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schon gegeben ist. Mauro hat das ethische Moment in Ariost's gehaltvoller Dichtung vollständig verkannt, das in der Bestrafung des christlichen Helden mit Wahnsinn wegen seiner Liebe zu dem Heidenmädchen Angelika und in seiner Heilung von diesem Wahne beruht. Das Hineinspielen des Zauberers Atlas und seiner Sippschaft in die Handlung ist charakteristisch. Den Höhepunkt und zugleich den Knoten der Handlung führt die in Atlas' Zauberpalast spielende Scene im zweiten Akt herbei. Dieser Palast hat nämlich die Eigenschaft, dass in ihm keiner den anderen erkennt, und dass ein jeder beim Verlassen desselben sich von seiner Geliebten zurückgerufen wähnt. Allerdings haben wir auch im Servio Tullio“ (I, Sc. 9) die bewusste Gartenscene; aber, was hier durch die Dunkelheit motiviert, ist dort künstlich herbeigeführt. Ja, selbst das Königtum des sogenannten Chinabeherrschers, Galafro, wird von den Zauberkünsten des Atlas verdunkelt. Übrigens spielt der ganze „Orlando" zum grössten Teil in jenem Zauberschloss, nichts als Verzauberungen, Verwandlungen, geflügelte Greifen, Luft-, Palast- und Höllengeister, Gespenster, Drachen etc. etc. schieben die Handlung vor

wärts.

Auch das Bild des Titelhelden, so wie es sich uns nach dem Urbild im „Orlando furioso" historisch darstellt, sowie die übrigen Charaktere, z. B. Angelika und Medor, sind völlig verwischt. Dagegen ist der Servio Tullio der Geschichte,

um dort Rolands Verstand, der als feiner Liqueur auf Flaschen gezogen ist, zurückzuholen. Astolf nimmt die mit der Etikette »Rolands Verstand<< bezeichnete Flasche und kehrt zur Erde zurück. Im Begriff, sich mit dem ihm von dem Könige Senap geschenkten Heere auf einer durch Zauberkraft aus Baumblättern entstandenen Flotte einzuschiffen, treffen Astolf und die aus Bradamantes Gefangenschaft befreiten fränkischen Ritter plötzlich auf Roland, der, halb nackt und nur mit einer Keule bewaffnet, auf das Heer einstürmt. Mit Mühe wird der Rasende gefangen und gebunden. Als ihm aber Astolf die Verstandesflasche unter die Nase hält, wird Roland vom Wahnsinn und zugleich von seiner Liebe zu Angelika geheilt. Er fährt hierauf mit den Helden nach der Provence, wo Astolf die Hauptstadt König Agramants, Biserta, belagert. Mit der Vermählung des Christ gewordenen Ruggiero und Bradamantes, der Ahnen des fürstlichen Hauses Este (cf. Servio Tullio!), schliesst das Gedicht." s. Sauers Ital. Litteraturgeschichte, Leipzig 1883, p. 207, 208.

in Terzago's Textbuch wenn auch abgeschwächt, so doch immerhin erkennbar.

Nähmen wir gar das Libretto Quinault's zu Lully's gleichfalls in das Jahr 1685 fallender, in Paris aufgeführter Oper „Rolland" 1) hinzu, so würde sich die Inferiorität der Ortensio'schen Dichtung, aber auch Terzago's, sowie überhaupt der venezianischen Librettisten gegenüber den französischen Dichtern noch evidenter zeigen.

Wenn daher Saint-Mard2) den Dichter Quinault so ausserordentlich lobt und sagt: „Niemand habe Leidenschaften besser geschildert, niemand Gefühle richtiger verteilt als Quinault", und wenn auf der anderen Seite z. B. Riccoboni3) sagt: „Die meisten venezianischen Dichter verdienten nicht einmal, erwähnt zu werden", so schliessen wir uns diesem zeitgenössischen Urteil an.

