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Überblicken wir nunmehr die dramaturgische Bewegung von Anbeginn bis auf das Aufführungsjahr der Oper „Servio Tullio“, 1685, so gewinnen wir ein im ganzen recht einheitliches, erfreuliches Bild. Muss man auch einschränkend zugeben, dass die Franzosen, besonders Raguenets Gegner Vieuville, in ihren Schriften von chauvinistischen Vorurteilen zu einer übermässigen Lobhudelei auf das damalige lux mundi Jean Baptiste Lully verleitet werden, so entschädigen sie dafür durch die übersichtliche Gruppierung des Materiales, sowie durch eine formell und inhaltlich gefällige Darstellung. Von Doni bis auf Marcello sind es nicht, wie in Frankreich,

Das in unsern Opern-Theatris siechende Christentum und siegende
Heidentum. (Canterbury 1728 [!], 8o, ohne Namen.)

Die an der Kirche Gottes gebaute Satans-Capelle (Cöln [!) am
Rhein [sicherlich ein Irrtum Adelungs, gemeint ist Cölln an
der Spree!] 1729, 8°, unter dem Namen „Marcus Hilarius
Frischmuth. Unschuldige Nachrichten, 1729, 1730". [s. Adelung,
Gel.-Lex. II, sp. 1293.])

Rauch steht übrigens als Verteidiger der Oper nicht allein. Die Schrift Heinrich Elmenhorst's (ein lutherischer Prediger und deutscher Poet, geb. am 19. Oktober 1632 zu Parchim, gest. am 21. Mai 1704, s. Jöcher, Gel.-Lex. II, p. 329-30, Lex. hamburg. Schriftsteller II, p. 173–76), welche betitelt ist: „Dramatologia antiquo-hodierna", 1688, und noch mehr des Operndichters Bartholomäus Feind: (geb. zu Hamburg 1664, gest. zu Rendsburg im Gefängnis im Jahre 1721 [s. Jöcher a. a. O. II, p. 544-545, Lex. hamb. Schriftst. II, p. 281-89]) „Gedanken von den Opern", die sich in dessen 1700 erschienenen „Teutsch Gedichte“ p. 74 ff. aufgezeichnet finden, sowie des Juristen Georg Bertuch „Disputatio iuridica de eo quod iustum est circa Ludos scenicos operasque modernas“, Kiel 1693, (Typis Ioach. Reimanni, Acad. Tytogr., [s. Forkel, a. a. O. p. 172]) treten rückhaltslos für die Oper ein. Der sachlichste und am meisten fachmännische unter ihnen ist Feind, der den Opernstil eingehend charakterisiert, auch auf den Parallelistenstreit eingeht und uns in seiner feinen Diktion häufig an Raguenet und Vieuville erinnert. Andererseits gemahnt er uns z. B. in der genauen Abgrenzung des für die Oper erlaubten dekorativen Elementes an die Italiener Muratori, Quadrio sowie an Menestrier. Auch Mattheson hat sich ausser durch die Übersetzung Raguenets und Vieuvilles auch durch seine im Geiste Marcellos gehaltene „Neueste Untersuchung der Singspiele", Hamburg 1744, an der dramaturgischen Bewegung beteiligt. Gleich ihm war auch Gottsched ein Gegner der Oper (s. Forkel, a. a. O., p. 174), gegen welchen Hudemann die Oper verteidigt (s. Mitzlers mus. Bibl. Bd. 2, Th. 3. p. 120-151).

espritvoll plaudernde Dilettanten, die da ihre Ansichten über Kunst und Künstler äussern, sondern theoretisch hochgebildete und praktisch thätige Musiker, die auf Grund ihrer Kenntnisse zu einem fachmännischen Urteil gelangt sind. Sie sind nicht blind gegen die Schäden ihrer heimischen Oper, sondern warnen ihre Zeitgenossen vor dem drohenden Verfall der Oper, die in ihrer gegenwärtigen Gestalt, ein der gesprochenen Tragödie durchaus unebenbürtiges Machwerk sei. Weitaus am unsympathischsten berühren die Schriften der Hamburger und Berliner Dramaturgen. Es sind nicht einmal, wie die Franzosen, gebildete Dilettanten, sondern Laien, protestantische Prediger, die in den Streitschriften gegen die Oper die günstige Gelegenheit wahrnehmen, der aus dem katholischen Italien stammenden Oper die Existenz vom ethisch-theologischen Standpunkte aus abzusprechen. Nur der Operndichter Feind macht, wie oben 1) gezeigt wurde, eine Ausnahme.

