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Volkes. Trotz alles Undanks, den er so reichlich erfuhr, blieb er der Volkssache treu und während der unfreiwilligen Muße nach Auflösung seiner Anstalt suchte er gerade im Umgange mit dem niedern Volke seine einzige Befriedigung. „Er fand", sagt Mörikofer*), „ein humoristisches Behagen im Umgang mit dem gemeinen Mann. Unter diesen Verhältnissen lernte er denn auch die Nothstände der Armen und die Quellen ihres Elends besser kennen, als ein Glücklicher."

Aus dieser Liebe zum Volfe und dem Drange, ihm aufzuhelfen, ist nun sein Volksroman Lienhard und Gertrud" entsprungen. Die Erzählung beruht so sehr auf Wahrheit, daß H. Morf sogar geschichtliche Persönlichkeiten nachweist, die Pestalozzi bei Zeichnung seiner Hauptpersonen vorgeschwebt haben. Aber die höhere Wahrheit ist die, daß in sämmtlichen Personen Typen der Menschennatur in ihrer verschiedenartigsten individuellen Beanlagung und Bildungsstufe und ihrem durch besondere Verhältnisse bedingten Wirkungskreise dargestellt werden, wodurch eine Erzählung voll der frappantesten Scenen und eine dramatische Lebendigkeit entsteht, daß dadurch jedes noch nicht übersättigte Gemüth unwiderstehlich angezogen wird, ein Naturgemälde, das eben in Folge seiner charakteristischen Typen eine ewige Geltung behält.

Zuerst Gertrud, die durch ihren ungeheuchelt frommen Sinn nicht nur ihren Mann und ihre Familie, ja ein ganzes Dorf vom Untergange rettet, an deren Geradheit und Ehrlichkeit auch alle Künste der Finsterniß scheitern. Ihr einfacher Sinn läßt sie auch die verwickeltsten Verhältnisse durchschauen und ihre durch den innern Frieden, den sie in Gott gefunden, bedingte Ruhe läßt sie auch im größten Unglück nicht verzagen, sondern gießt jene wohlthuende Heiterkeit über ihr ganzes Wesen aus, die auch dem verstocktesten Herzen die Wahrheit klar legt, daß Gott die Herzen der Seinen mit seinem Frieden erfüllt auch in der größten Noth_und Trübjal des Lebens. Und welch eine Mutter! In ihr ist

*) Die schweizerische Literatur des achtzehnten Jahrhunderts. Leipzig 1861. S. 413.

für jede Mutter, Gattin und Hausfrau ein Ideal für alle Zeiten aufgestellt.

Dieser edeln Natur gegenüber ein ganzes sittlich versunkenes Dorf welch ein Gegensatz! Welch eine Macht des Guten, das von einem unscheinbaren Punkte aus Rettung bringt für so Viele!

Lienhard, ein herzguter Mann", aber leicht erregbar und den Einflüssen seiner Umgebungen nur zu sehr offen, findet an seiner Gertrud einen festen und sichern Halt, daß auch er gegen die Versuchungen des Lebens gestählt und durch die zwingende Macht der Liebe auf die Bahn des Guten gelenkt wird. Er greift weniger selbstthätig in den Gang der Ereignisse ein und bildet darum nur eine Nebenfigur, die im weitern Laufe der Erzählung ganz zurück tritt.

Den vollendeten Gegensatz zu Gertrud bildet der Vogt Hummel, eine durch natürliche Anlagen und besondere Verhältnisse bis ins Bodenlose versunkene schlechte Natur, ein trotziges und verzagtes Herz; und dennoch wird er noch aus seiner Tiefe errettet, wenn auch durch die erschütterndsten Prüfungen. Wir müssen bei den ihm auferlegten Strafen die Rechtsverhältnisse des vorigen Jahrhunderts in Betracht ziehen, die allerdings mit unserm heutigen Rechtsbewußtsein wenig harmoniren und deren Schärfe nur in den Niederträchtigkeiten, die der Vogt sein ganzes Leben lang ausgeübt, ihre Rechtferti gung findet, sowie in dem sittlichen Streben, nicht ihn zu vernichten, sondern zu retten; es muß eine radicale Umkehr in ihm bewirkt werden, mag auch der Gang unter den Galgen ein Weg für ihn sein, wie zum Tode, aber er soll dadurch zum Leben geführt, mag auch die Hand mit ewiger Schwärze gezeichnet sein, nur das Herz soll dadurch gereinigt werden. Seine Besserung versöhnt uns auch mit diesen Mitteln der strafenden, aber auch bessernden Gerechtigkeit.