1) Die interessante Aufgabe, Quinaults Rolland" mit Steffani's „Orlando" eingehend zu vergleichen, konnte ich wegen der mangelnden Partitur nicht verwirklichen. Der hervorragendste Unterschied zwischen Quinaults und Ortensio's Textbuch beruht in der Knappheit, mit der bei Quinault die Handlung folgerichtig und unaufhaltsam der Katastrophe zueilt. Roland wird wegen verschmähter Liebe wahnsinnig, die Fee Logistilla lässt ihm im Traum die antiken Helden erscheinen. Diese fordern Roland auf, statt der eitlen irdischen Liebe dem Schlachtenruhm nachzujagen. So wird aus dem verliebten Schwärmer der Held und Paladin Karls des Grossen. Die Fee Logistilla ist gewissermassen die Personifikation des Logos, der besseren Einsicht, die ihm die Heilung bringt. Auch Angelika ist keine kokette, galante Schöne, wie bei Ortensio, sondern sie zeigt ihre Liebe zu Medor dadurch, dass sie ihn vor dem wahnsinnigen Nebenbuhler zu verbergen sucht. Medor freilich ist derselbe Schwächling wie bei Ortensio. Um so sympathischer ist dafür die Figur Astolf's, eines Freundes Roland's. Auch der Aufbau der Handlung ist bedeutend logischer wie bei Mauro, wenn auch nicht immer psychologisch motiviert.

2) a. a. O., p. 190, s. auch Raguenet (bei Marpurg p. 67).
3) a. a. O., p. 54.

Ich werde nunmehr bei der eingehenden Abschätzung der Musik zu ,,Servio Tullio" nicht nur die übrigen Opernpartituren des Meisters, soweit sie mir vorlagen, sondern auch diejenigen etlicher anderer zeitgenössischer Komponisten mit zu Rate ziehen. Die dramaturgischen Theoretiker, welche uns bei der Besprechung des Textes so manche Dienste leisten können, stellen uns für den musikalischen Teil nur dürftige Gedanken zur Verfügung. Mit Ausnahme eines einzigen, Benedetto Marcello 1), sind alle hier in Frage kommenden Dramaturgen mehr oder minder Dilettanten. Der Parallelistenstreit z. B.2) ist musikalisch noch weniger ergiebig wie litterarisch, da die beiden Parteien mit fanatischem Chauvinismus ihre nationalen Vorzüge gegeneinander ausspielen, dabei aber das Musikalisch-Technische kaum streifen.

Steffani schrieb, soweit wir heute feststellen können, 18 Opern und Tourniermusiken, für welche seine Autorschaft feststeht. Seine Münchener Werke sind: „Marco Aurelio“ (1681), „Solone" (1685), „Audacia è Rispetto" (1685), ,,Servio Tullio" (1685), „Alarico il Balta" (1687) und ,,Niobe" (1688). Die Opern für Hannover sind: „Henrico Leone" (1689),,,La lotta d'Alcide (d' Hercole) con Acheloo" (1689),,,La superbia d' Alessandro" (1690), ,,Orlando generoso" (1691), Le rivali concordi" (Atalanta) (1692),,,La libertà contenta" (Alcibiades) (1693), „Il trionfo del fato o le glorie d' Enea (Didone)“ (1695), Baccanali" (1695), „Briseide" (1696), Enea or Amor vien dal destino (il Turno)" (1709). Für Düsseldorf schrieb er ,,Arminio" (1707) und Tassilone" (1709). In der an

1) a. a. O.

2) s. Seite 28/29, Anm. 2.

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gehängten Tabelle der Opern Steffani's sind diese Werke zum ersten Male zusammenfassend bibliographiert; ich verweise auf dieses Verzeichnis. Die Oper „Servio Tullio" ist nach der soeben gegebenen Bibliographie das vierte Werk und nächst ,,Marco Aurelio" das früheste uns erhaltene Drama per musica des Meisters. Die Wiener Partitur des ,,Servio Tullio" besteht aus 4 Bänden 1).

Den Prolog der dreiaktigen Oper eröffnet eine im Tone sehr kräftig gehaltene vierstimmige Ouverture, „,Sinfonia“ benannt 2), für 2 Violinen, Viola und Cembalo d. i. Basso continuo, eine Instrumentierung, wie sie Steffani in allen Opern festhält. In der mir vorliegenden Partitur hat die Cembalostimme keine Generalbassbezeichnung, auch in allen übrigen Ouvertüren Steffani's findet sich keine, mit Ausnahme derer zu,,le Rivali concordi" und ,,la lotte d' Alcide".

