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welche die Freisprechung nicht kannten, die Meinung erwecken musste, Reuchlin sei verurteilt, und auch bei denjenigen, welche von der Speierer Entscheidung wussten, hier aber von einer Verurteilung, ja von einer Verbrennung lasen, Argwohn und Misstrauen hervorzurufen geeignet

war.

Wie sich der Frankfurter Rat zu diesem Schreiben eines damals hochberühmten den Ratsmitgliedern aber schwerlich bekannten Gelehrten verhielt, ist nicht bekannt. (Auf dem Briefe selbst steht darüber kein Vermerk; auch in den Bürgenmeisterbüchern findet sich keine Notiz, dafs der Brief Reuchlins zu einer Verhandlung Veranlassung gab). In Voraussicht dieser Unkenntnis wies Reuchlin daher in sehr praktisch-kluger Weise auf seine Beziehungen zu Herzog Ulrich von Württemberg hin und machte geltend, was für den Frankfurter Rat wohl nicht gleichgültig sein mochte, dafs auch anderen Fürsten durch Berücksichtigung seiner Bitte ein Dienst erwiesen würde.

Der Brief ist wegen seiner Sprache und wegen seines Inhalts ein interessanter Beitrag zu Reuchlins Biographie. Aber er ist noch mehr. Eine in dem Briefe vorkommende Stelle nämlich erhebt ihn aus einem Bittschreiben, das in einem Privatstreite eine Rolle spielt, zu einem hochwichtigen kulturgeschichtlichen Dokumente. Es ist die Stelle,,,das Höchste, das der Mensch haben mag, nämlich die Ehre!" Ich glaube nicht zu weit zu gehen, wenn ich behaupte, dafs wenige Deutsche jener Zeit aufser Reuchlin ein solches Wort zu sprechen fähig waren. Diese durchaus weltliche, untheologische, um nicht geradezu zu sagen: antitheologische Meinung fand damals in Deutschland gewiss wenig Anhänger. Aber die Anschauung entspricht der Auffassung, welche der Renaissance eigen ist. Den Aufserungen über Ehrgefühl und Ehre von Guicciardini und Rabelais, welche Burckhardt mitteilt (Kultur der Renaissance II Seite 177) darf sich die Reuchlinsche würdig anschliessen. Sie ist zeitlich die älteste, dem Ausdruck nach die bestimmteste, ihrem Inhalte nach ein vollständiges Programm der Renaissance.

Berlin.

Ludwig Geiger.

Das goldene Vliefs und der Ring des Nibelungen.

(Zur Grillparzerfeier am 15. Januar 1891.)

Von

Karl Landmann.

Wi

ie die Mär vom Nibelungenhort, so hat auch die Sage vom goldenen Vliefs ihre natursymbolische Grundlage in der epischen und dramatischen Ausgestaltung des Stoffes zeitweise verleugnet, und es bedurfte erst eines über die rohe Fabel sich erhebenden kosmologischen Standpunktes, um dem Versinken in Trivialität entgegenzutreten oder der ins Mafslose schweifenden Phantasie durch Zurückführen zum „reinen Altar" der Natur Zaum und Zügel anzulegen. Der deutschen Sage war für eine gesunde Entwickelung hinreichender Raum gegeben. Nachdem der in die germanische Urzeit zurückführende Mythos sich im 5. und 6. Jahrhundert zur Sage gestaltet hatte, die dann, als sie sich mit verwandten Sagenkreisen berührt und teilweise mit deren Stoffen verschmolzen hatte, im 12. und 13. Jahrhundert epische Form annahm, konnte nach weiteren sieben Jahrhunderten die durch die Wissenschaft vollzogene Vermählung des Mythos mit der Sage nicht nur in epischer Neugestaltung ihre Weihe empfangen, sondern auch in dem musikalisch - dramatischen Kunstwerke, das nun das Vermächtnis der Walküre durch die ganze gebildete Welt hindurch trägt, ihre höchsten Triumphe feiern.

Nicht so günstig war die auf dem gleichen Naturgrunde ruhende Sage vom goldenen Vliefs in der griechischen Litteratur gestellt*).

*) Da wir in der Zs. f. vergl. Litteraturgeschichte nicht vergleichende Mythologie treiben wollen, so sei hier nur an die Übereinstimmung von Nephele und Nibel, sowie an die Bedeutung des Namens Mýdɛia (v. μýdopa), „das wissende Weib“, erinnert.

Ztschr. f. vgl. Litt.-Gesch. u. Ren.-Litt. N. F. IV.

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Zwar kennt die Odyssee gleichfalls die 'Aprù nãợi μélovoɑ*); aber die beiden grofsen Epen vom Zorn des Achilles und dem des Poseidon beherrschten das griechische Leben so sehr, dafs erst die in der Zeit des Peisistratos aus dem Kreise der Orphischen Dichter (Epimenides?) hervorgegangene epische Darstellung der Argonautensage einige Bedeutung für die Weitergestaltung des Stoffes gewinnen konnte. Auf dem Gebiete des Dramas aber beginnt für uns die Bedeutung des goldenen Vliefses mit der im Jahre 431 v. Chr. aufgeführten Medea des Euripides**), mit ihr zugleich die seitdem mit dem Namen untrennbar verbundene Vorstellung von Medea als Kindermörderin neben der nicht minder berühmten Gattenmörderin Klytämnestra ***).

