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wodurch sie als bestätigtes Organ der Beförderung und Erhaltung der Religion die einzige heilige Schrift zu heissen und in unabsehliche Zeiten zu bleiben geeignet ist" (S. 5).

III. Äusserungen über die „Beglaubigung“ der Bibel.

,,Die Beglaubigung der Bibel, ein solcher beharrlicher Kanon zu bleiben, gründet [sich] also nicht wiederum auf göttliche Offenbarung [am Rande: einen geoffenbarten göttlichen Willen], dass sie für den einzigen heiligen Codex angenommen werden solle, sondern dass, weil keine Kirche ohne ein solches Buch nicht wohl sein kann, dieses, was einmal da ist und jenen Zweck der Religionslehre erfüllt, dazu angenommen zu werden verdiene. Keine theophilanthropische Gemeinde [oder] theologische Mystik wird den Mangel derselben ersetzen, weil die Erfahrung nicht bloss zeigt, dass ohne alles heilige Buch Barbarei in Religionsbegriffen sich einfinden würde, sondern auch weil dieses gegenwärtige System durch Erfahrung seine Brauchbarkeit in Ansehung alles Moralischen sich selbst zum Kanon berechtigt, den selbst die Regierung mit Achtung anzuerkennen nicht ermangeln wird" (ebend.).

„Der Schluss ist: Die Bibel enthält in sich selbst einen in praktischer Absicht hinreichenden Beglaubigungsgrund ihre[r] Göttlichkeit durch den Einfluss, den sie als Text einer systematischen Glaubenslehre von jeher sowohl im katechetischen als homiletischen Vortrage auf das Herz der Menschen ausgeübt hat, um sie als Organ nicht allein der wahren und inneren Vernunftreligion, sondern auch als Organ einer statutarischen fürs Volk auf unabsehliche Zeiten zum Leitfaden für den Kirchenglauben zu erhalten: Es mag ihr nun in theoretischer [Hinsicht], um den Ursprung derselben nachzusuchen, [und] für die kritische Behandlung ihrer Geschichte an Beweistümern viel oder wenig abgehen. Denn die Göttlichkeit ihres moralischen Inhalts entschädigt die Vernunft hinreichend wegen der Menschlichkeit der Geschichtserzählung und zieht diese vielmehr durch Akkomodation und Auslegung selbst siegreich in ihr Interesse [der letzte Satz lautet in seiner späteren Fassung im Streit d. Facultäten: „Die Göttlichkeit ihres moralischen Inhalts entschädigt die Vernunft hinreichend wegen der Menschlichkeit der Geschichtserzählung, die gleich einem alten Pergament hin und wieder unleserlich, durch Akkomodationen und Konjekturen, im Zusammenhange mit dem Ganzen, muss verständlich gemacht werden, und berechtigt dabei doch zu dem Satze: dass die Bibel, gleich als ob sie eine göttliche Offenbarung wäre, aufbewahrt, moralisch benutzt und der Religion als ihr Leitmittel untergelegt zu werden verdiene"] (S. 14).

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IV. Äusserungen über den Ursprung der Bibel.

Wie nämlich ein solches Buch, das so grossen Einflus auf den moralischen Gang der Weltbegebenheiten gehabt hat, zu Stande gekommen sein möge, so ist die Inspiration (Deus ex machina) ein sehr misslicher Erklärungsgrund dieses Phänomens, der auch zu[r]

Beglaubigung manches Religionswidrigen als Offenbarung gemissbraucht werden könnte. Man kann hievon wie von dem Zweckmässigen und Heilsamen, was sich im Laufe der Welt auch ohne unser Zuthun ereignet, und was nicht bloss als Zufall anzusehen ist, nichts andres als die Vorsehung nennen, welche sich auch aufs Thun und Lassen des menschlichen Geschlechts im grossen erstreckt“ (S. 63).

