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Boileau.

Das größte Lob, das Johnson je einem Franzosen gespendet hat, kann Boileau für sich in Anspruch nehmen: Boileau will be seldom found. mistaken (Lives, II 356). Und dieses Lob ist nicht das einzige; ihm reiht sich gleichwertig die Bemerkung an: He surely is no mean writer, to whom Boileau shall be found inferior (Lives, IV 133). Diese Äußerungen lassen uns ahnen, daß Boileau eine bevorzugte Stellung in Johnsons Wertschätzung eingenommen haben muß, was uns denn auch von anderer Seite bezeugt wird. Johnsons große Freude an Boileaus Werken verbürgt uns Mrs. Piozzi, die mit ihm lange Jahre hindurch im engsten Verkehr stand; 1) auch Murphy betont, daß er ein ausgesprochener Bewunderer Boileaus war (Misc. I 416). Für jeden Kenner des Charakters Johnsons ist es überflüssig hinzuzufügen, daß diese Bewunderung keine knechtische war, daß er nicht kritiklos alles annahm, was er bei Boileau fand, oder wie sich Tyers ausdrückt, daß er keinen Kritiker von dem Bücherbrett herunternahm, weder Aristoteles, noch Bossu, noch Boileau", um von ihnen zu borgen (Misc. II 372). Davon werden wir uns bald selbst überzeugen können.

Die Verehrung Johnsons für Boileau hatte jedoch ihre Grenzen. Sie war vor allen Dingen nicht immer gleich groß. Ganz äußerlich werden wir hierauf dadurch hingewiesen, daß die Belege für sie aus der lezten Hälfte von Johnsons Schaffen stammen; zudem finden wir die weitaus meisten Anspielungen in den „Lives“, während wir vorher dem Namen des französischen Kritikers nur selten begegnen, was man ja allerdings auch darauf zurückführen könnte, daß Johnson im Beginn seiner literarischen Laufbahn vor allem als Moralist und weniger als Kritiker tätig war, während ihm später die „Lives" häufig Gelegenheit boten, sich auf Boileau zu berufen. Aber auch innere Gründe gestatten uns zu behaupten, daß Boileau bei Johnson zuerst nicht in so hohem Ansehen stand. Erinnern wir uns des Urteils Johnsons über die europäische, also auch die französische Kritik. Wie verächtlich spricht er da von den modernen Kritikern! Willkürlich seien sie bisher in der Aufstellung ihrer Regeln verfahren und nicht nach bestimmten, unveränderlichen Gesetzen. 2) Neben den Vorzügen der Alten hätten sie auch

1) Johnson was a great reader of French literature and delighted exceedingly in Boileau's works (Anecdotes, Misc. I 334).

2) We owe few of the rules of writing to the acuteness of criticks, who have generally no other merit than that, having read the works of great authors with attention, they have observed the arrangement of their matter or the graces of their expression, and then expected honour and reverence for precepts which they never could have invented: so that practice has introduced rules, rather than rules have directed practice (R. 158, VII 107).

deren Fehler angenommen. Dieser Tadel muß natürlich auch Boileau treffen; ja ihn im besonderen, denn wir werden sehen, daß Johnson als Stüße seiner Behauptung zwei Ansichten kritisiert, die Boileau in seiner „Art poétique“ (Chant II, v. 71) ausgesprochen hatte.