Was sagen nun die Dramaturgen zu den Operntexten ihrer Zeit? d. h. wie soll nach ihrer Ansicht ein guter Operntext beschaffen sein?

Wir müssen auch hier wieder zwischen Frankreich und Italien unterscheiden. Der französische Textdichter ich denke an Quinault, den Zeitgenossen Molières ist in erster Linie Dichter; die französische Nationaloper Lullys ist zwar italienischen Keimen entsprossen, hat aber durch Lully so viel französische Elemente in sich aufgenommen, dass sie auch äusserlich die Form, die Charaktere und den poetischen Gehalt, ja selbst den Versbau der französischen Tragödie nachahmt; ich erinnere an den im selben Jahre wie Steffani's „Servio Tullio" zu Paris aufgeführten Rolland" (Lully-) Quinaults, wie hier das Dramatische gegenüber dem Lyrischen in den Vordergrund tritt, wie der Aufbau der Handlung bis zu Ende folgerichtig durchgeführt ist, wie scharf umrissen, wie individuell geprägt die Charaktere gegeneinander stehen, wie persönlich die Sprache gefärbt ist.

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Der italienische Textdichter der Zeit hingegen ist der Librettist. Er schneidet schon das Sujet auf Operneffekte zu, die zugleich auf die überschwengliche Verehrung 1) p. 39, Anm. 3.

des Fürsten, dem das Buch gewidmet ist, abzielen. In diesem Punkte berühren sich Italiener und Franzosen. Beide schicken ihren Werken jene Prologe voraus, die ganz äusserlich und willkürlich mit der Handlung verflochten, nichts weiter als ein Einleitungsfestspiel, gewissermassen ein Gebet für den Herrscher, darstellen. Im weiteren Verlauf der Handlung versinkt der Italiener gänzlich in blosses Intriguen- und Verwechslungsspiel, mit galantem Beigeschmack. Das Beispiel unseres „Servio Tullio" (s. die Inhaltsangabe) mag dies erläutern. Einen entschiedenen Vorzug der italienischen Textbücher gegenüber den französischen bilden die humorvollen Episodenfiguren des Sklaven und der Amme, die freilich andererseits wieder als ritardierendes Moment der dramatischen Entwickelung hinderlich sind.

Evremond tadelt am Operntext die Abhängigkeit des Dichters vom Komponisten. Es dünkt ihm im höchsten Grade lächerlich und unwahrscheinlich, dass alles was zur Handlung gehört, in der Oper gesungen wird, ja dass man sogar singend einander tötet. Indem er den Satz aufstellt, dass Gespräche, Ratsverhandlungen, kurz alles zur Handlung Wichtige nicht gesungen werden darf, dass dagegen Gebete, Opfer, Gelübde und Empfindungsausdrücke jeglicher Art für den Gesang sich eignen, nähert er sich, wie wir später sehen werden, den Anschauungen Quadrios und Muratoris. Was zur Handlung gehört dem Recitativ, Lyrisches - der Arie!" Im Übrigen ist Evremond ein ausgemachter Feind der italienischen Operntexte.

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Ihm hält Rémond de Saint-Mard das „obstat“, um einen zeitgenössischen Ausdruck zu gebrauchen. Er hält Evremond für einen Pedanten, für einen Mann von Stand, der zwar Geist habe, aber oberflächlich urteile1). Er sagt, die Oper sei in der Form eine Tragödie, unter Vorbehalt der sogenannten „divertissements" (damit sind die an den Aktschlüssen eingestreuten und mit der Handlung nur lose verflochtenen Balletts gemeint). Das Hauptcharakteristikum der

1) a. a. O. p. 141. S. auch Rolland, Les origines de L'Opéra française, Paris 1895, p. 224.

