Page images
PDF
EPUB

Zur transscendentalen Methode
der Kantischen Ästhetik.

Von Anna Tumarkin in Bern.

Bei keinem Werke Kants fällt es uns vielleicht so schwer, uns einen genauen Begriff über Kants wirkliche Auffassung zu bilden, wie bei der „Kritik der Urteilskraft". Die Schwierigkeit liegt hier sowohl in der Sache selbst, als im Mangel genügender Vorarbeiten. Wenn schon bei den übrigen Werken Kants die Freiheit, mit der er sich der hergebrachten philosophischen Terminologie für seine von den hergebrachten grundverschiedenen Begriffe bedient, dabei den einmal gewählten Sinn durchaus nicht immer konsequent durchführend, Einem genug zu schaffen macht, so kommt bei der „Kritik der ästhetischen Urteilskraft" noch hinzu, die Schwierigkeit erheblich steigernd, die in der ästhetischen Litteratur beispiellose Armut an lebendiger ästhetischer Erfahrung, aus der wir den durch die Terminologie im Unklaren gelassenen Sinn der Kantischen Theorien erschliessen könnten. Und dazu kommt endlich, dass von allen kritischen Werken Kants auf das Studium der „Kritik der Urteilskraft" bis jetzt am wenigsten Mühe verwendet worden ist. Eine immanente Kritik und Interpretation der Kantischen Ästhetik hat erst begonnen. Die beiden grossen Werke Hermann Cohens „Kants Begründung der Ästhetik", 1889 und Victor Buschs „Essay critique sur l'ésthétique de Kant", 1896, das eine ebenso unbedingt an der Kantischen Ästhetik festhaltend, wie das andere sie schroff ablehnend sind, ausser den einschlägigen Kapiteln allgemeinerer Werke und ausser einigen Dissertationen, das Einzige, was die Forschung auf diesem Gebiete gezeitigt hat. Zwar haben die meisten neueren Ästhetiker ihren Ausgangspunkt von Kant genommen; aber es ist merkwürdig, wie willkürlich man gerade in dieser Disziplin bei der Interpretation Kants verfuhr, einzelne Gedanken, unbekümmert um deren ursprüngliche Bedeutung, aus dem Zusammenhang

[ocr errors]

herausgreifend und oft nicht mehr als den äusseren Ausdruck von Kant beibehaltend. So steht die immanente Kritik mit ihrer Devise, Kant aus Kant heraus zu verstehen, in Bezug auf die Ästhetik heute noch vor lauter Fragezeichen.

Bei dem vorliegenden Versuch, einige von diesen Fragen, und zwar diejenigen, welche mir als die dringendsten erscheinen, zu beantworten, einige von jenen Schwierigkeiten, auf die jede ernste Interpretation Kants stösst, zu lösen, gehe ich von demjenigen Begriffe aus, bei dessen Fortbildung die Ästhetiker sich am weitesten von dem ursprünglichen Sinne Kants entfernt haben, trotzdem er im Mittelpunkt der Kantischen Ästhetik steht. Es ist der Begriff des „Spiels der Kräfte".1)

Überall, wo die systematischen Grundfragen der „Kritik der Urteilskraft" sich zuspitzen, werden wir auf dieses Spiel der Kräfte hingewiesen: das ist das Prinzip, auf dem das Apriorische in der ästhetischen Betrachtung beruht und das so die Ästhetik unter die allgemeine Frage der Kantischen Philosophie bringt: „Giebt es synthetische Urteile apriori" (S. 66 f.,2) vgl. 33 f.); auf das Spiel der Kräfte weist jene „subjektive formale Zweckmässigkeit“ hin, welche aus der ästhetischen Betrachtung der Natur ein Gegenstück macht zur teleologischen, welche also die Ästhetik in die „Kritik der Urteilskraft" einreiht (S. 28 ff., 33 f., 64 ff.); und das Spiel der Kräfte ist es endlich, was ein Gefühl a priori begründend, zwischen der theoretischen und der praktischen Philosophie vermittelt und die „Kritik der Urteilskraft" der „Kritik der reinen Vernunft und der „Kritik der praktischen Vernunft" an die Seite setzt (13 ff., 35 ff.).

So steht und fällt mit dem „Spiel der Kräfte" die Kantische Ästhetik. Es ist daher durchaus konsequent, wenn Busch, der diesen Begriff für widerspruchsvoll hält, auch das ganze Kantische System als unhaltbar betrachtet (S. 208 ff.). Es scheint mir eine Sache der Unmöglichkeit, sich die einzelnen Resultate der Kantischen Ästhetik anzueignen, ohne diesen Begriff, der die Grundlage aller Einzelresultate bildet, in seiner ursprünglichen Kantischen Bedeutung erfasst, respektive dazu Stellung genommen zu haben.

