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Kritik übernommen und nach Belieben gebraucht. Besonders ist wieder die Art, wie mit dem Worte Erkenntnis gewirtschaftet wird, unwissenschaftlich. Und nicht genug, dass in der „unmittelbaren Erkenntnis" die Lehre von den ideae innatae wieder aufgewärmt wird, muss auch Kant dabei herhalten: „Nachdem Kant nachgewiesen, welche Prinzipien a priori faktisch die Vernunft besitzt (!), blieb noch die Frage zu beantworten, weshalb die Vernunft gerade diese und nur diese besitzt (!)." Vernunft ist hier anthropologisch gedacht, bei Kant dagegen objektiv: gleich Erfahrung, Wissenschaft.

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Abh. VI. Über kritische Mathematik bei Platon. Ein Beitrag zur Ideenlehre" von Carl Brinkmann. Hier wird die Platonische Ideenlehre im Anschluss an die Geschichte der Philosophie von J. F. Fries behandelt.

Abh. VII. „Über den Gegenstand der Erkenntnis. Gegen Heinrich Rickert" von Ernst Blumenthal. In der Lobpreisung Fries' hat B. ganz entschieden die höchste Stufe menschlichen Könnens erreicht: Wenn wir die Fehler Rickerts verbessern, so haben wir in der Verbesserung die Friesische Lebre vor uns. Überhaupt alles, was alle Philosophen nach Fries und Apelt hervorgebracht haben mit Ausnahme rein historischer Erzeugnisse, ist überflüssig! Herr B. nimmt dabei hoffentlich an, dass Nelson und Mitarbeiter rein Historisches erzeugt haben. Wollen also wir Nicht-Friesischen nicht lieber auch alle in diesen philosophischen Himmel eingehen, wo Fries und Apelt thronen und um die Dreieinigkeit vollzumachen auch Kant bedingungsweise zugelassen ist? Vielleicht denken einige: Lieber soll uns der Teufel holen. Aber sie werden wohl noch durch das abschreckende Beispiel des Ketzers Rickert bekehrt werden! Der hat nämlich behauptet, dass sich eine Erkenntnis nach ihrem Gegenstande zu richten habe, um objektiv zu sein. Das hat Fries viel besser gewusst u. s. w. Wir kennen die Tonart schon.

Das Problem der Erkenntnistheorie lautet nach Rickert: „Die Erkenntnistheorie hat die Geltung der Erkenntnis zum Problem und sucht nach dem Begriff des Erkennens, der die Objektivität verständlich macht" (Gegenstand der Erkenntnis, S. 88). Der Vertreter der Friesischen Schule kritisiert: Erkenntnis ist eine Tätigkeit, deren ich mir durch innere Erfahrung bewusst werde“ (353). Dass diese Tätigkeit der Psychologie gehören soll, will Rickert gar nicht bezweifeln, denn er meint die Erkenntnis, zu

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der man kommen kann. Liegt darin nicht Objektivität? Er würde darunter z. B. den Lehrsatz des Pythagoras verstehen, nicht aber die innere Tätigkeit, durch die ein Schuljunge den Satz mit oder ohne Erfolg zu begreifen sucht. Was hätte nun dieser Lehrsatz mit der Psychologie zu thun? Wenn wir Rickert so nehmen, dann ist kein Grund mehr zur Verwunderung darüber, dass nach ihm nur im Urteil Erkenntnis liegt, nicht in der blossen Vorstellung oder Empfindung. Wenn B. aber später von dem „Rickertschen Satz von der Identität von Urteil und Erkenntnis" (358) spricht - so ist das eine Übertreibung schon darum, weil es auch falsche Urteile giebt. Oder sollte B. Rickert wirklich den Glauben zumuten, es gäbe keine falschen Urteile? B.s Aufsatz zeigt also wieder den alten Mangel einer Definition des Erkenntnisbegriffes, obwohl jeder mathematische Satz einen Doppelsinn des Wortes „Erkenntnis“ nahe legen musste. Die Schuld liegt eben in dem psychologischen Vorurteil, mit dem die Friesische Schule an das Problem von der Möglichkeit der Erfahrung und Wissenschaft herantritt.