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Auf die Beschäftigung mit Boileau weist uns auch Johnsons Vorhaben hin, eine Geschichte der Kritik von Aristoteles bis auf die jüngste Zeit zu schreiben. Wann Johnson diesen Plan faßte, ist ungewiß. Erwähnt wird diese Geschichte der Kritik mit dem ausführlichen Titel: „History of Criticism as it relates to judging of authors from Aristotle to the present age, an account of the rise and improvement of that art, of the different opinions of authors, ancient and modern" (Bosw. 551) unter einer Masse anderer geplanter Werke, von denen er keines auch nur begonnen hat, in einem Katalog, den er kurz vor seinem Tode seinem Freunde Langton gab. Bei einigen der geplanten Bücher stehen Daten aus den Jahren 1752/53. Um jene Zeit werden wohl auch die anderen Pläne entstanden sein. Daß wir dieses Verzeichnis nicht allzu ernst nehmen, auf jeden Fall nicht daraus schließen dürfen, daß Johnson sich mit dem Stoffe der einzelnen Themen näher beschäftigt hat wie das Boswell andeutet daß es vielmehr plötzlich aufsteigende Gedanken und Einfälle sind, die er notierte, um sie später vielleicht einer näheren Untersuchung bezüglich ihrer Verwendbarkeit zu unterziehen, dafür spricht die große Zahl und die große Verschiedenartigkeit der Stoffe dieser Werke. 1) Unter ihnen sind auch solche erwähnt, an die er in seinen späteren Jahren nie gedacht haben würde, so die allegorischen Dichtungen, die uns auf die erste Hälfte seines Schaffens verweisen, die Rambler-Periode, in der er die Allegorie sehr liebte (siehe S. 45), während er sie zur Zeit der „Lives" verabscheut. Nach 1766 dürfen wir das ganze Verzeichnis sicher nicht anseßen, da er Anfang 1767 dem König gegenüber äußerte, er glaube genug geschrieben und seine Rolle als Schriftsteller ausgespielt zu haben (Bosw. 150). Einen Anhalt für die Zeitbestimmung der Entstehung des Planes der „History of Criticism" kann uns R. 158 geben, wo er über den gegenwärtigen Stand der Kritik ganz Europas spricht. Dieser Aufsatz läßt sich nahezu als eine Ankündigung zu jener geplanten Geschichte der Kritik auffassen, als eine ausführliche Besprechung des Nebentitels: an account of the rise and improvement of

that art.

In seinem letzten Lebensjahre sehen wir ihn noch einmal in die Lektüre

1) So finden wir allein im Januar 1753 die Titel folgender Werke verzeichnet: 1. A collection of Proverbs from various languages, Jan. 6,—53; 2. A collection of Stories and Examples, like those of Valerius Maximus, Jan. 10,-53; 3. From Aelian, a volume of select stories, perhaps from others, Jan. 28,-53.

Boileaus vertieft. In seiner „Biographical Sketch of Johnson" berichtet uns Tyers, daß Johnson „kürzlich“ Boileaus Werke gelesen habe (Misc. II 363). Da diese Skizze wenige Tage nach Johnsons Tod, noch im Dezember 1784 verfaßt ist, läßt sich das „kürzlich“ doch höchstens auf das verflossene Jahr beziehen. Damit können wir vielleicht in Verbindung bringen ein Zitat aus Boileau in einem Briefe Johnsons vom 12. Juli 1784.

Aber nicht die Werke Boileaus allein, sondern auch dessen Biographie haben Johnsons Interesse erregt, nach einigen zufällig erwähnten biographischen Einzelheiten zu schließen. Zur Erlangung solcher Kenntnisse über das Leben Boileaus lagen nun allerdings die Verhältnisse sehr günstig. Boileaus Werke waren gleich nach seinem Tode von seinem Freunde, dem Advokaten Brossette (1671–1743), herausgegeben worden. Diese Ausgabe ist am Fuß der Seiten mit Anmerkungen zu Boileaus Werken versehen, die aus dem langjährigen, intimen Verkehr mit dem Dichter geschöpft sind. Dadurch hat sie eine große Bedeutung; sie ist für das Studium Boileaus unentbehrlich und für uns um so wichtiger, als Johnson alle Einzelheiten von Brossette weiß.

In der Biographie Congreves weist Johnson gelegentlich der Besprechung einer Lüge dieses Dichters auch auf eine Unwahrheit Boileaus Ludwig XIV. gegenüber hin (Lives, III 156). Congreve hatte behauptet, er sei in England geboren (Lives, III 156), während andere Irland als sein Heimatland bezeichneten. 1) Johnson rechnet ihm diese Verleugnung seines Geburtslandes nicht als ein schweres moralisches Verbrechen an; denn, meint er, solche Unwahrheiten, die niemandem schaden, die nur die Eitelkeit eingäbe, würden zu leicht geäußert, und einmal ausgesprochen, widerwillig aufrecht erhalten. Da er als Beispiel hierfür Boileau anführt, so sehen wir, daß er auch ihm seine Lüge nicht übel nimmt. Dieser Dichter, fährt Johnson fort, der für einen strengen Moralisten gehalten zu werden wünschte, habe durch falsche Daten eine kleine Lüge, die er einst Ludwig XIV. gegenüber getan hätte, zu verheimlichen gesucht.

