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Jahresbericht vom 23. April 1884.

Vorgetragen

vom

Herrn Freiherrn von Vincke.

Als die deutsche Shakespeare-Gesellschaft zusammentrat heute vor zwanzig Jahren da herrschte frische Begeisterung in den festlichen Tagen; und diese Begeisterung war nicht das rasch aufflackernde flüchtige Feuer der Jugend, denn als Männer standen die Stifter zumeist in voller Lebenskraft. So entspricht es denn dem Laufe der Natur, daß jetzt, nach zwanzig Jahren, der Tod unter ihnen aufgeräumt hat: jeder neue Bericht über unsre Wirksamkeit meldete zugleich Verlust auf Verlust - und wir verloren die treuesten, bewährtesten Shakespeare-Freunde. Wiederum sind drei Mitglieder hingeschieden: eines von mehr denn europäischem Namen Iwan Turgenjeff; sodann, über 80 Jahre alt, der Künstlerveteran Karl La Roche; endlich Professor Dr. Hermann Ulrici, welcher im 78. Lebensjahre starb. Als erster Präsident der Gesellschaft bekleidete er dies Amt während nicht unterbrochener elfjähriger Dauer: lediglich anhaltendes Kränkeln konnte ihn bestimmen, eine Wiederwahl abzulehnen, er blieb dann Ehrenpräsident des Vorstands. Unsre gerechte Anerkennung muß aussprechen, daß er durch unermüdliche Fürsorge sich bleibendes Verdienst erwarb um das Gedeihen der deutschen Shakespeare-Gesellschaft, um die Früchte ihres Schaffens. Nicht bloß Denker, gelehrter Forscher er war auch liebenswürdiger Genoß im Kreise heitrer Geselligkeit. Es soll ihm kein Vorwurf sein, daß er öfter die eignen philoso

phischen Gedanken dem geliebten Dichter lieh: sein Auge sah nur dessen höhere Verherrlichung; aus seinem Reichthum gab der Eine, was der größere Reichthum des Andern nicht bedurfte.

Ob aber auch der Tod immer reichlicher seine Ernte hält unter den Shakespeare-Freunden, das ändert Nichts an Shakespeare's dreihundertjähriger Lebensfrische: neue Freunde treten in die Stelle der alten, ein jüngeres Geschlecht folgt dem scheidenden, dem geschiedenen. Und diese Verjüngung ist es, welche auch der deutschen Shakespeare-Gesellschaft die Lebensfrische erhält, deren sie sich erfreut unter der stets wiederholten, stets dankbar erkannten Huld ihrer hohen Protektorin. Den Ruhm des Dichters schädigt nicht die neueste Modekrankheit, welche ihm den Lorbeer entreißen will, um Andre damit zu schmücken. Dieses Bestreben gründet sich auf den wunderbar-logischen Schluß: weil Shakespeare's äußeres Leben uns fast völlig unbekannt blieb deshalb kann der ungebildete Schauspieler die Kenntniß in Kunst und Wissen nicht erworben haben, von deren Fülle Schauspiele und Sonette den vollgiltigen Beweis geben; mithin kann Shakespeare nicht der Verfasser seiner Stücke sein. Darin besteht ja das moderne Virtuosenthum: einen neuen Gedanken auszudenken, mag er noch so verzwickt, noch so thöricht sein, um dann mit Neuheit zu prunken, durch Neuheit die Menge zu blenden. Das Jahrbuch, welches heute zur Ausgabe kommt, bietet unter Anderem auch eine gedrängte Abfertigung solcher Virtuosen-Weisheit, in der zwei Damen sich hervorthaten. Mit dem idealen Dienste des Ritters bleibt die reale Wahrheit des Kritikers freilich unvereinbar; und die Damen verzichten auf Ritterdienst, wenn sie selber gewappnet im Feld erscheinen.

Das Geschäftliche unsrer Gesellschaft nahm seinen gewohnten Gang.

Die Bibliothek hatte den regelmäßigen Zuwachs, etwa 50 Bände; sie wird auf dem Kontinent von keiner andern übertroffen sein.

Das Jahrbuch behauptete den alten Ruf, der Absatz steigerte sich, auf dem Buchhändlerwege wurden 114 Exemplare verkauft.

Unsre Finanzen erfreuen sich der Umsicht ihres bewährten Leiters, dessen Blick neben den nüchternen Zahlen auch das geistige Interesse zu würdigen versteht. Sie charakterisiren sich wohl am besten als diejenigen des ehrlichen Mannes, der keinen überflüssigen Luxus treibt, um anständig leben zu können.

Die Zahl der Mitglieder ist gegenwärtig 202.

Werfen wir aber einen Rückblick auf unser zwanzigjähriges Leben, dann zeigt dasselbe die folgenden Ergebnisse.