Mit Rücksicht auf den angeführten Grundfehler des Friesischen Systems können wir von einer noch genaueren Besprechung der neuen Zeitschrift absehen. Immerhin dürfte sich ergeben haben, dass dieser wieder auferstandene Gegner des philosophischen Kritizismus nicht so gefährlich ist, wie er selbst glaubt. Die „Neukantianer" werden sich vor einem Meinungsstreit mit ihm nicht zu fürchten brauchen, und wenn wir in dem Kampfe ein der Entwickelung der Wissenschaft förderliches Element sehen, so können wir von diesem Heraklitischen Standpunkt aus der „neuen Folge" wenigstens einen mittelbaren Nutzen nicht ableugnen.

Neue Darstellung und Deutung der Lehre Kants

vom Glauben.

Von E. Sänger.

Kants Glaube, und zwar in seinem Verhältnis zum Wissen, ist schon von Ernst Laas im Jahre 1882 untersucht worden (Kants Stellung in der Geschichte des Konflikts zwischen Glauben und Wissen, Berlin 1882). Dieser eingehenden, aber das Eigentümliche des Kantischen Glaubens nicht genug würdigenden Untersuchung ist im Jahre 1903 die chronologische Darstellung des Kantischen Glaubensbegriffes von Ernst Sänger zur Seite getreten (Kants Lehre vom Glauben. Leipzig 1903).

Seitdem sind über dieselbe Frage zwei Abhandlungen erschienen. Die eine, Kants Auffassung des Verhältnisses von Glauben und Wissen und ihre Nachwirkung besonders in der neueren Theologie von Otto Richter (Programm des Kgl. Gymnasiums zu Lauban, Schuljahr 1904/5), will die chronologische Darstellung Sängers durch eine systematische Darstellung des Verhältnisses von Wissen und Glauben ergänzen. Die andere, Kants Glaube von Gottfried Fittbogen (Protest. Monatshefte, herausg. von J. Websky, 10. Jahrgang, Heft 3 und 4. Berlin 1906), macht den Versuch einer neuen Deutung des Kantischen Glaubens.

Nach einer methodologischen Vorbemerkung entwickelt Richter das Verhältnis von Glauben und Wissen zunächst nach seinem Zusammenhange innerhalb des philosophischen Systems Kants (S. 7-25). Er betont, was schon von Vaihinger (Geleitwort bei Sänger S. IV) hervorgehoben ist, dass das Problem von „Glauben und Wissen" von Kant zum ersten Male als innerphilosophisches erfasst worden sei; früher fiel der Gegensatz Wissen-Glauben mit dem Gegensatz Vernunft-Religion, Wissenschaft-Kirche zusammen, während bei Kant der historische Glaube einer positiven Religion in das Problem als solches garnicht hineinfällt. Im Anschluss an

die Kr. d. r. V. schafft Richter zunächst den Unterbau für den Kantischen Glaubensbegriff, indem er den Begriff der Erfahrung, den Unterschied zwischen Erkennbarkeit und Denkbarkeit der Dinge und den Begriff des Dinges an sich klarstellt und schliesslich Kants Ideenlehre kurz entwickelt. Vom Übersinnlichen haben wir kein Wissen; die praktische Vernunft allein kann diesen Mangel der theoretischen ergänzen. So leitet schon die Kr. d. r. V. in ihrem letzten Teil, der Methodenlehre, zu der praktischen Erkenntnisart über, um an Stelle des abgebrochenen ein neues Haus für die Metaphysik zu errichten. Hier wird gezeigt, wie sich theoretisches und praktisches Fürwahrhalten oder doktrinaler und moralischer Glaube unterscheiden. Der Glaube an das Dasein Gottes, die Unsterblichkeit der Seele und die Freiheit des Willens ist ein moralischer oder praktischer, ein freies Fürwahrhalten in reiner praktischer Absicht, ein Vertrauen auf die Verheissung des moralischen Gesetzes. In der Rel. i. d. Gr. d. bl. V. heisst dieser Glaube Vernunftglaube oder reiner Religionsglaube im Gegensatz zu den Formen des statutarischen, historischen Glaubens, die alle bestimmt sind, allmählich in den reinen Religions- oder Vernunftglauben übergeführt zu werden.

