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Indem Plato die Erkenntnis als Bestimmung eines Unbestimmten, eines unendlich Bestimmbaren, als Begrenzung eines in sich Grenzenlosen, aber ohne Schranke fortschreitender Begrenzung Fähigen behauptet, spricht er den Sinn des Kritizismus in kaum zu überbietender Bestimmtheit aus.

Ebenso entschieden behauptet Aristoteles die abstraktive Ansicht. Von ihr aus, als der selbstverständlichen, unerschütterlichen Voraussetzung, beurteilt er Plato. Darum muss er ihn in jeder Aufstellung missverstehen. Wie aber kann man unter solchen Umständen fortfahren, Aristoteles als den berufenen Nachfolger Platos, als den natürlichen Erben und mächtigen Fortbildner seiner Philosophie darstellen? Dagegen würden gleich entschieden beide Philosophen Verwahrung einlegen.

Durch die Logik und Psychologie und entscheidend durch die Metaphysik des Aristoteles führt Natorp die Kontroverse des Aristoteles zu Plato hindurch, als Kontroverse des Dogmatisten gegen den Kriticisten.

Fordert Aristoteles eine deduktive Begründung der Erkenntnis aus ersten Sätzen (αρχαί, πρῶτα), aus wissenschaftlichen Anfängen (ἐπιστημονικαι doyai), so bedeutet es nicht die Anerkennung der Erzeugung des Gegenstandes aus den Bedingungen der Erkenntnis, sondern die Anerkennung jenes Rationalismus, dass das Sein gewissen denk-gemässen Bestimmungen unterliege, dem Denken wie ersichtlich entspreche.

Ist es Platos fundamentale Forderung, den empirischen „Gegenstand“ als Erkenntnisaufgabe grundsätzlich in eine unendliche Reihe von Bestimmungen funktionellen, nicht dinglichen Charakters aufzulösen, so fordert Aristoteles, dass der Beweis für den Gegenstand beiderseits endlich, abschliessend gegeben werden müsse. Denn der Sinn ist der Gegenstand ist gegeben, und dieses Datum, das wir haben, hat der Beweis, dem Daseins werte des Gegenstandes gemäss, abschliessend auszusprechen.

Die letzten Stützen des Beweises, jene „ersten Sätze", sind aber ,,durch sich" gewiss, einer logischen Rechtfertigung unbedürftig. Wir kennen darüber das scharfe Verdikt Kants. „Dann wäre alle Kritik des Verstandes verloren", die ganze Liebesmühe des philosophischen Eros, möchte Plato sagen, umsonst. Die letzte Stütze aller Erkenntnis der Prinzipien ist nicht eine transscendentale Deduktion, wie sie Aristoteles für den Identitätssatz zwar in Angriff nimmt, wenngleich er ihr nicht treu bleibt, sondern die Induktion im vulgären Sinne des „Wir sehen es“, „es ist augenscheinlich", „es zeigte sich nichts anderes". Und selbst die Wege der Abstraktion sind von den Sinnen vorgezeichnet.

Der wahre primäre Gegenstand der Erkenntnis ist nicht, wie dem Kritizisten Plato: die Bedingungen ihrer Möglichkeit, sondern für den Dogmatisten Aristoteles die konkrete Einzelsubstanz. Und nun beginnt das dunkle, unentwirrbare Schwanken zwischen dieser und dem „Allgemeinen". Hat aber Aristoteles begriffen, dass der Einzelne genau so nur das Einzelne des Allgemeinen ist, wie das Allgemeine das Allgemeine des Einzelnen? Dass das Einzelding nicht getrennt“, „neben“ dem Allgemeinen gesetzt werden darf, wie das Allgemeine nicht „neben“ und .getrennt vom Einzelding? Das ganze Verhältnis des Allgemeinen zum

Einzelnen findet nur in der Erkenntnis statt, ist nur als Gesetz des Logischen zu verstehen, ist die Eigenheit der óyo, der Setzungen des Denkens „in uns", welche in dieser unaufheblichen Korrelation ihren Ausdruck findet. Das Einzelne ist nur das Einzelne in vereinzelnder Betrachtung, wie das Allgemeine es ist im allgemeinen Gesichtspunkt des Denkens. Das aber weiss Aristoteles nicht.

Dem dogmatischen Denker sind darum die Kategorien nicht Grundformen des Denkens, sondern Grundformen der Daseinsweisen des Einzeldinges. Darum sind die beiden Kategorien des Thuns und des Erleidens nicht Eine Relation von Ursache und Wirkung im Kantischen Sinne, sondern zwei Aussageweisen.