1) In einem Referat am II. philosophischen Kongress 1904 (Comptes rendus, 281 ff.) habe ich diesen Begriff zu analysieren versucht; ein erneutes Studium von Kants Ästhetik hat aber zu einigen Modifikationen der damaligen Auffassung geführt.

2) Wo nichts anderes bemerkt, wird nach der Reclam-Ausgabe zitiert.

Die Art aber, wie die Psychologen seit Schiller den Begriff des Spiels gebrauchen, als freie, den Zweck in sich selbst tragende Bethätigung aller menschlichen Kräfte, ist nichts weniger als Kantisch. Kants Ästhetik ist überhaupt, wie sein ganzes System, nicht psychologisch, sondern transscendental zu fassen; nicht die psychologischen Vorgänge, als ein einzelner bestimmter Inhalt des Bewusstseins unter den vielen Bewusstseinsinhalten, bilden den Gegenstand seiner Untersuchungen, sondern die Thatsache des Bewusstseins als solchen, in der „Kritik der Urteilskraft" also die Thatsache und Eigenart des ästhetischen Bewusstseins (Kants Betonung seines transscendentalen Standpunkts der psychologischen Methode eines Burke gegenüber S. 38 ff., vgl. S. 4, 148). Und das Grundprinzip dieser transscendentalen Ästhetik, jenes transscendentale Prinzip, von dem „das Phänomen der Urteilskraft" abgeleitet wird (S. 5), ist der Begriff des „Spiels der Vorstellungskräfte“, genauer der Einbildungskraft und des Verstandes.

[ocr errors]

Hermann Cohen ist meines Wissens der Einzige, der mit Kants transscendentalem Begriff vom „Spiel der Kräfte" als Ausgangspunkt der Ästhetik Ernst macht; aber auch er hält sich nicht streng an den ursprünglichen Sinn des Terminus, an die Stelle von Einbildungskraft und Verstand alle Arten des Bewusstseins, Vorstellungen zu bilden" (S. 177) und an die Stelle der Kantischen Vorstellungskräfte" seine „Bewusstseinskräfte" setzend, zu denen er auch den Willen rechnet (S. 252). Das ist aber eine so grundlegende Umdeutung, dass man dabei kaum noch von „Kants Begründung der Ästhetik" sprechen darf.

99

Das freie Spiel, in das unsere Erkenntniskräfte bei der ästhetischen Betrachtung eines Gegenstandes versetzt werden und auf dem die Allgemeinheit und Apriorität der ästhetischen Beurteilung beruht, bezeichnet Kant als den „Schlüssel zur Kritik des Geschmacks" (S. 60 ff.). Es scheint, dass dieser Begriff auch der Punkt war, von dem die Konzeption der „Kritik der Urteilskraft" ursprünglich ausging. Auf Grund von Vorlesungsnachschriften, die Schlapp in seinem Werk „Kants Lehre vom Genie und die Entstehung der Kritik der Urteilskraft" (1901) nach ästhetischen Äusserungen durchsucht, können wir die Entwickelung von Kants Ansichten über die über die Ästhetik von den „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen" an bis in die neunziger Jahre verfolgen. Zunächst tragen die ästhetischen Betrachtungen einen einen ganz psychologischen