Seine Frau, gegen ihre bessere Natur in das Sündenleben mit hineingezogen, rafft sich am Ende ihres Lebens wieder auf und findet im Tode noch Versöhnung nicht nur mit denen, denen sie hier Unrecht gethan, sondern auch mit ihrem Gott. Sie gibt damit dem Gemüthe ihres Mannes

die Richtung auf das Ewige. Auch sie bildet nur eine Nebenperson.

Hummel und Gertrud bilden die eigentlichen Triebfedern der Verwickelung und Entwickelung, die sich aus ihren entgegengesetzten Charakteren wie von selbst ergibt. Durch Hummel kommt die Verwickelung, durch Gertrud die Entwickelung. Die Katastrophe tritt, gegen die sonstigen Regeln der Kunst, gleich im ersten Kapitel ein mit ergreifender Wirkung. Wit lebhaftem, spannendem Gange schreitet die Erzählung vorwärts zugleich und rückwärts, rückwärts bis in die ersten Jugendfahre des Vogts, um die unheilvollen Motive der Verwickeling klar zu legen. Hummel zeigt, wie Gertrud tief und wahr bemerkt (Kap. 42), daß die Verwickelungen eines gottlosen Lebens zu Allem, auch dem Abscheulichsten führen; in Gertrud dagegen stellt sich jene Gottestraft des Glaubens und der Liebe dar, die Alles überwindet. Hummel hat vermöge seiner höhern amtlichen Stellung Verwirrung und Unglück über das Dorf gebracht; Gertrud verbreitet Heil und Segen, obwohl sie nur im niedern Stande steht und keine Hilfsmittel weiter hat, als ihr edles Herz, das, unbewußt seiner eignen Vorzüge, nirgends die Schranken ächter Weiblichkeit überschreitet.

Wie gute Geister stehen Arner (der Herr von Arnheim) und der Pfarrer Ernst über der Gemeinde, von ihrem höhern Standpunkte aus Alles zum Besten lenkend, wenn auch mitunter durch scharfe, drastische Mittel. Der Pfarrer ist es, der durch wahrhaft christliche Gesinnung und Handlungsweise vor Allen den Sieg des Guten fördert und uns jene Ehrfurcht einflößt, mit der der Deutsche so gern seinem Seelsorger begegnet und die leider nur zu oft durch das Dringen auf ein äußeres Bekenntniß und ein damit verbundenes rechthaberisches und unduldsames Wesen, sowie durch die Unkenntniß und die daraus entspringende Verachtung des realen Lebens in ihr Gegentheil verkehrt wird. Er hat viel Aehnliches mit dein Pfarrer in Hermann und Dorothea", aber er ist ein älterer Mann voll reifer Lebenserfahrung, ein würdiges, graues Haupt, aber mit jugendlich frischem

Herzen, voll reger Thatkraft zur rechten Zeit, der auch stets das rechte Wort zu finden weiß. Die Lebensweisheit theilt er mit dem Pfarrer Göthe's. Er ist ein Volksmann und „versteht, was und wo er reden und schweigen soll." Er beklagt die Geistlichen, daß sie dem Volke entfremdet find: „Ach, sie bilden sich in andern Schulen und man muß Geduld mit ihnen haben." Sein fester Glaube, der nicht viel mit Worten umgeht, desto energischer aber sich durch die That offenbart, gibt ihm jene unerschütterliche, erhabene Ruhe, die uns in seiner Nähe wohl sein läßt und uns selbst mit Himmelsfrieden anhaucht.