Für Kant dagegen lösen sich die Dinge ganz und gar in Verhältnisse auf, in eine Unendlichkeit von Relationen; die Beziehungspunkte einer Relation sind zwar gegeben, aber ganz und gar nur als hypothetische ansetzbar. Somit ist das "Ding", die unzerstörbar beharrende Existenzgrundlage das Allerletzte, was unserer Erkenntnis zur Aufgabe gestellt ist. Absolute Erkenntnis ist uns unerreichbar.

Hier hat die kritische Arbeit ein für alle mal gegen Aristoteles entschieden dadurch, dass der Substanzsatz, wie jeder Erkenntnissatz, nicht ein analytischer, sondern ein synthetischer Satz ist. Er bedeutet ein Verfahren, den Gegenstand in der Erfahrung erst aufzubauen, bedeutet das Gesetz eines Prozesses der Erkenntnis, der ein unendlicher, abschlussloser nicht nur für das allgemeine Problem, sondern für jeden „Einzelgegenstand ist. Und Gegenstand als Substanz ist das, was wir als identischen Beziehungspunkt unserer Aussage mit jederzeit relativer, nie absoluter Gültigkeit ansetzen.

Somit ist das „Nicht-erschöpft-werden" des Einzelfalles durch die Definition, was Aristoteles bedauert, in schroffstem Gegensatz zu Aristoteles gerade das Wesen aller Erkenntnis. Die Definitionsbeziehung zwischen dem X (S) und dem A (P) ist mit nichten Identität. Da ist die Wurzel des aristotelischen Irrtums, der allerdings von der Mehrzahl der heutigen Logiker noch geteilt wird. Von solcher dogmatischen, abstraktiven Methode her vermag Aristoteles die genetische Methode Platos nicht zu begreifen. Unter seinen Händen wird die Ideenlehre Platos, anstatt zum Urtypus des echten methodischen Idealismus, den wir nach Kant Kritizismus zu nennen gewohnt wurden, zu dem wehrlos bespöttelbaren Zerrbild eines mystischen Dogmatismus von Ideendingen, über den sich der empirische Dogmatismus des Aristoteles erhaben dünkt.

Aber, wie wir zu zeigen versuchten, giebt nicht nur das historische Richteramt, dessen Natorp versieht, dem Buche seine Bedeutung. Der weite Horizont dieses Buches, in dessen Bezirk die Philosophie des Plato gegen die Philosophie des Aristoteles verteidigt, gerechtfertigt wird, erhebt jene Gestalten zu Repräsentanten der beiden Denkrichtungen der Menschheit. So lehrt uns Natorp, aus dem Thesauros Kants die ahnungstiefen Worte Platos zu deuten und unser eigenes Denken zum methodischen Idealismus reif zu machen, indem er uns den geraden Weg des Kritizismus von Plato zu Kant führt.

Ein unbekannter Brief I. Kants an Nicolovius.

Mitgeteilt von Dr. Erich Ebstein in Göttingen.

Mit Erläuterungen von Dr. Franz Jünemann in Beuthen.

Der hier mitzuteilende Brief Kants an Nicolovius befindet sich im Besitz des Herrn Robert Remak in Berlin, der die Veröffentlichung freundlichst gestattete. Da er in dem „Kants Briefwechsel" Band II (1789—1794), Berlin 1900 nicht enthalten ist, so dürfte er bisher gänzlich unbekannt sein. 1 Bl. 4o m. Adresse.

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Ew: Hochedl: bitte, außer den Druckfehlern, die Sie etwa noch in der von Ihnen verlegten Streitschrift möchten gefunden haben, noch den zu be merken (wo er anders wirklich in jener Schrift auf dem Titel anzutreffen und nicht im Meßcatalog nur verdruckt ist) da es nämlich im Meßcatalog steht: Über eine neue Entdeckung pp. statt deßen in meinem Manuscript es blos heißt: Über eine Entdeckung pp.

