Page images
PDF
EPUB

muß sein in dem, was meines Vaters ist", sagt der zwölfjährige Jesus, als Er im Tempel war; so sei Euch das Haus des HErrn eine Heimathstätte; werdet keine Fremdlinge darin, sondern sprechet allerwege: HErr, ich halte mich zu deinem Altar! Wie lieblich sind deine Wohnungen, HErr Zebaoth! Ein Tag in deinen Vorhöfen ist besser, denn sonst tausend!“ Suchet die Stimme, hört sie im Wort der Schrift; das ist der große Brief, den der Vater aus der Heimath an seine Kinder in der Fremde geschrieben; so zart und innig wie Mutterliebe, so süß wie Honig, so hell wie das Licht, so scharf wie ein Schwert, so mächtig wie ein Hammer! Hört sie im Gewissen, da redet still verborgen der HErr manches Wort, in stiller Nacht und am Tage, straft und tröstet, wo's kein Mensch sieht noch hört. O, habt Acht auf Seine Stimme, wenn sie warnt und ruft. Erkennt sie in Euren Lebensführungen in Freud' und Leid! Es braucht ja der gute Hirte nicht immer nur die süße Schalmei und Sein Wort, er braucht auch die Schippe, er braucht auch den Hund, sein verlornes Schaf zu holen. So Manchen von Euch hat Er schon in der Jugend gefaßt, hat ihm Vater oder Mutter genommen, ihn in schwere Krankheit geführt und auch wieder heraus; es wird ja noch mehr kommen, da schaut nun aber nicht Euer Leben als bunten Zufall, nein, als Leitung des guten Hirten an, daß Alles Euch nur an Sein Herz, unter Seinen Stab bringen will.

[blocks in formation]

Ein rechter Hirte kennt seine Schafe, er weiß, welche zu ihm gehören, er kennt die gesunden, die kranken, die willigen und widerspenstigen Schafe. So kennt der HErr auch Seine Heerde. Nun giebt's ein Kennen und Gekanntwerden, darin liegt keine Seligkeit. Der HErr kannte die Pharisäer und durchschaute sie; Er kennt den Judas. Ihn täuscht kein Mensch. Er sieht nicht bloß die Blüthe, Er sieht auch den Wurm, der an ihr nagt; Er sieht weg vom täuschenden Antlig ins friedelose Herz. Vor ihm ist Alles licht. Aber anders kennt er die Seinen, anders Euch. Als die Schafe Seiner Heerde hat Er Euch gezeichnet in den Tagen Eurer Taufe und mit Seinen Augen, die nicht

entschlummern, behütet und Euch nicht aus den Augen gelassen bis auf den heutigen Tag. Heute ruft Er Euch noch einmal bei Eurem Namen: „Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöset, du bist mein!" Er wird Euch kennen, ob Ihr auch jetzt auseinander geht und in alle Welt zerstreut werdet - wo Euch Niemand fennt, Er kennt Euch!

Ihr sigt hier nicht nach Rang, noch Alter, noch Begabung, sondern wie Ihr selbst das Loos gezogen; aber Er kennt die Ersten und die Letzten, Er reiht Euch ein mit Seinem heiligen Auge, nach Seinem Maß. Er weiß, wem es ernst ist unter Euch, wer Ihn nur mit den Lippen und wer Ihn von Herzen bekennt.