Worin ist nun Boileau dem König gegenüber der Wahrheit untreu geworden, und welches sind die falschen Daten? Über eine solche Unwahrheit berichtet Brossette, daß Boileau, als Ludwig XIV. ihn eines Tages fragte, wann er geboren sei, erwidert habe, daß die Zeit seiner Geburt der ruhmreichste Umstand seines Lebens sei: „Je suis venu au monde une année avant votre Majesté, pour annoncer les merveilles de son Règne" (B.-Br., Oeuvres, I XXIX). Daß Johnson diese Anekdote von Brossette weiß, wird uns dadurch zur Gewißheit, daß er etwas ironisch die

1) Nach dem DN B. ist Congreve am 12. Febr. 1670 (Johnson gibt an 1672) in Bardsey Grange bei Leeds in Yorkshire geboren. Die Bezeichnung seines Geburtslandes beruhte also auf Wahrheit.

falsche Angabe Boileaus mit den Worten seines „Bewunderers" begründet: ,,Boileau, who desired to be thought a rigorous and steady moralist, having told a petty lie to Lewis XIV. continued it afterwards by false dates; thinking himself obliged, in honour,') says his admirer, to maintain what, when he said it, was so well received."

In diesen Worten erkennen wir eine freie Wiedergabe von Boileaus Rechtfertigung durch Brossette, der mit dem „admirer" gemeint ist: Mr. Despréaux s'est crû depuis engagé d'honneur à soutenir un mot qu'il avait dit en présence de toute la Cour et qui avait si bien réussi. Wie Brossette weiter berichtet, sei dieser Vorfall der Grund gewesen, warum Boileau in seinen Werken falsche Angaben bezüglich seines Alters machte: C'est ce qui l'a obligé toutes les fois qu'il a eu occasion de parler de sa naissance, de la mettre en 1637.....2)

Großen Gefallen hatte Johnson an Boileaus langsamem und sorgfältigem Arbeiten (Lives, II 358):

Vingt fois sur le métier remettez votre ouvrage,

Polissez-le sans cesse et le repolissez,

Ajoutez quelque fois et souvent effacez.

(Art poétique, chant I. v. 172 ff.; Oeuvres II 185.)

Dieser Rat tönt uns in den verschiedensten Variationen und Tonarten auch aus Johnsons Werken entgegen. 3) Gegenüber dem hastigen und

1),,in honour" ist kursiv gedruckt, wohl um die Entlehnung aus Brossette anzudeuten (vgl. im Text obliged in honour mit: engagé d'honneur].

2) Jm Vorwort zu der Ausgabe seiner Werke vom Jahre 1701 sagt Boileau, er sei nun bereits mehr als 63 Jahre alt: Comme c'est ici vraisemblablement la dernière édition de mes ouvrages que je reverrai, et qu'il n'y a pas d'apparences, qu'âgé comme je suis de plus de soixante et trois ans, et accablé de beaucoup d'infirmetés, ma course puisse être encore fort longue, le public trouvera bon que je prenne congé de lui dans les formes (Oeuvres I 23). Hierzu bemerkt Brossette, daß Boileau damals bereits 64 Jahre alt war; vgl. auch Epître V, (Oeuvres II 52); Epître X, (Oeuvres II 131).