„Die Beurkundung überhaupt dieser Schrift als einer göttlichen kann nicht anders [erklärt werden] als durch erprobte Kraft desselben [? derselben], Religion in menschlichen Herzen zu gründen, und wenn sie durch mancherlei alte und neue Satzungen verunartet wäre, immer wieder zu reinigen, welches Ereignis wegen seiner unendlichen, aus der grössten Simplicität hervorgehenden Wirksamkeit zur Besserung der Menschen als ein Werk der Vorsehung, darum aber nicht minder als natürlicher Erfolg der fortschreitenden Kultur angesehen werden darf" (ebend.).

,,Dass die Bibel als das beste und seiner heilsamen moralischen Wirkung nach erprobtes Gesetzbuch der Religion doch als natürlichen Ursprungs anzunehmen sei, liegt schon in dem Princip des Vernunftgebrauches überhaupt. Dass sich aber vor einigen hundert Jahren Begebenheiten zugetragen haben, die den Stoff zur Abfassung dieses Buches als Normalschrift für die Religion überhaupt [geliefert haben], in welchem alles (selbst die natürliche Religion) statutarisch vorgeschrieben ist, muss als glückliches Ereignis zum Wohl des menschlichen Geschlechtes der Vorsehung überhaupt zugeschrieben werden, weil die Fortschritte der Menschen in der moralischen Kultur selbst in den damals aufgeklärtesten Völkern ein solches Organ der Religion hervorzubringen nicht vermochten. Dieses geschieht darum, damit die Existenz dieses Buches unerachtet seiner Zweckmässigkeit nicht dem Zufall oder unerachtet der Unerklärlichkeit seines Ursprungs nicht einem Wunder [d. h. der Inspiration] zugeschrieben würde, in welchen beiden Fällen die Vernunft auf den Strand gesetzt wird" (S. 82 f.).

Die Philosophie

im Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts."

Von August Messer.

Das zweibändige Werk, das unter obigem Titel als Festschrift zu Kuno Fischers achtzigstem Geburtstag von W. Windelband unter Mitwirkung von sieben anderen Vertretern der Philosophie herausgegeben worden ist, verdient wohl in den „Kant-Studien“ eine besonders eingehende Berücksichtigung.

Unter denen, die zur Erneuerung des Kant-Studiums beigetragen haben, steht ja Kuno Fischer in erster Linie, und andererseits zeigen fast alle Beiträge dieses Sammelwerks, wie bedeutsam auch heute noch Kant für unser philosophisches Denken ist.

Die Einleitung des Werkes bildet ein gedankenreiches Gedicht von Liebmann zu Ehren des Jubilars.

Es folgt die Darstellung der Psychologie durch ihren Altmeister Wundt. Er steckt sich das Ziel, den gegenwärtigen Zustand der Psychologie aus der Vergangenheit zu begreifen. Er beginnt mit der Mitte des 18. Jahrhunderts. Die Periode der deutschen Philosophie von Christian Wolff bis Kant scheint ihm in der allgemeinen Geltung der psychologischen Interessen und in den Hauptrichtungen, nach denen sie sich scheiden, gleichsam eine Vorläuferin der wissenschaftlichen Bewegung unserer Tage zu sein. Er charakterisiert näher die Psychologie Wolffs in ihrer Abhängigkeit von Leibniz, in ihrem Intellektualismus, wie er noch heute der Vulgärpsychologie eigen ist, und in ihrer die Einheit des seelischen Lebens bedrohenden „Vermögens"theorie.

Deren Nachwirkung zeigt sich deutlich bei Kant, der seine drei Kritiken der theoretischen, der praktischen Vernunft und der Urteilskraft den drei Grundvermögen des Erkennens, Wollens und Fühlens zuweist.