Charakter und bleiben, solange Kant an die Allgemeinheit und die Apriorität des Geschmacks nicht glaubt und höchstens eine empirisch-komparative, auf dem geselligen Verkehr beruhende Allgemeinheit zugiebt, von der reinen Philosophie ausgeschlossen. Bei seiner Erstlingsschrift ist sich Kant des philosophisch Unzulänglichen seiner Untersuchungen wohl bewusst: er werfe auf ,,die Besonderheiten der menschlichen Natur . . . mehr das Auge eines Beobachters, als des Philosophen" (Hartenstein, 1839, Bd. VII, S. 379); und während Burke das Werk, an das sich Kant anlehnt, zuversichtlich „A philosophical enquiry into the origin of our ideas of the sublime and beautiful" betitelt, nennt dieser das seinige bescheidener „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen." Noch zur Zeit der 1. Auflage der „Kritik der reinen Vernunft" giebt Kant die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Behandlung der Ästhetik nicht zu, und selbst den Namen „Ästhetik", den er für den I. Teil seiner „Kritik" in Anspruch nimmt, möchte er der neuen Disziplin nicht zuerkennen: „Die Deutschen sind die Einzigen, welche sich jetzt des Wortes Ästhetik bedienen, um dadurch das zu bezeichnen, was Andere Kritik des Geschmacks heissen. Es liegt hier eine verfehlte Hoffnung zum Grunde, die der vortreffliche Analyst Baumgarten fasste, die kritische Beurteilung des Schönen unter Vernunftprinzipien zu bringen und die Regeln derselben zur Wissenschaft zu erheben. Allein diese Bemühung ist vergeblich. Denn gedachte Regeln oder Kriterien sind ihren Quellen nach bloss empirisch und können also niemals zu Gesetzen a priori dienen, wonach sich unser Geschmacksurteil richten müsste, vielmehr macht das letztere den eigentlichen Probierstein der Richtigkeit der ersteren aus. Um deswillen ist es ratsam, diese Benennung wiederum eigehen zu lassen, und sie derjenigen Lehre aufzubehalten, die wahre Wissenschaft ist“ (Kr. d. r. V., S. 49 f.). Die 2. Auflage bringt eine kleine, aber bedeutsame Änderung, die darauf hinweist, dass der neue Standpunkt, auf dem Kant in der „Kritik der Urteilskraft" steht und der eine philosophische Behandlung der Ästhetik zulässt, 1787 bereits gefunden ist. Die Regeln seien ihren „vornehmsten" Quellen nach empirisch, so dass also daneben das apriorische Moment nicht ganz ausgeschlossen wird, und sie könnten nicht zu bestimmten" Gesetzen apriori dienen, womit wieder ähnlich wie in der „Kritik der Urteilskraft" nur die Möglichkeit objektiver Geschmacksregeln, nicht aber die subjektive

[ocr errors]

Gesetzmässigkeit der ästhetischen Beurteilung geleugnet wird; dem entsprechend heisst es auch, „entweder" solle man den Namen Ästhetik im Baumgartenschen Sinne eingehen lassen, „oder sich in diese Benennung mit der spekulativen Philosophie . . . teilen". Diese allgemeine Datierung der ursprünglichen Konzeption der „Urteilskraft", zwischen zwischen 1781 und 1787, dürfte aber einer noch genaueren Platz machen: am 25. VI. 1787 schreibt Kant an Schütz in demselben Brief, in dem er von der eben erschienenen 2. Auflage spricht, dass er „alsbald zur Grundlage der Kritik des Geschmacks gehen" werde; und es ist nicht unwahrscheinlich, dass es die Umarbeitung seines Hauptwerkes selbst war, die den neuen Plan entstehen liess; denn der Brief an Reinhold vom 18. XII. 1787, dieses wichtigste Dokument für die Entstehungsgeschichte der „Urteilskraft", während der Arbeit an der letzteren geschrieben, weist deutlich genug auf den inneren Zusammenhang zwischen der ersten und der dritten Kantischen „Kritik": sein Vertrauen in das aufgestellte System werde immer fester, weil, wenn im Fortgange zu anderen Unternehmungen „ich bisweilen die Methode der Untersuchung über einen Gegenstand nicht recht aufzustellen weiss, (ich) nur nach jener allgemeinen Verzeichnung der Elemente der Erkenntnis und der dazugehörigen Gemütskräfte zurücksehen darf, um Aufschlüsse zu bekommen, deren ich nicht gewärtig war. So beschäftige ich mich jetzt mit der Kritik des Geschmacks, bei welcher Gelegenheit eine andere Art von Prinzipien a priori entdeckt wird, als die bisherigen. Denn der Vermögen des Gemüts sind drei: Erkenntnisvermögen, Gefühl der Lust und Unlust, und Begehrungsvermögen. Für das erste habe ich in der Kritik der reinen (theoretischen), für das dritte in der Kritik der praktischen Vernunft Prinzipien a priori gefunden. Ich suchte sie auch für das zweite, und, ob ich es zwar sonst für unmöglich hielt, dergleichen zu finden, so brachte das Systematische, das die Zergliederung der vorher betrachteten Vermögen mich im menschlichen Gemüte hatte entdecken lassen . . . mich doch auf diesen Weg, so dass ich jetzt drei Teile der Philosophie erkenne, deren jede ihre Prinzipien a priori hat, die man abzählen und den Umfang der auf solche Art möglichen Erkenntnis bestimmen kann". Ich habe die wichtige Stelle ganz hingesetzt, weil sie allein Aufschluss giebt über die Entstehung und den inneren Aufbau der „Urteilskraft". Auf die verschiedenen hier gegebenen Erklärungen komme ich noch später zurück;

« PreviousContinue »