Und dagegen der Contrast des Maulchristenthums und der Scheinheiligkeit, wie sie auf verschiedene Weise sich darstellen in Hartknopf, dessen materialischer Glaube gerade auf seiner höchsten Spitze, wo er sich bis zum leibhaftigen Teufel und zu Gespenstern versteigt, sich selbst richten muß mit einem Fluche der Heiterkeit, und im Kriecher, der mit der frömmsten Miene von der Welt der größte Tyrann ist gegen seine armen Kinder, endlich in der frommen Barbel mit ihrer unsaubern Betschwesterarbeit: Gestalten, die aller Zeit zum Spiegel dienen fönnen.

Und dann die Feinheit in der Durchführung auch der untergeordneten Charaktere, wie jeder anders und doch jeder in seiner Art vollendet dargestellt wird, man vergleiché die unübertreffliche Schilderung der Arbeiter beim Kirchbau: es ließen sich darüber lange Abhandlungen schreiben.

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Und welche einfache und doch ergreifende Naturschilderung 3. B. in dem Kapitel: Die untergehende Sonne und ein verlorner armer Tropf", ein werthvolles Object für den besten Maler. Dazu der sichere und rasche Fortschritt der Erzählung, der keine Einbuße erleidet, trotzdem der Blick immer weiter in die Vergangenheit zurückgelenkt wird, jene einfache, prägnante Darstellung der einzelnen Scenen hauptsächlich im ersten Theile ein vollendetes Kunstwerk!

Man hat Pestalozzi einen Vorwurf daraus gemacht, daß er im ersten Theile die wüste Wirthschaft Hummels und die Verwahrlosung von Vonnal, so heißt das Dorf, so

eingehend geschildert hat, aber gerade diese mit so großer Wahrheit geschilderte Versunkenheit des Dorfes wirft erschütternd auf die Herzen. In der Aufdeckung dieser Schäden spricht sich eine aus reiner Menschenliebe entsprungene hohe fittliche Kraft aus, die auch bei der Darstellung der unsaubersten Verhältnisse es zu verhindern weiß, daß wir von dem Pesthauche dieser Verworfenheit berührt werden. Man fühlt es dem Erzähler ab, daß ihn nicht eine innere Verwandtschaft, ein selbstisches Wohlgefallen zur Schilderung dieser gräßlichen Zustände bewogen hat, sondern das tiefste Mitleiden mit dem armen, unwissenden Volke und der heilige Drang, ihm aufzuhelfen und er weiß dadurch den Leser zu gleicher Sympathie des Gefühls zu stimmen.

Und wenn wir nun das Gegenstück zu dieser geschäftigen Verworfenheit betrachten, das stille Haus Lienhard's, das wie eine Dase in der Wüste erscheint, so drängen sich die Fragen auf: Wo kommt solche Erhabenheit unter dieser Versunkenheit her, was hat dieses Haus vor gleichem Falle bewahrt? Da weist uns Pestalozzi auf die Mutter hin, die Seele dieses Hauses, deren aus ächter Frömmigkeit entsprungene sittliche Kraft ein festes Bollwerk gegen alle Versuchungen bildet. Kann eine Gattin und Mutter wohl schöner verherrlicht werden, als es durch Pestalozzi's Gertrud geschieht?

Und wenn in diesem Hause ein so guter Geist wohnt, könnte er nicht auch in andern Häusern eine Stätte finden? Welche Mittel find anzuwenden, um das verwahrloste Leben eines ganzen Dorfes zu heben?

"

Das sind Fragen, die sich ganz von selbst ergeben und durch die Pestalozzi die Herzen auf das Gebiet überleitet und für die Sache gewinnt, für die er sein Leben verlor: die Sache der Volkserziehung. „Es war ein Versuch,“ sagt er in der zweiten Vorrede, den Zustand des Volks, sowie ich ihn aus unmittelbarer Erfahrung kennen lernte, darzustellen und aus dieser Darstellung selbst die Mittel auffallen zu machen, durch welche es möglich ist, denselben wahrhaft zu verbessern. Es hat eine Menge Menschen gerührt, mir viele Freunde erworben und manche

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