Page images
PDF
EPUB

wohl sagen, die tatsächliche und rechtliche Machtfülle des britischen Premiers unserer Tage übertrifft die des amerikanischen Staatsoberhauptes dann, wenn unter günstigen politischen Umständen eine überragende Persönlichkeit vorhanden ist, die es versteht, alle in dem hohen Amte latent enthaltenen politischen und administrativen Kräfte auszunützen.

Es ist unmöglich, diesen Erscheinungen der inneren Umwandlung des englischen Ministeriums in dem letzten Menschenalter hier nachzugehen, so verlockend und lohnend das wäre. Das mit Rücksicht auf die vorliegende Aufgabe wichtigste Ergebnis dieser Umwandlung ist uns wohlbekannt. Wir wissen, dafs die volle Entfaltung des Systems parlamentarischer Cabinetregierung auf die Geschäftsordnung des Unterhauses geradezu revolutionierend gewirkt hat. Fafst man nun diese Tatsache von dem engeren Gesichtspunkte der rechtlichen Beziehungen zwischen Ministerium und Volksvertretung auf, so läfst sich diese Umwälzung mit aller Schärfe juristisch definieren. Sie besteht in der Aufhebung des historischen, formell auch heute noch proclamierten Prinzipes der völligen Gleichheit aller Abgeordneten auf dem Boden des Verfahrens und der Geschäftsordnung. An dessen Stelle ist das neue Prinzip getreten, das sich kurz so formulieren läfst: die moderne parlamentarische Regierung ist durch eine Reihe von Vorrechten, die ihr die Geschäftsordnung verleiht, zum Herrn und Leiter des Unterhauses als Arbeitsorganisation geworden. Um dies aber vollends zu würdigen, müssen wir uns daran erinnern, dafs jede englische Regierung eine Parteiregierung ist. Ein Überblick über das Wesen der Parteien im Hause und die damit zusammenhängenden Erscheinungen ist unerlässlich für ein volles Verständnis der Technik des englischen Parlamentarismus.

Fünfter Abschnitt.

Die politische und soziale Structur des Unterhauses und das Parlamentsverfahren.

Erstes Kapitel.

Die Parteien, das Haus und die Geschäftsordnung.

Seit zwei Jahrhunderten bildet das Vorhandensein zweier grofsen Parteien im Unterhause die fundamentale politische Tatsache, von der die ganze lebendige Fortentwicklung der englischen Verfassung seit dem Wechsel der Dynastie ausgeht. Es kann nun hier nicht die Aufgabe sein, dieses so eigenartige, für die Gestaltung des ganzen modernen Staatsrechtes so aufserordentlich folgenreiche Phänomen der politischen Parteien in ihrem Wesen, ihren Existenz- und Arbeitsbedingungen in eingehende Betrachtung zu ziehen. Darauf kann um so leichter verzichtet werden, als wir in dem meisterhaften Werke von Ostrogorski nunmehr eine erschöpfende, auf eigener, überaus gründlicher Beobachtung und Erforschung des englischen und amerikanischen Parteiwesens beruhende Darstellung der Geschichte, Structur und Function des modernen englischen Parteilebens besitzen. Auf die historischen Hauptmomente ist übrigens schon oben hingewiesen worden. Die Frage, die allein hier aufgeworfen werden mufs, geht einfach dahin, inwieweit diese Voraussetzung des ganzen neueren englischen und damit des modernen Parlamentarismus überhaupt, inwiefern das Vorhandensein der zwei grofsen historischen Parteien Englands, denen im letzten

1 Siehe oben S. 75, 86-90.

Viertel des 19. Jahrhunderts sich die intransigente Partei der irischen Nationalisten gegenübergestellt hat, in der Geschäftsordnung und dem Verfahren des Unterhauses etwa ausdrückliche oder mittelbare Anerkennung gefunden hat und welcher Zusammenhang zwischen diesen Instituten und dem Parteiwesen besteht.

Wie die Teilung der Commons in die beiden grofsen Staatsparteien sich in der äufserlichen Erscheinung des Hauses, in der Sitzordnung, darstellt, ist schon oben hinreichend besprochen worden. Hieran anknüpfend mufs nun zunächst daran erinnert werden, dafs selbst diese Sitzordnung niemals ausdrücklich durch einen Beschlufs des Hauses anerkannt worden ist. Es besteht auch gegenwärtig vom Standpunkte des Parlamentsrechtes kein Hindernis, dafs irgend ein Abgeordneter etwa seinen Sitz im Widerspruche zu seiner Parteistellung und der auf Unterscheidung beider Parteien beruhenden hergebrachten Sitzordnung einnehme. Und ebenso fehlt es auch sonst an jeder ausdrücklichen Anerkennung des Parteiwesens durch die Standing oder Sessional Orders des Hauses. Das hindert nun allerdings nicht, dafs eine Reihe von politischen Gebräuchen und Rechtsgewohnheiten im Unterhause aufgekommen sind, die vollständig auf die Tatsache des Parteiwesens und der parlamentarischen Parteiregierung zurückzuführen sind; so vor allem die Bildung der Standing Committees nach dem Mehrheitsprinzip, die Übung, dafs in der Erteilung des Wortes zwischen beiden Seiten des Hauses alterniert wird, der Gebrauch, dafs alle Personalfragen, sowohl die Erwählung des Speaker wie des Chairman of Committees, ferner des Chairman der wichtigen Committees of Selection and Standing Orders praktisch genommen im Belieben des Leader of the House, also des Führers der Mehrheitspartei, liegen. Es ist nun selbstverständlich, dafs das Parlamentsverfahren im technischen Sinne des Wortes von dem Vorhandensein der Parteien in keiner Weise berührt werden kann; denn alle Formen und Mittel parlamentarischer Prozedur müssen ja jedem Abgeordneten zu gleichem Recht zustehen, ob er nun dieser oder jener Partei, der Mehrheit oder Minderheit angehöre. Immerhin hat sich, wie wir wissen, in Gestalt der besonderen geschäftsordnungsmässigen Rechte der Regierung ein