3) The widest excursions of the mind are made by short flights frequently repeated; the most lofty fabricks of science are formed by the continued accumulation of single propositions (R. 137, VI 419). Er empfiehlt dem Schriftsteller, seine Arbeit nach ihrer Vollendung sorgfältig durchzulesen (Adv. 138, IX 160). Bon Pope sagt er: He was one of those few whose labour is their pleasure: he was never elevated to negligence, nor wearied to impatience (Lives, IV 105). Vgl. ferner R. 169 (VII 171 ff.); R 111 (VI 253); Adv. 138 (IX 160); Lives (II 389, 427). Doch Johnson selbst hat diesen Ratschlag in der ersten Zeit seines Schaffens nicht befolgt; wie schnell und flüchtig er seine Rambleraufsätze verfaßte und seinen „Rasselas", beweist Boswell (S. 51 u. 93, siehe auch unter Malherbe S. 27, Anmerkg. 1); allerdings kann er zu seiner Rechtfertigung anführen, daß die pekuniäre Not ihn dazu zwang, womit er auch andere Dichter entschuldigt.

schnellen Schaffen Drydens (Lives, II 358), der zu seiner „Ode on Cecilia's Day" nur 14 Tage gebraucht hatte, betont Johnson die Geduld und den Fleiß Boileaus, dessen Equivoque" (Satire XII, Oeuvres I 335), eine Dichtung von nur 346 Zeilen, 11 Monate seines Lebens zur Abfassung und drei Jahre zur Durchsicht in Anspruch genommen habe (Lives, II 358). Auch das weiß Johnson von Brossette, der in einer Anmerkung zur Satire XII sagt: Il l'auteur] emploia onze mois à la faire et trois ans à la corriger (B.-Br. Oeuvres I 215).

Weit häufiger als die Werke jedes anderen französischen Dichters zitiert Johnson diejenigen Boileaus oder Stellen und Gedanken daraus. Es ist dies zum Teil darauf zurückzuführen, daß Boileau nicht nur auf seine Landsleute, sondern auch auf die Engländer einen mächtigen Einfluß ausgeübt hat.1) Die Abfassung der „Lives" brachte es mit sich, daß Boileau häufig nur deshalb genannt ist, um Beziehungen dieses oder jenes englischen Dichters zu Boileau zu erwähnen.

So erfahren wir, daß Boileau der Lieblingsschriftsteller des Grafen Rochester war (Lives, II 198); daß dieser in seiner Satire on Man" (Lives, II 201) Boileau stark benugt hat (Satire VIII); daß nach dem Vorbild von Boileaus ,,Address à son Esprit" (Satire IX) Popes ,,Epistle to Arbuthnot" verfaßt ist; 2) daß Priors Burleske der „Ode on Namur" (Oeuvres II 480) „,in einigen Teilen große Lustigkeit und Zierlichkeit besitzt, die ihr immer Leser verschaffen wird" (Lives, III 147); daß Blackmore einen Vergleich zwischen Dennis und Boileau anstellt, der sehr zugunsten des ersteren ausfällt.3) Auch die Bemerkung, daß die Geschichte von dem Quacksalber in dem Essay on Translated Verse" des Lord Roscommon (1633?—1685) Boileau entlehnt sei (Lives, II 213), ist von keiner größeren Bedeutung. *) Boileaus Satyre gegen die Frauen (Satire X) schäßte Johnson nicht so hoch, wie Popes Character of Women" (Lives, IV 133). Zur Begründung seiner Vorliebe sagt er, daß Pope mit viel größerer Scharfsichtig

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1) Vgl. Sander, S. 77 ff.

2) Johnson hat bei diesem Hinweis auf Boileaus „Address à son Esprit" (Lives, IV 75) augenscheinlich die Satire IX im Auge, die Boileau mit dem Verse beginnt: C'est à vous, mon Esprit, à qui je veux parler (Oeuvres I 229). Hill ist dagegen der Ansicht (Lives III 177, n. 1), daß Johnson dabei auf die Epître, à mes Vers" d. i. Epître X (Oeuvres II 128 ff.) verweisen will.

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3) Lives, III 175, bezüglich dieser von Johnson unrichtig zitierten Stelle bei

Blackmore (Preface to Alfred, S. 2) siehe Hills Anm. Lives II 239.

4) Johnson denkt dabei an den Anfang des IV. Gesanges der ,,Art poétique":

Dans Florence jadis vivoit un médecin,

Savant hâbleur, dit-on, et célèbre assassin etc. (Oeuvres II 277).

Vgl. Hill, Lives I 237, n. 1.

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