Page images
PDF
EPUB

warten?"

Er will den glimmenden Docht nicht auslöschen und das zerstoßene Rohr nicht zerbrechen. „Der HErr ist nahe", ruft der lezte Advent und öffnet damit die Thür zum hellleuchtenden Christbaum.

Und in dieser Zeit, in dieser Morgenstunde tönt es als Morgengruß, angesichts dieses Brotes und Kelches mit den heilsamen Gaben des Leibes und Blutes unseres HErrn Jesu Christi: „Der HErr ist nahe". Es giebt wohl eine Nähe Gottes, die keine Seligkeit in sich schließt, die voll Schrecken ist. Er ist uns allenthalben nahe, wenn wir auch vor Ihm flüchteten „und nähmen Flügel der Morgenröthe und flögen ans äußerste Meer": Seine Hand würde uns faffen und Sein Arm uns ergreifen: „es ist schrecklich, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen." Aber es giebt auch eine selige Nähe, wo wir zu Ihm uns flüchten, wo Er nahe ist mit Seiner Gnade und Seinem Frieden.

„Nahe mit Seiner vergebenden Gnade", das will Er hier im heiligen Abendmahle uns ins Herz und in die Hand geben. So wahr ich dies Brot nehme und von diesem Kelch trinke, empfange ich Seinen Leib, für mich gebrochen. Ist doch das Menschenherz ein trozig und verzagtes Ding, es trozt auf Das, woran es verzagen sollte: an sich selber, es verzagt an Dem, worauf es troben sollte: an der Gnade seines Gottes. Da sollen wir es denn nicht bloß hören, sondern sehen mit den Augen, schmecken mit dem Munde, greifen mit den Händen: Ich habe Vergebung!

Nahe mit seiner Kraft. Wo Vergebung, da ist Leben. Wo die Scheidewand gefallen, die uns fündige Menschen scheidet vom heiligen Gotte, da strömt uns Licht und Leben aus Gottes Heiligthum, aus dem Herzen des HErrn zu. Solcher Kraft und Zeugnisses Seiner Nähe bedürfen wir ja Alle;

wer würde nicht

müde im Kampf mit sich selbst, müde in der Unruhe, die ihn umgiebt? Aber „Er giebt den Müden Kraft“, und ich denke, Er wird es Euch insonderheit sagen und fühlen lassen, in dieser Zeit, wo wir so ganz in Seine Hand uns geben müssen: „Fürchte dich nicht, ich bin mit dir, weiche nicht, denn ich bin dein Gott, ich

stärke dich und helfe dir auch durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit; der Herr ist nahe, sorget nichts!“

Nahe mit Seinem Frieden und Seiner Seligkeit. Wer will uns scheiden von der Liebe Gottes? Ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges mich scheiden mag von der Liebe, die in Jesu Christo ist, daß Alles im Leben, auch alles Versagen, alles Leid von Gott und von Menschen, mich Ihm näher bringen muß, dahin, wo ewiger Gottesfriede die Seele umfangen wird. Jedes heilige Abendmahl ein offener Himmel; wir sehen schon den Tisch gedeckt, wo wir's aufs Neue trinken werden in unseres Vaters Reich und sprechen im Glauben:

„Ich bin zufrieden, daß ich die Stadt gesehn,

Und ohn' Ermüden will ich ihr näher gehn.“

Ja, wenn Er sich so zu uns naht, dann gilt es auch uns: „Nahet euch zu mir“ — in aufrichtiger Buße zu allererst.