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Die Sinfonia zerfällt in zwei breit angelegte, thematisch gesonderte Sätze im Allabrevetakt (C), wie wir sie ähnlich in der gleichzeitigen Instrumentalmusik finden. Das ist die zuerst von Cambert in den Opern,,Les peines et les plaisirs d'amour" und,,Pomone" benutzte Form: Grave und fugiertes Allegro. Diese Form hat Lully, der eigentliche Begründer der französischen Nationaloper, übernommen. Da sich der Einfluss dieses Meisters auf Steffani nicht nur in der Ouverture zeigt, nicht nur in Einzelheiten, so ist es nötig, in grossen Zügen ein Bild von seiner Kompositionsart zu entwerfen.

Bei Lully beginnt die Ouverture mit einem Grave, das bald länger, bald kürzer ausgesponnen ist. Auffällig ist die Einförmigkeit des Rhythmus. Die harmonische Gestaltung, die bei Lully sonst mitunter eine gewisse Reichhaltigkeit auf

1) Die Exemplare, die recht sauber gehalten sind, sind gleich lang (25,3 cm) und gleich hoch (19,8 cm). Der Prologband 1,5 cm, Akt I 2,5 cm, Akt II 1,9 cm, Akt III 2,2 cm dick. Es sind Pappenbände mit Goldschnitt und Ornamenten (auf der Vorder- und Rückseite befindet sich das kurfürstl. bayer. Wappen in Goldpressung). Die Schrift verrät hier und dort einen flüchtigen Zug und stammt zweifellos von einem Kopisten.

2) Steffanis Ouverturen tragen nicht immer den Titel „Sinfonia“. In den Opern „Orlando“ und „La lotta d' Alcide" heisst es ausdrücklich „Ouverture".

weist, ist im Grave geradezu vernachlässigt. Lully beabsichtigt durch die lapidare Einfachheit dieses ,,Grave" wohl, den feierlichen Grundton der Tragödie gleich zu Beginn anzuschlagen. Auf das Grave folgt ein freier, fugierter Satz im Allegrotempo. Ich sage:,,freies" Fugato, weil in kontrapunktischer Hinsicht der Meister sich jede Freiheit in der Beantwortung des Themas lässt, und weil im Verlauf der ,,Sinfonia" der fugierte Charakter meistens völlig verloren geht. So weit gleichen sich alle Ouverturen Lully's in der Form. Während jedoch bei einigen Opern, z. B. „Isis“, ,,Proserpine",,,Thésée", ,,Cadmus et Hermione" und ,,Amadis" die Ouverture mit diesem Fugato abschliesst, lässt der Komponist in anderen Werken, z. B. „Achille et Polyxène“, „Phaeton",,,Armide", „Atys" auf das Fugato das ursprüngliche Grave-Tempo noch einmal folgen und schliesst damit die Ouverture ab. Das Grave und Fugato werden in der Regel als Teil für sich wiederholt, wie auch die ganze Ouverture am Schluss des Prologs repetiert zu werden pflegt.

Ausser dieser Ouverture giebt es bei Lully an selbständigen Instrumentalstücken Ritornelle und Tänze. Die Ritornelle haben eine doppelte Aufgabe, entweder sind es selbständige Stücke, die dazu dienen, einen Akt einzuleiten, oder es sind Einleitungen und Zwischenspiele einer Arie oder eines Recitativs. Ein thematischer Zusammenhang zwischen diesen Vor- resp. Zwischenspielen und der Arie und dem Recitativ ist nicht zu erkennen. Dafür versucht Lully, die Stimmung durch Tonmalerei in den Ritornellen vorzubereiten. Genau so verhält es sich mit den Ritornellen, die die Chöre als Vorund Zwischenspiele begleiten. Die selbständigen Ritornelle beginnen meist fugiert und sind vollständig frei erfundene Stücke. Das Hauptmerkmal dieser Ritornelle ist der Versuch, zu charakterisieren. So sehen wir z. B. als Vorspiel der Oper ,,Isis" (Akt II) ein Ritornell, in dem Lully die Kälte schildern will. Das Fröstelnde wird durch fortwährende Achtelbewegung gemalt. Der zweite Akt der Oper ,,Persée" wird durch ein sehr tief enpfundenes Ritornell eingeleitet, das mit einer getragenen, einfach harmonisierten Melodie im Takt in die Stimmung der folgenden Liebesscene einführen soll.

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