Aber zu Kants Zeit waren schon die Grundlagen jener instellektualistischen Vermögenspsychologie wankend geworden durch die Assoziationspsychologie, die sich bei Locke und Berkeley vorbereitet hatte und die bei Hartley und Hume zur Entfaltung gelangt. Man sucht jetzt die

1) Festschrift für Kuno Fischer unter Mitwirkung von B. Bauch, K. Groos, E. Lask, O. Liebmann, H. Rickert, E. Troeltsch, W. Wundt herausgegeben von W. Windelband. Heidelberg, C. Winter. I. Bd. (VIII und 186 S.) 1904. II. Bd. (200 S.) 1905.

seelischen Vorgänge als Produkte eines psychischen Mechanismus zu fassen, in dem blinde Gesetzmässigkeit gerade so waltet wie in der äusseren Natur.

Wirkungen dieser Assoziationslehre auf deutschem Boden zeigen sich in der Schule Wolffs, die eine mehr eklektisch empirische Richtung einschlägt und in Versuchen einer selbständigen Bearbeitung der psychologischen Probleme, die sich an die Nerven- und Sinnesphysiologie anlehnen. Hierher gehört: Moritz' „Magazin für Erfahrungsseelenkunde" (von 1783-93 in 10 Bänden erschienen), Kants Anthropologie und die psychologischen Schriften von Reimarus, Tetens und Tiedemann. Aber auch diese Versuche kranken an den zwei Schwächen der Psychologie der Aufklärungszeit: an der Schablone der Vermögensbegriffe und an der Rationalisierung des ganzen seelischen Lebens, die aus der Vermengung der eigenen Reflexion mit den Bewusstseinsthatsachen entsteht. Dazu kommt noch der Mangel an psychologischer Einsicht.

Diesem Mangel sucht eine Richtung abzuhelfen, die damals in ärztlichen Kreisen starke Verbreitung fand, und ihren abschliessenden Höhepunkt in der „Phrenologie“ Galls erreichte. Der Einfluss der englischen Assoziationspsychologie verband sich hier mit den in dem französischen Materialismus fortlebenden Traditionen der mechanischen Naturphilosophie Descartes' zu einer „physiologischen Psychologie", die „die Selbständigkeit der Psychologie preisgab und sie zu einem blossen Anhangs- oder Anwendungsgebiet der Physiologie zu machen suchte“.

Die gewaltige philosophische Bewegung, die mit Kant einsetzt, hat dieser psychologischen Ära ein Ende gemacht und ihre Erzeugnisse fast gänzlich der Vergessenheit anheimfallen lassen.

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Aber die neue Psychologie Herbarts bleibt doch trotz aller Verschiedenheit den Traditionen des 18. Jahrhunderts treu. Herbart sozusagen Leibniz und Wolff in einer Person". Sein Seelenbegriff zeigt mit der Leibnizschen Monade grosse Verwandtschaft; die Psychologie nimmt in seinem System wie in dem Wolffs die erste Stelle ein, und wenn er auch dessen Vermögenslehre bekämpft, so stimmt er doch mit ihm in der rücksichtslosen Intellektualisierung des Seelenlebens überein.

Aber wie im 18. Jahrhundert neben Wolff, so machte sich auch im 19. neben Herbart und im Gegensatz zu ihm die englische Assoziationspsychologie geltend. Ihr Prinzip war durch James Mill und Alexander Bain vereinfacht und auf die Gesamtheit der seelischen Prozesse ausgedehnt worden; auch hatte besonders Herbert Spencer ihren Zusammenhang mit der Physiologie ähnlich wie Hartley durchgeführt. Je

mehr durch diese englischen Einflüsse wirkliche Erfahrung und Beobachtung zur Geltung kam, um so mehr musste man erkennen, dass Herbarts angebliche Vorstellungsmechanik im wesentlichen Konstruktion war.