"

Der HErr ist nahe denen, die eines zerbrochenen Herzens sind". Den Demüthigen gibt Er Gnade, und denen, die sich ferne stellen, denen will Er doppelt nahe sein. So trat der Zöllner im Evangelium von ferne und wagte die Augen nicht aufzuheben, wie ein Angeklagter auf der Anklagebank; aber mit dem Schlag an die eigene Brust ist er näher seinem Gotte als der Andere, der sich mit erhobenem Haupte so nahestellt, aber das hochmüthige Herz ist ferne von seinem Gott! Darum, hin zu dem HErrn mit Allem was wir gefehlt im Himmel und auf Erden, vor Gott und Menschen; mit dem Kyrie, „HErr erbarme Dich!“ auf Herz und Lippen; aber auch mit dem ganzen seligen Vertrauen zu dem, der Sünde vergiebt und Missethat nicht zurechnet: Nahet euch im Glauben, denn der ist recht geschickt und würdig, der den Glauben hat an das Wort: Für euch gegeben und vergossen". Damit ergreifen wir Ihn selbst, mit unsrer Armuth Seinen Reichthum, mit unsrer Ohnmacht Seine Kraft, mit unsrer Schuld Seine Verheißung: „Wer zu mir kommt, den will ich nicht hinausstoßen“. Der HErr ist nahe! Wer vor Ihm mit dem Munde bekennt, wird gerecht, und wer mit dem Herzen glaubt, wird selig.

[ocr errors]

Nahet Euch im Gebet. Beten ist die ausgestreckte Hand, die den Arm Gottes in Bewegung setzt, ist der goldene Eimer, der hinabtaucht in das Meer der Gnade und nicht leer zurückkommen wird. Der HErr ist nahe Allen, die ihn anrufen, die ihn mit Ernst anrufen", die betend warten auf Sein Heil, weil sie wissen: „Ohne mich könnt ihr nichts thun".

"

Machet die Thore weit

König der Ehren einin niederen Hüllen", im unscheinbaren Gestalt des Aber selig, wer sich nicht

Wohlan, Advent ist vor der Thür. und die Thüren der Welt hoch, daß der ziehe! Er kommt wie damals so heute armen Gewande Seines Wortes, in der Brotes und Weines im heiligen Mahle. an Ihm ärgert! Dem will Er geben, an Seinem Tische zu nehmen Gnade um Gnade, der soll es erfahren unter des Heilands segnenden Händen: „Mein HErr Jesu, Dein Nahesein bringt großen Frieden ins Herz hinein". Den schenke Er uns heute und allezeit um Seiner ewigen Liebe willen. Amen.

6. Beichtrede

über 1. Buch Mose, 32, 26:

„Und er sprach: »Laß mich gehen, denn die Morgenröthe bricht an.<< Aber er antwortete: »Ich lasse dich nicht, du segnest mich_denn.«“

Am Gründonnerstag 1891.

In Christo geliebte Abendmahlsgäste! „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn", mit dieser Bitte, die der Pilger Gottes nach durchfämpfter Nacht beim Anbruch der Morgenröthe gethan, lasset auch uns in dieser Morgenstunde vor den HErrn treten. Denn um was wir bitten im heiligen Mahle und was uns der HErr verheißt, in dem einen Worte: „Segen" ist Alles beschlossen. Aus dem stillen Raume, den die Erinnerung in diesen Tagen aufs Neue geweiht, trägt uns das verlesene Evangelium weit über die

Lande in den schlichten Saal, da der Heiland mit Seinen Jüngern das alttestamentliche Osterlamm feiert. Inmitten all der Unruhe des Festes, des Wogens in den von Pilgern gefüllten Straßen, findet Sein Herz Mittel und Wege, die stille Stunde herauszubekommen, um das Ostermahl zum Abendmahl, den alten Bund in den neuen, die Knospe zur Blüthe, die Erlösung aus leiblicher Knechtschaft und Tode zum Gedächtniß einer ewigen Erlösung von Sünde, Tod und Verdammniß zu verklären.

Scheidend will Er ihnen ein Vermächtniß hinterlassen, in das sich wie in ein herrliches Kleinod der ganze Segen seines Kommens, Seines Leidens, Seines Sterbens und Auferstehens drängt, ein Vermächtniß, reich genug, daß auch das letzte Menschenkind auf Erden davon zehren und leben kann bis in die Vollendung der Dinge, da Er aufs Neue mit uns feiern wird in Seines Vaters Reich.

