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Rolle der Infantin so nichtssagend gestaltet*). Und doch verschwinden diese Fehler alle vor dem gewaltigen Eindruck, den die Dichtung als Ganzes hervorbringt. In ihr fand die französische Tragödie ihre erste feste Gestalt, wie sie sich zwei Jahrhunderte lang behaupten sollte. So eröffnet der „Cid" in Wahrheit die Epoche der klassischen Literatur in Frankreich. Wie Schiller's „Don Carlos" die Gährung in den Geistern der deutschen Jugend, wie seine „Jungfrau“ und sein „Tell" das Wiedererwachen der nationalen Gesinnung in Deutschland erkennen lassen, obwohl diese Dramen nur Episoden einer fremden Geschichte behandeln, so spiegelt sich auch im „Cid" das französische Volk, wie es in der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts dachte und fühlte, so zeigt der „Cid“ ganz besonders das Bild des stürmischen, seiner Unabhängigkeit noch bewussten, französischen Adels, bevor derselbe in dem letzten Versuch, sich frei zu erhalten, für immer unterlag.

*) Im Jahr 1734 erschien in Amsterdam ein Buch, das mehrere bekannte Tragödien in einer Bearbeitung enthielt. Der Verfasser hatte sich nicht genannt, man glaubte jedoch, Jean Baptiste Rousseau in der Arbeit zu erkennen. Unter diesen Bearbeitungen findet sich neben Tristan's „Mariamne“, dem „Don Japhet“ des Scarron und dem „Florentin" des La Fontaine auch der „Cid“.

Darin war die Rolle der Infantin und ihres Vertrauten gestrichen, und neben andern Aenderungen auch der Schluss dahin umgeformt, dass Rodrigo nicht auf die Zukunft vertröstet wird, sondern sogleich die Hand Chimenen's erhält. Der König schliesst das Stück mit den Versen:

Approche-toi, Rodrigue, et toi reçois, ma fille,

De la main de ton roi l'appui de la Castille.

Durch diese harten, unglücklichen Verse wird das Uebel noch verschärft, über das man besonders Klage führte. Dennoch wurde das Schauspiel in dieser Form für die Bühne angenommen, da es den Gang der Handlung beschleunigt. Auch Mademoiselle Rachel, welche im Jahr 1842 den „Cid" wieder zur Aufführung brachte und die Rolle der Chimene spielte, behielt noch diese Bearbeitung bei, und erst in neuerer Zeit hat man das Drama in seiner alten richtigen Form zur Darstellung gebracht.

Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass Voltaire, und nach ihm Laharpe die Behauptung aufstellten, dass Corneille weniger de Castro als das Stück eines andern spanischen Dramatikers, Diamante („El honrador de su padre"), nachgeahmt habe. Die neueren Untersuchungen haben bewiesen, dass Diamante's Stück erst 1658 in Madrid erschien, und eine Nachbildung der Corneille'schen Dichtung war. Wir haben also nicht weiter darauf einzugehen. Vergl. Hyppol. Lucas „Documents relatifs à l'histoire du Cid. Paris, Alvarès. 1860. Schack, Gesch. des spanischen Theaters. B. III. und Corneille, éd. Marty-Laveaux, B. III. S. 4 und 238.

Sechster Abschnitt.

Der Streit über den „Cid".

Wenn Corneille schon vor dem „Cid" als einer der begabtesten Dichter galt, so hob ihn der ausserordentliche Erfolg dieses Dramas mit einem Mal über die Schaar der andern Dramatiker hoch empor. Er sah sich von der Begeisterung der gebildeten Kreise getragen, von dem Sonnenglanz plötzlich erworbenen Ruhms bestrahlt.