Oper sei das Wunderbare. Während in der Tragödie das Interesse von Akt zu Akt wachsen könne, müsse in der Oper der Stoff von Anfang an auf die Illusion angelegt sein, welche eben durch das Wunderbare hervorgerufen werden soll. Welche Illusion sei es z. B., wenn der Held durch die Meere hindurch alle Weltteile durchwandert und sich dann plötzlich in einem Zauberpalast befindet! Auf diese Weise sei die Oper eine Tragödie, wie sie die Alten wollten (mit dem deus ex machina). Wenn der Stoff nur ein wenig verwickelt ist, so wird der Zuhörer, der ja den gesungenen Text ohnehin nur schwer versteht, verwirrt und sein Interesse erlahmt. Es ist wichtig, dass St. Mard nur 1500 leichtsangliche Worte für den Operntext zulassen will. Ratschläge, Befehle und Ähnliches verpöhnt er. Der Oper stehe das Edle, Majestätische nicht so gut an, wie das Zärtliche und Leidenschaftliche; daher sei Quinault so gross, denn nur das Anmutig-Graziöse sei im Stande, Mitleid zu erregen. Als Gegensatz zum Anmutigen soll das Schreckliche verwendet werden. Der Operndichter soll die Regeln der Natur entnehmen, die uns zeigt, was rührt. St. Mard schliesst seine Ausführungen mit dem denkwürdigen Satze: „Ich möchte, dass Dichter und Musiker in einer Person sich vereinigt finden. Vielleicht wird es dahin kommen, wenn die Gebildeten die Musiktheorie erlernen; dadurch wird das Publikum mit dem Herzen dabei sein können und Gesittung wird Platz greifen. Wenn zu diesen beiden Künsten dann auch noch Dekorationen, Maschinerien, Tanz, gute Sänger und Sängerinnen hinzu kommen, um dadurch der Aufführung grössere Kraft und Wahrheit zu verleihen, so wäre das Idealkunstwerk geschaffen!

Raguenet hält Quinaults Texte für bedeutend wertvoller als die der Italiener, die er1) „erbärmliche Rhapsodien ohne Zusammenhang" nennt. Die Scenen seien nichts weiter als Unterredungen oder Monologe, denen dann am Schluss häufig ganz ohne Zusammenhang mit der eigentlichen Handlung die Arie angehängt wird. Die französischen Texte eines Quinault dagegen seien regelmässig und verbunden", die Sprache fliesse aus den Charakteren.

1) a. a. O. p. 68, 42.

Auch Vieuville tadelt die Einförmigkeit im Ausdruck bei den Italienern. Er hebt hervor1), es gebe in Quinaults Texten 1000 schöne Dinge". Quinault sei es gewesen, der die französische Oper von den faden italienischen Plattheiten gesäubert hätte. Gleich St. Mard fordert auch er eine Vereinigung aller Künste, um die vollendete Oper zu schaffen, fügt aber hinzu, es gehöre auch ein verständiger Regisseur dazu, damit das Werk gehörig zusammengefügt und aufgeführt werde, ausserdem ein grosser Fürst oder eine Republik so mächtig wie Venedig, die im stande ist, die Kosten aufzubringen; denn es muss alles mit dem gewaltigen Stoff (sujet), der für gewöhnlich aus der Geschichte entnommen oder allegorisch ist, übereinstimmen 2).

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Unser erster italienischer Gewährsmann ist Benedetto Marcello3). Es ist nicht leicht, aus seiner Satire den eigentlichen Kern herauszuschälen, erstens wegen mancher Anspielungen auf venezianische Verhältnisse, die uns teilweise unbekannt sind1), zweitens wegen der doppelsinnigen und noch durch Provinzialismen merkwürdig gefärbten Sprache, drittens, weil wir seine ironischen Ratschläge erst ins Positive übersetzen müssen. Aber gerade er führt uns am deutlichsten vor Augen, dass und wie tief die italienischen Opernlibrettisten unter den französischen standen.

Der italienische Dichter, sagt er, ist aus Überdruss an allen möglichen Berufsarten (Mathematik, Medicin etc. etc.) zum Operndichter geworden. So macht er sich denn sein Handwerk leicht. Er thut gelehrt, indem er aus alten Werken (griechischen und römischen), die er massenhaft für seine Zwecke durchstöbert, aber nur oberflächlich kennt, seine Stoffe entlehnt. Aber damit nicht genug! Er verquickt diese antiken Stoffe mit modernen, die er wiederum Zeitgenossen stiehlt, und, um seinen Diebstahl zu verhüllen, mit historischen Floskeln umgiebt. Das macht er folgendermassen: er ändert Vers oder Namen der Personen, wenn er aus dem Fran

1) Bonnet, a. a. O. p. 19, 20.

2) Marpurg, a. a. O. p. 422, Bd. 1, Bonnet p. 454.

3) a. a. O. p. 6—13.

4) z. B. der „Orso in Peata".

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