Die Liebe giebt nicht allein was sie hat und besigt, sie giebt sich selbst und was sie ist. Dieser ganze Liebesdrang und die ganze Liebesfülle bricht wie ein verhaltener Strom aus dem Herzen Jesu in dem Worte heraus: „Mich hat herzlich verlangt, dies Osterlamm mit euch zu essen, ehe denn ich leide“. Ja, als wollte er sagen: Ich kann euch nicht lassen und verlassen, ich segne euch denn". Und das haben auch die Jünger empfunden, so viel oder so wenig sie von dieser heiligen Stunde verstanden; so räthselhaft und geheimnißvoll das Thun ihres Meisters war, das Eine fühlten sie: segnen will Er uns mit einem himmlischen Segen, mit einem Frieden über alle Vernunft, mit einer Kraft nicht aus dieser Zeit und Welt. Er will bei uns bleiben, ja Er will in uns sein“.

Geliebte in dem HErrn! Und wir? Was begehrten wir Anderes als inmitten all der Unruhe, die uns umgiebt, eine stille Stunde, da der HErr uns nahetritt, — einen Eindruck tiefen göttlichen Friedens inmitten all unsres Kampfes; was möchten wir Anderes, als für unsere so oft strauchelnden und müden Kniee eine Stärkung, für unser, ach, oft noch weit müderes Herz eine Tröstung: „Fürchte dich nicht, ich bin mit dir, weiche nicht, ich

[ocr errors]

helfe dir und stärke dich auch durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit" diesen himmlischen Zuspruch unter allem Sprechen und Reden der Menschen? Was anders verlangen wir, als ein Los- und Freigesprochenwerden von Sünde und Schuld, wo uns unser eigen Gewissen verdammt und der Menschen Richterspruch uns trifft? Was möchten wir Anderes hören als: „Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöset und bei deinem Namen gerufen, du bist mein?" „Mein Sohn, meine Tochter, deine Sünden sind dir vergeben!"

"

Und diesen Segen will uns der HErr im heiligen Mahle schenken: Vergebung der Sünden, Leben und Seligkeit. Denn wo Vergebung der Sünden, da ist auch Leben und Seligkeit. So führt uns der HErr im heiligen Abendmahl auf die Höhe und Verklärung, daß wir's empfinden: „HErr hier ist gut sein“, nicht um da Hütten zu bauen, sondern herabzugehen und unsere Straße, so staubig und dornenreich sie sein mag, fröhlicher zu ziehen denn zuvor. Das will der Abendmahlssegen sein und Jedem unter Euch will Er in dieser Stunde bezeugen und versiegeln: „Ich lasse euch nicht, ich segne euch denn“.

Aber Sein Segen hängt an unserm Bitten. So tief und innig unsre Bitte, so reich und voll wird Sein Gewähren sein. Segnen, heilen kann Er nur ein zerbrochenes Herz. So will denn jede Vergebung erkämpft und errungen sein. Aus einer durchkämpften und durchweinten Nacht, aus einem zerbrochenen Herzen und zerbrochener Hüfte rang sich das Wort empor: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn". Trennend zwischen dem Segen Gottes stand wie eine Wolke die Uebertretung des Beters, dessen ist sich der Erzvater bewußt. Er weinte und bat ihn: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn“. So wollen auch wir bekennen: „ich bin nicht werth, daß du unter mein Dach gehst“, aber dann auch im Glauben fortfahren: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn“, Du schenkest mir denn Deine Gnade. Da gilt es, Gott bei seinen Verheißungen fassen und sprechen: „Mein Herz hält Dir vor Dein Wort: Ihr sollt mein Antlig suchen. Darum suche ich HErr Dein Antlig!" Und wenn es ist, als ob Frommel-Gedenkwerk. Bd V. Reden aus dem Amt.

[ocr errors]

8

« PreviousContinue »