Dafs die Medea des Euripides nicht nur im griechischen und römischen Altertum, sondern auch in dem auf griechisch - römischen Bildungselementen ruhenden Mittelalter und bis in die neueste Zeit herein in hohem Ansehen stand, ist aus zahllosen Zitaten, wie auch durch berühmte Darstellungen der bildenden Kunst†) hinlänglich bezeugt, und es darf uns daher durchaus nicht Wunder nehmen, wenn auch die Philologen unserer Tage noch mit Begeisterung von ihr reden. Wenn nur diese Begeisterung nicht, wie so oft, den Mafsstab für die Leistungen der Gegenwart verrückte! So ist es nach den überschwenglichen Lobpreisungen, die Hartung und Welcker ihr spenden, ja allerdings schon anzuerkennen, dafs Bernhardy (Grdr. II, 2,454 ff.) neben dem berechtigten Lobe auch einige schwerwiegende Worte des Tadels für sie hat. Aber auffallen muss es, dafs er unter den modernen Reproduktionen des Medeastoffes nur die von Klinger zu nennen weiss. Freilich trifft er in diesem Verschweigen Grillparzers zusammen mit Ranke (Abhandlungen und Versuche, S. 19

Od. XII 70; vgl. X 107; XI 254-59.

**) Eine Jasoneia des Aeschylos ist bis auf ganz geringe Bruchstücke verloren; ebenso die Kolcherinnen des Sophokles. Über die behauptete Priorität einer Medea des Neophron vgl. die Einleitung zur Ausgabe der M. des Euripides von H. v. Arnim (1886).

***) Bis dahin galten die Korinther für die Mörder der von Medea im Heiligtum der Hera Akraia auf der Burg von Korinth zurückgelassenen Kinder, worauf sich die von Aelian (Var. Hist. V 21) erzählte Anekdote bezieht, Euripides habe gegen Zahlung von 5 Talenten den Korinthern dieses Odium durch seine Tragödie abgenommen.

†) Aufser der Millinschen Vase besonders das im Louvre befindliche Sarkophagrelief (Bouillon, III 18,2), sowie die auf das Gemälde des Timomachos zurückgehenden pompejanischen Wandgemälde (Mus. Borb. V 33, X 21).

bis 76: Die Tragödien Senecas), der nur die Medeen romanischer Dichter zu kennen scheint. Und so dürfen wir einem neueren Herausgeber der Medea des Euripides (H. v. Arnim) wohl dankbar sein, wenn er unter den neueren Bearbeitungen des Stoffs vor allen Grillparzers Medea „lobend zu erwähnen" hat, obgleich freilich „keine dieser Nachahmungen nur annähernd die Schönheit ihres Urbildes erreicht" (!) Angesichts solcher Verkennung deutschen Geistes und deutscher Schaffenskraft mufs es wohl tun, zu sehen, dass wenigstens ein klassischer Philologe der Gegenwart, Ferd. Bender, in seiner Geschichte der griechischen Litteratur (Bd. VI 1 der Geschichte der Weltlitteratur), dem deutschen Dichter volle Gerechtigkeit widerfahren läfst und so in diesem, wie in manchen andern Punkten, die Versöhnung des deutschen mit dem altklassischen Geiste ermöglicht.

Fast ebenso einmütig wie im Lobe des Euripides ist die Philologie im Tadel des Seneca als Dichters einer Medea gewesen*), und nur der Historiker (Ranke, s. oben) kann von seinem Standpunkte aus von den beiden „obwohl einander entgegengesetzten, doch beide bewundernswürdigen“ Tragödien des klassischen Altertums reden.

Es würde den in der Zeitschrift gebotenen Raum überschreiten, wenn wir uns auf eine eingehende Vergleichung dieser beiden Tragödien einlassen wollten. Wohl aber möge der Versuch gestattet sein, Grillparzers "goldenes Vliefs" vom vergleichenden Standpunkte aus unter dem in der Überschrift gegebenen Gesichtspunkte gegen dieselben abzuwägen und das Urteil der deutschen Litteraturgeschichte etwas eingehender zu begründen **).

Phryxus***), der Sohn des Athamas und der Nephele, ist auf seiner Flucht vor den Nachstellungen der bösen Stiefmutter (Ino) in den Tempel des Gottes zu Delphi gekommen. In dessen Hallen ein

*) Von den Medeen des Ennius und des Ovid sind bekanntlich nur geringe Bruchstücke übrig.

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**) Für Schulmänner dürfte von Interesse sein, zu erfahren, dafs vor kurzem (Herbst 1890) eine Ausgabe des Goldenen Vliefses" von einem hervorragenden Grillparzerkenner, Ad. Lichtenheld in Wien, erschienen ist (Cotta. Bereits vorher erschienen: „Ahnfrau“ und „Ottokar“).

***) Gr. gebraucht statt des gewöhnlichen Phrixus (φρίξος von φρίξ, φρίσσω horrere, vom Saatfeld mit starrenden Aehren) die Schreibung Phryxus, vielleicht in Erinnerung an das bekannte opúɣew tà oñépμata, torrere sementem (Hygin, f. 2. Apollod. 1, 9, 1).

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