Neben der Einwirkung der englischen Psychologie ist die Entwickelung der Gehirnphysiologie bemerkenswert, die in manchen ihrer Vertreter an Gall und seine Phrenologie erinnert. Sie hat wenigstens zu den Ergebnis geführt, dass sie die älteren Vorstellungen über den „Sitz der Seele" beseitigte und nachwies, dass wir in dem Gehirn eine zentrale

Vertretung nicht nur aller einzelnen Körperorgane, sondern auch der mannigfachen funktionellen Verbindungen derselben zu sehen haben“. Man hat freilich die Feststellungen der Gehirnphysiologie in ihrer Bedeutung für die Psychologie oft in wunderlicher Weise überschätzt, aber allmählich dringt doch die richtige Ansicht durch, dass die Gehirnphysiologie viel mehr Fragen an die Psychologie stellt, als dass sie selbst im Stande wäre, die psychologische Analyse zu unterstützen.

Viel fruchtbarer für die Psychologie war die Entwickelung der Sinnesphysiologie, die durch Männer wie Johannes Müller, Ernst Heinrich Weber, Hering, Helmholtz gefördert wurde. Indem aber Helmholtz alle Wahrnehmungsvorgänge mittelst logischer Funktionen interpretierte, fiel er auf den Standpunkt der Reflexionspsychologie zurück, der seitdem in der neueren Sinnesphysiologie wieder vielfach in Aufnahme kam und von hier aus auch häufig auf die Psychologie selbst zurückwirkte.

Hilfe kam hier der Psychologie durch eine der verborgenen Nachwirkungen der vielgeschmähten Naturphilosophie Schellings: durch die Psychophysik Fechners. Dazu gesellten sich zunächst angereizt durch Bedürfnisse der Astronomie - Untersuchungen über den zeitlichen Verlauf der Bewusstseinsvorgänge, über die Beziehungen der subjektiven Zeitvorstellungen zu den objektiven Zeitwerten, über den Umfang des Bewusstseins und der Aufmerksamkeit, die Verhältnisse der Klarheitsgrade der psychischen Inhalte, die mannigfachen Phänomene bei ihrer Erhebung und ihrem Sinken im Bewusstsein u. s. w.

Indem diese Forschungen eine exakte Analyse der komplexen Bewusstseinsvorgänge als solcher erstreben, sind sie auch geeignet, die neue Psychologie von der Vormundschaft der naturwissenschaftlichen Disziplinen zu befreien, der sie nicht entraten konnte, so lange sie noch selbst in der Anwendung exakter Methoden ungeübt war.

Mit dem Gesagten sind auch die Hauptrichtungen der gegenwärtigen psychologischen Forschungsarbeit gekennzeichnet.

Die Psychologie und Physiologie der Sinnes wahrnehmung hat unter diesen bisher die relativ reichsten und gesichertsten Ergebnisse erbracht. Die Analyse der Wahrnehmungsvorgänge hat dabei auch gezeigt, dass die Vorstellungen nicht, wie die ältere Assoziationspsychologie annahm, feste Gebilde sind, sondern selbst „wandelbare Prozesse, deren Elemente sich in der mannigfachsten Weise verweben oder zu eigenartigen Neubildungen verschmelzen". Eben für diese Neubildungen hat sich das „Prinzip der schöpferischen Resultanten" als geltend herausgestellt, insofern ihre Eigenschaften weder einem einzelnen Element noch der blossen Summe der Elemente zukommen. Endlich war von grösster Bedeutung, dass aus der Sinnesphysiologie zum erstenmal das Experiment in die Psychologie selbst eindrang. Damit wurde erst durch planmässige Fixierung und Variierung der Bedingungen eine zuverlässige Selbstbeobachtung möglich.

Immer mehr hat sich auch die Sinnespsychologie selbst von der Sinnesphysiologie losgelöst. Für den Physiologen waren die subjektiven Phänomene nur Symptome physiologischer Vorgänge gewesen: für den Psychologen wurden sie das eigentliche Untersuchungsobjekt, das in seinem Bestand und seiner eigenen Gesetzmässigkeit ergründet werden sollte,

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