horizonte steht das ganze Kriegsfahrzeug da“, so habe ich allerdings eine Anschauung, aber sie würde ungefähr ebenso vor mir stehen, wenn die vorhergehenden Verse nicht da wären. Die unleugbar starke Wirkung der Stelle beruht jedenfalls nicht auf ihrer Anschaulichkeit, sondern auf unserem Mitgefühl der ungeheuren Spannung, die jeden sichtbar werdenden Teil des Achilles mit Jubel begrüfst.

Es ist über die Sache schon zu viel verhandelt worden, als dafs sie hier ausführlich erörtert werden könnte **). Unsere Phantasie vermag eine gewisse Anzahl successiv gegebener Vorstellungen zu einem coexistierenden Ganzen zu vereinigen, vorausgesetzt, dass die Lagerungsverhältnisse uns sofort klar sind und dafs es nicht zu viele sind. Das Maximum lässt sich in abstracto nicht feststellen, es kommt auf die Individualität des Lesers und des Falles an; über letzteres einige Bemerkungen von Scherer, Poetik S. 259. Je klarer die Einzelheiten sein sollen, desto kleiner wird das Gesichtsfeld der Phantasie. Eine hohe Männergestalt im ordengeschmückten weissen Mantel kann ich mir im allgemeinen wohl vorstellen, soll ich aber ein Ordenskreuz auf dem Mantel ganz genau sehen, so ist es sehr schwer, dabei die Umrisslinien der Gestalt festzuhalten. Wird das Maximum überschritten, so hilft auch die Schilderung durch Hervorbringen des Bildes nichts, sondern

*) Merkwürdig ist es übrigens auch, dass der ganze Oberkörper des Achilles früher sichtbar wird, als die Köpfe der Rosse.

**) Cf. Blümner Laokoon,, 610 ff.

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