Von den ersten 123 Mitgliedern zählt die Gesellschaft nur noch 35 zu den Ihrigen; die Gesammtzahl schwankte in den letzten Jahren zwischen 190 und 210. Ueberhaupt hatten wir die Namen von 403 Mitgliedern zu verzeichnen.

Für die Bibliothek wurden im Ganzen verwendet nahezu 5000 Mark. Daneben erhielt dieselbe geschenkweise eine beträchtliche Anzahl werthvoller Bücher und Werke.

Für das Jahrbuch wurden verausgabt rund 41,000 Mark. Die Summe an Honorar, auf welches von den Mitarbeitern verzichtet ward, beträgt 6700 Mark. Als baare Einnahme aus dem Jahrbuch ergeben sich rund 37,000 Mark, denen hinzutritt der Werth von 1106 als Bestand vorhandenen Exemplaren mit rund 6500 Mark.

An außerordentlichen Beiträgen gingen ein rund 14,500 Mark. Das Vermögen der Gesellschaft setzt sich zusammen aus einem Bestande in Baar und aus dem Bestande an Jahrbuchsexemplaren beides zusammen rund 7000 Mark. Dazu tritt aber noch der Werth unsrer Bibliothek, welcher ziffermäßig kaum darzustellen ist, weil dabei, neben den Geschenken, auch günstige antiquarische Erwerbungen sehr wesentlich ins Gewicht fallen.

Und so beginnen wir denn das zweite Fünftheil des ersten Jahrhunderts unsrer Zeitrechnung mit dem Ausblick auf fernere gedeihliche Zukunft!

Bericht

über die Jahresversammlung zu Weimar

am 23. April 1884.

Die 20. Jahresversammlung der Deutschen Shakespeare-Gesell

schaft wurde unter zahlreicher Theilnahme im Saale der Armbrustschützen-Gesellschaft abgehalten; auch die Höchsten Herrschaften beehrten die Versammlung durch Ihre Gegenwart.

Herr Geh. Regierungsrath Prof. Dr. Delius eröffnete als Präsident der Gesellschaft die Versammlung und begrüßte die Erschienenen. Hierauf erstattete Herr Freiherr v. Vincke den umstehenden Jahresbericht.

Anschließend hielt Herr Universitätsrichter Thümmel den Festvortrag über den Verkehr Shakespeare's und seiner Zeitgenossen im Meermädchen', welcher mit allgemeinem Beifall aufgenommen wurde.

Die bisherige Kommission für die Rechnungsablage und Dechargeertheilung, bestehend aus den Herren Direktor Dr. Tröbst und Justizrath Gruner, wurde wiedergewählt.

Der Generalversammlung wurde bekannt gegeben, daß Herr Prof. Dr. Delius die Präsidentschaft niedergelegt habe und zum Ehrenpräsidenten ernannt worden sei, und daß Herr Freiherr v. Loën zum Präsidenten, Herr Freiherr v. Vincke und Herr Dr. Thümmel zu Vizepräsidenten gewählt worden seien.

Nachdem die Abstimmung ergab, daß die nächste Generalversammlung wieder in Weimar am 23. April stattfinden soll, wurde die Generalversammlung geschlossen.

Shakespeare's A Lover's Complaint.

Von

Nicolaus Delius.

Das Gedicht von der Klage eines verführten und verlassenen liebenden Mädchens erschien zuerst gedruckt 1609 in der ersten Ausgabe der Shakespeare'schen Sonette und ist seitdem immer als ein Anhang derselben, obgleich in keinerlei nachweislicher Verbindung mit ihnen stehend, in alle späteren Ausgaben übergegangen. Aber während die Sonette von jeher bis auf den heutigen Tag ein Gegenstand eines weitverbreiteten Interesses und Studiums geworden und geblieben sind, scheint ihr Anhängsel von 1609 niemals die eingehende Beachtung und Betrachtung gefunden zu haben, die ein so eigenthümliches, in seiner Art einziges Gedicht unseres Dichters verdient hätte. Zwar hat man den Text revidirt und zur Erläuterung mit Parallelstellen aus Shakespeare's Dramen kommentirt, wie das namentlich von Seiten Malone's mit dankenswerthester Sorgfalt geschehen ist; auch ihre bewährte Uebersetzungskunst haben Deutsche, wie Simrock, Bodenstedt und Neidhardt diesem in solcher Beziehung schwierigen Werke zugewandt. Aber dabei ist es geblieben, und von allen Shakespeare'schen Dichtungen, dramatischen, lyrischen und epischen, scheint keine von jeher weniger gelesen und studirt zu sein, als gerade diese. Oberflächlich angesehen, sollte vielleicht der Stoff, den sich der Dichter gewählt, kaum den Reiz des Neuen oder Fesselnden beanspruchen dürfen. Was kann verbrauchter für eine poetische Bearbeitung erscheinen, als daß ein Mädchen von einem treulosen Liebhaber verführt

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