Das Wissen kommt der theoretischen Vernunft, das Glauben der praktischen Vernunft zu; Wissen und Glauben sind also zwei getrennte Funktionen. Trotzdem sind es nicht zwei völlig heterogene, einander ausschliessende Vorgänge des geistigen Lebens, sind sie doch beide demselben Oberbegriff Fürwahrhalten untergeordnet. Kant macht sogar Ansätze zu einer Theorie der religiösen Erkenntnis, also der Vorstellungsseite des Glaubens. Die Erkenntnis nach Analogie giebt Verhältnisbestimmungen und Beziehungsbegriffe, wodurch die Ideen in wirkende Beziehung zu uns treten, z. B. Liebe Gottes zu den Menschen. Die symbolische Erkenntnis geht nur auf unsere Vorstellungsart von Objekten nach dem sprachlichen Ausdruck, nicht auf Eigenschaften der Objekte, z. B. Gott vorgestellt als Vater. Der analogisch-symbolische Erkenntnisprozess wird ermöglicht durch das Organ der Einbildungskraft. Neben den kritisch negierenden Gedankenreihen laufen solche, die auch den Erkenntniswert und Erkenntnisgrad der Gegenstände des Glaubens betonen. Der moralische und transscendentale Beweis haben neben dem populären physikotheologischen ähnliche Bedeutung für Kant wie die herkömmlichen Gottesbeweise für die Philosophen vor ihm; nur bleibt sich Kant bewusst, dass es nicht strenge Beweise sind.

In diesem Zusammenhange erörtert Verf. die Frage nach dem Wesen der Metaphysik bei Kant. Eine kritische Metaphysik muss man Kant zugestehen (so schon Vaihinger).

Nachdem Verf. so in klarer Weise das Unterscheidende und danach das Verbindende der beiden Funktionen Wissen und Glauben dargestellt hat, zieht er die praktischen Folgerungen des Kantischen Standpunktes in Beziehung auf Wissenschaft, Kirche und Staat (S. 25-35). Diese Folgerungen zieht Kant selbst in der Rel. i. d. Gr. d. bl. V., noch zusammenfassender im ,,Streit der Fakultäten“. Dieser letzten Schrift gilt daher der zweite Abschnitt der Richterschen Abhandlung. Einige Bemerkungen über die geschichtliche Veranlassung der Schrift schickt Verf. voraus und skizziert dann den wichtigen ersten Hauptteil derselben nach seinen Grundgedanken. Den Grundgedanken Kants hält er für richtig; in der geschichtlichen Entwicklung der Mächte Glauben und Wissen findet ein Antagonismus wohl statt; dieser darf aber durch die Kirche, den Staat und die Wissenschaft nicht willkürlich verschärft werden, sondern muss auf die unvermeidlichen Grenzen eingeschränkt werden, innerhalb deren er dann Mittel zu höherer Wahrheitserkenntnis wird.

Der dritte Abschnitt der Richterschen Abhandlung erweitert in dankenswerter Weise den Anhang, den Sänger unter dem Titel „Die Einwirkung der kritischen Philosophie auf die Theologies seiner Schrift angefügt hat. Richter zeigt, welch' starken und verschiedenen Einfluss Kant in der Folgezeit auf die Entwicklung der Religionsphilosophie und Theologie hatte. Nachdem er in ähnlicher Weise wie Sänger zunächst den Einfluss Kants auf Schleiermacher und Albrecht Ritschl kurz erwähnt hat, entwickelt er besonders Gedanken von Herrmann, R. A. Lipsius und Pfleiderer in ihrem Verhältnis zu Kant. Herrmann verschärft den Dualismus der theoretischen und praktischen Vernunft zu ausschliessender Trennung von theoretischem Seinsurteil und religiösem Werturteil, indem er sich unter völligem Verzicht auf die Metaphysik an den Moralisten und Skeptiker Kant hält. Lipsius hält diese Scheidung für unmöglich in Rücksicht auf die theoretischen Bestandteile jedes religiösen Werturteils. Er fordert Metaphysik zur Bildung eines logische und ethische Werte, sinnliche und übersinnliche Erfahrung umfassenden einheitlichen Weltbildes und wird nach Kants Vorgang der typische Vertreter eines religiösen Symbolismus. Pfleiderer assimiliert sich die rationalistisch-monistischen Elemente Kants, wie er auch den analogisch-symbolischen Charakter der

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