Aber welch ein Trost, sich gekannt zu wissen von einem Herzen, das nicht stirbt, nicht im Tode bricht. Ja, „was ist der Mensch, daß du seiner gedenkst!" Er kennt jede stille Frage, jede Sehnsucht nach Ihm, wenn auch noch so verborgen und unausgesprochen, jede Noth, die Ihr Niemandem anvertrauen könnt. Er kennt den glimmenden Docht und will ihn nicht auslöschen, Er kennt das zerstoßene Rohr und will es nicht zerbrechen. Er weiß auch „wo Jhr wohnet". Er kennt die Lage und die Verhältnisse, in die Ihr in jungen Jahren gestellt seid; die Versuchungen und Anfechtungen, die Jeden besonders erwarten. Welch ein Trost: der HErr kennt mich! Wenn die Leute Euch verkennen, Euch um Eures Glaubens willen verlachen und obscure, unbekannte Leute nennen, seid getrost, wenn Er Euch nur kennt und wenn von Euch nur gilt: Ich bin bekannt den Meinen, daß Ihr wißt, was Ihr an Ihm habt. Ach, viele Menschen rühmen sich ihrer großen und vornehmen Bekanntschaften, Den und Jenen zu kennen. Ja, was ist es? Wen kennen sie denn? Einen Menschen, der morgen vielleicht schon von der Erde weggeweht ist, wie der Staub auf der Straße. Christum und durch Ihn den Vater kennen, im Himmel bekannt sein, das ist unendlich mehr.

Als der Bischof Beveridge im Sterben lag, kamen seine Kinder und fragten ihn: „Vater, kennst Du uns"? und er ant

wortete: „Ich kenne Euch nicht". Als seine Frau ihn fragte: „Beveridge, kennst Du mich"? sagte er: „Ich kenne Dich nicht". Als seine Freunde ihn fragten, dieselbe Antwort. Da fragte ihn schließlich Einer: „Beveridge, kennst Du Jesum Christum?“ Da richtete er sich hoch auf, sah empor und sagte: „Ob ich Ihn kenne? Siebzig Jahre ist Er mein Trost gewesen und mein Licht, sollte ich Ihn nicht fennen?"

Das heißt Christum kennen, wie wir von Ihm erkannt sind, wie Er uns einst rufen wird mit Namen, wie den Zachäus, wie die Maria am Ostermorgen.

Aber die ihn kennen, von denen sagt Er weiter:

„Sie folgen mir."

Sie folgen Jhm, gehe es nun auf die grüne Aue am Morgen, gehe es durch die Wüste am Mittag, gehe es durchs finstre Thal am Abend fie gehorchen und folgen Jhm, ob Er schweigt oder redet. Aber sie folgen durch freien Zug der Seele, nicht genöthigt, nicht gezwungen. Sie folgen wie das Eisen dem Magnet, wie die Blume dem Lichtstrahl, wie die Schwalbe, wenn der Winter kommt, dem Zug, der sie nach Süden treibt.

Ach, daß auch Ihr Ihm folgtet! Wohl wird man Euch locken, von Ihm zu gehen, man wird Euch sagen, es sei nicht gut sein bei Ihm; man wird Euch vormalen, wie viel besser es sei, den eigenen Weg zu gehen, und doch, versucht's, ob Ihr wahrhaft glücklich ohne Ihn werdet. Hat's der verlorene Sohn nicht auch geglaubt, draußen sei Freiheit? Und wo ist er hingekommen? In die elendeste Knechtschaft. Ach, und hier besonders in dieser Stadt voll Versuchung und Anfechtung, voll Sünde und Jammer! Nicht bloß heute, tausendmal werdet Ihr im Leben an den Scheideweg gestellt, wo es heißt: Wem willst Du folgen? stand Mose einst, als er groß war, vor der Entscheidung. Entweder bei Pharao bleiben, ein Prinz in Egypten, oder mit dem Volke Gottes Schmach leiden; Alles drangeben, um der ewigen Belohnung willen (Ebr. 11). Und es giebt solchen Lohn — nicht erst dort, schon hier:

"Ich gebe ihnen das ewige Leben."