Der Beifall war zu gross, zu allgemein, der Sieg zu plötzlich, als dass Neider und Gegner alsbald zum Wort hätten kommen können. Sie fehlten Corneille nicht, aber sie waren. eine Zeit lang völlig verblüfft und stumm. Sie mussten sich erst zurechtfinden, bevor sie ihre Kritik üben konnten, und so lang mochte sich Corneille ungestört seines Siegs erfreuen. Neue Entwürfe beschäftigten seinen Geist und er plante Dramen, die seinen Ruhm noch höher tragen sollten. Der Gedanke, die Kämpfe der Horatier und Curiatier dramatisch zu behandeln, war ihm schon damals vertraut. Musste er sich nicht zu neuer Dichtung angespornt fühlen, wenn er sah, wie mächtig er auf das Volk einwirkte, wie günstig auch der Hof und der hohe Adel sich ihm erwiesen? Der „Cid" wurde dreimal binnen kurzer Zeit im Louvre aufgeführt. Die Königin Anna, die als spanische Infantin nie ganz heimisch in Frankreich wurde, fand an Corneille's Drama ein besonderes Gefallen. Von ihrem Gemal vernachlässigt, von der antispanischen Politik Richelieu's verletzt, freute sie sich doppelt der Dichtung, die einen spanischen Helden pries und ihr als eine Huldigung für Spanien erschien. Sie mochte sich für Augenblicke in ihre Heimat zurückversetzt wähnen, und ihrem Einfluss darf man es wohl auch zuschreiben, wenn der König wenige Monate nach dem Erscheinen des „Cid", um den Sohn zu belohnen, der

früheren treuen Dienste des Vaters gedachte und denselben in den Adelsstand erhob *).

Anders freilich als im Kreis der Königin und im grossen Publikum dachte man im Palais Cardinal. Richelieu war Corneille schon von früher her gram. Er zürnte dem Dichter, der sich seiner Leitung entzogen hatte, und dessen Triumph auf der Bühne ihm wie eine trotzige Herausforderung erscheinen mochte. Die Berichte der Zeitgenossen sagen geradezu, der Cardinal sei eifersüchtig gewesen*). Seine Verstimmung wurde nicht gehoben, als im Februar 1637 der Cardinal in seinem Palast das zweite Lustspiel der „fünf Autoren", den „Blinden von Smyrna“ aufführen liess. Das Stück fand nicht den gehofften Beifall, obwohl es vor einer geladenen Gesellschaft dargestellt wurde, und es gelang ihm nicht, den Ruhm des „Cid" zu verdunkeln.

Kein Zweifel, Richelieu sah den Dichter des „Cid“ mit ungünstigem Auge, allein man würde ihm Unrecht thun, wollte man den Grund dieser Abneigung nur in niedrigem literarischen Neid suchen. Er liess den „Cid" auf seiner eignen Bühne aufführen und wenn er sich dann an einer Parodie desselben, die Boisrobert verfasst hatte, ergötzte, so können wir darin noch keinen Beweis für seine Eifersucht erblicken **). Es ist fraglich, ob Richelieu einen Feldzug gegen Corneille unternommen hätte, wenn ihn nur literarische und persönliche Abneigung be

*) Das Adelsdiplom ist vom 24. März 1637 datirt. Der Vater Corneille hatte seit siebzehn Jahren sein Amt aufgegeben. Dass der Dichter in dieser Standeserhöhung eine Belohnung für sich sah, sagt er in einem späteren Gedicht, Sonnet au Roy (1657, Oeuvres X. n° XLIV. p. 135).

La noblesse, grand roi, manquoit à ma naissance ;

Ton père en a daigné gratifier mes vers.

*) Vergl. Tallemand des Réaux. Historiettes (Boisrobert) II. 163. Pél

lisson Histoire de l'académie p. 87.

**) Tallemand erzählt an der angegebenen Stelle, dass die bekannte Scene des Cid (I. 5) zwischen Don Diego und Don Rodrigo:

Don Diegue:

Rodrigue, as-tu du coeur?

Don Rodrigue:

L'éprouveroit sur l'heure.

Tout autre que mon père,

von dem Parodisten dahin abgeändert wurde, dass auf des Vaters Frage: „Rodrigue as-tu coeur?" der Sohn antwortete: „Je n'ai que du carreau“.

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