gewisser Complex von Vorrechten der Majorität insofern gebildet, als ja nach dem in England bis zur äussersten Consequenz durchgeführten Prinzip der parlamentarischen Parteiregierung diese nichts anderes als den leitenden Ausschufs der Mehrheit des Unterhauses vorstellt. Daran mufs aber immer festgehalten werden, dafs auch die Vorrechte, wie sie einzelnen Abgeordneten der Mehrheit als Ministern der Krone zustehen, nur in letzterer Eigenschaft eingeräumt sind, daher keineswegs als formelle Rechte der Partei aufgefafst werden können. Wohl aber macht sich der Einflufs des Parteiwesens in bezug auf die praktische Erledigung der concreten Parlamentsgeschäfte in mannigfacher Weise geltend. Seitdem das System der parlamentarischen Cabinetregierung seine Vollendung erfahren und gleichzeitig die Ausbildung der grofsen festgeschlossenen Parteien eine ständige und beherrschende Tatsache der englischen Politik geworden ist, also etwa seit Beginn des 19. Jahrhunders, ist es üblich geworden, dafs über alle wichtigeren Dinge, die von der Regierung als dem politischen Executivorgan der Mehrheit zu erledigen sind, zwischen den beiden grofsen Parteien, respective zwischen dem Leader of the House und dem Leader of the Oppositon das Einvernehmen gepflogen und in sehr vielen Fällen zum Ausgangspunkt für eine auf der Übereinstimmung beider Parteien beruhende politische Action genommen wird. So ist es anerkannte Convention des englischen Parlamentarismus, für gewisse Mafsregeln von grofser nationaler Bedeutung, z. B. in der äusseren Politik, insbesondere wenn es im Interesse des Reiches liegt, dafs der Wille des Parlamentes als einheitlicher Wille der Nation erscheine, durch nichtoffizielle Besprechungen die Zustimmung der Opposition zu den Plänen der Regierung vorher einzuholen oder wenigstens den ernsten Versuch zum Einverständnis zu machen. Demselben Kreise von Parlamentsgewohnheiten gehört es an, dafs über das Tempo der Erledigung gewisser Hauptaufgaben der Session überhaupt, ferner über die Art und Weise der Verteilung der jeweils vorliegenden Aufgaben des Hauses zwischen den Parteien ein gewisses Einvernehmen hergestellt oder doch immer wieder angestrebt wird. Endlich ist es seit der Ausbildung der grofsen geschlossenen Parteien für das Schicksal einer Bill oder eines Antrages stets von

grofser Bedeutung, ob die betreffende Mafsregel von vornherein offiziell als Parteisache aufgefafst, also „on party lines“ beraten wird oder nicht. Die blofse Tatsache, dafs die Dauer der Session von vornherein feststeht, dafs ferner seit langem jede Regierung für die Durchführung auch nur eines Teiles ihres jährlichen Arbeitsprogrammes trotz aller gegen die Obstruction gerichteten Vorschriften immer noch bis zu einem gewissen Grade auf den guten Willen der Opposition angewiesen ist, macht es für jedes Cabinet notwendig, die Herbeiführung solchen Einvernehmens bei jeder grofsen gesetzgeberischen Action wenigstens ernstlich anzustreben. Und so gehört es zu den gewöhnlichen Erscheinungen der parlamentarischen Arbeit im Unterhause, dafs über das jeweilige Verhalten der Opposition zu den dem Hause vorliegenden grofsen legislatorischen Regierungsentwürfen von dem Führer der Opposition offizielle Erklärungen in dieser Hinsicht abgegeben werden.

In ganz besonderer Weise ist schliefslich das Parteiwesen von Einfluss auf ein Element des parlamentarischen Lebens, dessen Bedeutung von selbst in die Augen fällt, nämlich auf die Frequenz des Besuches der Beratungen durch die Abgeordneten (attendance). Die grofse Zahl der englischen Volksvertreter in Verbindung mit den oben besprochenen Raumverhältnissen macht es physisch fast unmöglich, dafs alle Abgeordneten gleichzeitig anwesend sind, und es finden hier wie in allen anderen Kammern grofse Schwankungen in der Besuchsziffer statt1. Damit sind nun naturgemäfs in dem politisch souveränen Unterhause Englands besondere Gefahren für die Stabilität der jederzeit von dem Vorhandensein der Mehrheit auf ihrer Seite vollkommen abhängigen Regierung verknüpft. Dazu kommt, dafs, seitdem es ein Parlament gibt, die Klagen über mangelhaften Besuch seitens eines oft recht ansehnlichen Teiles der Abgeordneten nicht verstummen. Die in früheren Jahrhunderten angewendeten Mittel zur Einschärfung der Besuchspflicht der Abgeordneten, wie sie sich

1 Nur bei grofsen parlamentarischen Schlachten und denkwürdigen Wendepunkten der Politik, wie z. B. bei der Abstimmung über die zweite Home Rule Bill Gladstones, sind fast oder über 600 Abgeordnete im Hause anwesend.

« PreviousContinue »