So

Lieben Kinder! Es giebt ein doppeltes Leben. Ein Leben irdischer Art, das hört mit dem Tode auf. Das ist der Leuchter, welcher im Tode umgestoßen wird. Aber auf ihm soll ein anderes Licht brennen, das ist das ewige Leben. Von oben legt der HErr denen, die Seine Stimme hören, Lebenskräfte zu, die nicht mit der Zeit vergehen. Aus der Gemeinschaft mit Ihm fließen Friede und Freude, Kraft und Trost ins Herz; lauter Dinge, die die Welt nicht geben, die kein Tod rauben kann. Dies Leben fängt hier schon an, und auf dieser Waage wägt man Alles auf Erden. Gewiß, es giebt eine Welt zu gewinnen, aber es giebt auch eine Seele zu verlieren, und der HErr hat's abgewogen: „Wenn Einer die ganze Welt gewönne und nähme Schaden an seiner Seele, was hülfe es ihm?" Die kleine Seele ist mehr werth als die ganze weite Welt. Ach, sucht nicht nach Leben, das im Grunde nur ein Tod ist; suchet Besseres, und beim guten Hirten werdet Ihr's finden. Er ist gekommen, daß wir das Leben und volles Genüge haben. Versucht's mit Anderen, es wird immer ein Abgrund im Herzen bleiben, den nichts stillen kann. „Du, o Gott, hast uns geschaffen zu Dir,“ so sagt das Wort des heiligen Augustinus, „und unser Herz ist unruhig, bis es ruht in Dir." Ja,

,,Nicht eine Welt, nicht eine Zelle
Giebt einer Seele ihre Ruh',

Kein wogend Meer und keine Welle

Strömt ihr ersehnten Frieden zu.“

Von oben muß der Friede kommen, wie Thau vom Himmel, aus dem Herzen Eures Heilandes strömt er in Euch hinein: „Ich lebe,“ spricht Er zu Euch, „und ihr sollt auch leben!" Wo Ver= gebung der Sünden, da ist Leben und Seligkeit.

So tragt denn dies ewige Leben, das Euch geschenkt, hindurch als ein kostbares Kleinod, als Euren Edelstein, zu dem das irdische Leben mit allem Schönen was es Euch bietet, nur die Fassung ist. Wer aber ewiges Leben hat, ist auch von Ihm in die Bücher des Lebens gezeichnet, ja, in Seine Hand selbst:

„Niemand soll sie aus meiner Hand reißen."

[ocr errors]

Das ist der süßeste Trost, lieben Kinder. Ihr ruht in einer starken Hand. Die Hand der Eltern hat Euch geleitet bis hierher

aber es kommt die Zeit, da lassen Euch diese Hände los. Jch gebe Euch aus meiner Hand, aber in eine stärkere als die meine ist, eine Hand, die nicht erkaltet im Tode, die lebenswarm Euch halten will, auch wenn Euer Aug' und Herz und Hand erkalten. Dieser Hand traue ich Alles zu, sie wird Euch halten und fassen, ob Ihr Flügel der Morgenröthe nehmet und Ihm entfliehen wolltet; sie wird Euch halten und schüßen, wenn Ihr untersinken wollt in den Wogen des Lebens. So schwach Ihr seid, so stark ist Er. Schafe haben keinen Halt in sich, keine Waffen. Aber der Hirte ist stark. Nun denn, so haltet Euch zum guten Hirten!

Ihr Eltern, haltet's mit ihnen! Reißt sie nicht weg vom guten Hirten! Laßt sie an Eurer Seite kämpfen den guten Kampf um die ewige Krone!

-

Lieben Kinder! Als der selige Pastor Strauß zum letzten Mal seine Kinder einsegnete, da betete er über ihnen: „HErr, laß sie alle fünfzig selig werden." Dann unterbrach er sich und sprach: „Ach, HErr, wenn Dir's zu viel ist, nur fünfundzwanzig.“ Und dann wieder: „Ach, es ist wohl zu viel, nur zwölf!" und zuletzt mit aufgehobenen Händen: „Ach, nur Eines!" Das sei auch meine Bitte in dieser Stunde. Ihr aber, meine geliebten Kinder, bittet den HErrn: laß mich das Eine sein laß uns alle das Eine werden: nur selig!

Daß wir einst Alle mit einander versammelt seien um den guten Hirten, der uns zur goldenen Aue, zu krystallenen Brunnen führen will, dazu verhelfe Euch und mir der große Erzhirte, Jesus Christus, hochgelobt in Ewigkeit! Amen.

« PreviousContinue »