Noch ersuche: folgendes in dem Intelligenzblatt der Allgem.] Litt.] Z[eitung] einrücken zu laßen:

"In dem Leipziger Catalog von der Ostermesse d. 3. steht unter den Büchern die künftig herauskommen sollen: J. Kants Kleine Schriften, mit erläuternden Anmerkungen, ohne Nahmen des Herausgebers oder Verlegers. Ich hoffe, daß der, welcher diesen Einfall gehabt hat, sich eines amtren Besinnen, und dem Verfaßer selbst diese etwanige Besorgung, zusamt den hinzuzufügenden Anmerkungen, welche die seit dem mit seinen Begriffen von dergleichen Gegenständen vorgegangene Veränderung betreffen dürften, überlaßen werde, doch unbeschadet der Anmerkungen, die der Herausgeber darüber gemacht haben mag und die er auch ohne den Tert, wie es ihn beliebt, bekannt machen kan: Wiedrigenfalls die authentische Ausgabe in Collision mit der unrechtmäßigen dieser allem Ansehen nach zum Nachtheil gereichen würde. I. Kant."

Ich bin übrigens mit aller Hochachtung

Koenigsberg

d. 10. May

Jhr

ergebenster Diener
I. Kant.

1790.

Erläuterungen.

Ein neuentdeckter Brief Kants ist bei dem verhältnismässig geringen Umfange der von ihm vorhandenen Korrespondenzen immer von Interesse, selbst wenn der wesentliche Inhalt, wie wir noch sehen werden, schon bekannt ist. Die mannigfachen Beziehungen des Philosophen zu Verlegertum, Buchhandel u. s. w. habe ich anderwärts im Zusammenhange dargelegt.1) Der vorliegende Brief giebt Gelegenheit, diese Erörterungen inbetreff des Verhältnisses zu Nicolovius zu ergänzen.

Früher waren wir dafür im Wesentlichen auf den Bericht Jachmanns angewiesen. Wir hören von ihm, dass Nicolovius auf der Universität den Entschluss fasste, sich dem Buchhandel zu widmen. Kant, mit dem Vater des jungen Mannes befreundet, billigte das und versprach, ihn zu unterstützen. Sofort nach der geschäftlichen Niederlassung in Königsberg habe er ihm seine Werke gegen geringes Honorar in Verlag gegeben. Einer angesehenen deutschen Buchhandlung, die sich einige Zeit nachher Kant empfohlen und zu einem weit höheren Honorar erboten, hätte er erwidert, dass er die Summe selbst zu hoch fände und es für patriotisch und pflichtgemäss halte, dem Landsmanne und Sohne des ehemaligen Freundes einen kleinen Verdienst zuzuwenden.")

Diese Mitteilungen sind nach dem Briefwechsel verschiedentlich zu berichtigen und zu ergänzen. Friedrich Nicolovius stammte aus Königsberg und gehörte eine Zeit lang zu den Schülern des Philosophen. Bei den Unterzeichnern des Gedichtes, das Kant am 23. April 1786 zu seinem Rektorate überreicht wurde,3) findet sich neben zwei andern Vertretern des gleichen Namens auch ein F. L. Nicolovius, der wohl mit dem unsern identisch ist. Ende der achtziger Jahre war er dann in Riga, wahrscheinlich im Geschäfte Hartknochs, thätig. Von dort schreibt er zuerst unter dem 13.-24. Juni 1789 an Kant. Er dankt ihm für die kräftige Aufmunterung) zu seinem Vorhaben, in ihrer Vaterstadt einen Buchladen zu etablieren, und bittet um den Verlag des neuen Werkes. Michaelis beabsichtige er Riga zu verlassen, sich in Königsberg einzurichten und dann

1) Kant und der Buchhandel (Zeitgeist, Beiblatt zum Berliner Tageblatt, 1904. Umgearbeitet, vielfach erweitert und mit den Quellennachweisen versehen im Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, 1905).

2) R. B. Jachmann, Im. Kant geschildert in Briefen an einen Freund, 1804, 7. Brief; vgl. Schubert, Im. Kants Biographie, 1842 (in: Rosenkranz und Schubert, Im. Kants Sämtl. Werke, XI. Teil, 2. Abteilung), S. 86. Auf welchen Verleger sich die letzte Behauptung bezieht, ist nicht klar. Möglicherweise auf den Hamburger F. D. L. Vollmer, von und an den zwei Briefe aus dem Jahre 1797 erwähnt werden; nach Rinks Schreiben vom 13. Juli 1802 hatte er Kant ausserordentlich hohe Angebote gemacht.

3) Abgedruckt in Kants gesammelten Schriften, herausgegeben von der Königl. Preuss. Akademie der Wiss., XII, 430 ff. Dass Nicolovius Schüler Kants gewesen, erwähnt auch Jachmann a. a. O., 5. Br.

1) Die ihm Kant durch Vermittelung des Bruders, wahrscheinlich F. H. L. Nicolovius, hatte zuteil werden lassen. Vgl. dessen Brief an Kant vom 29..September 1793 und das oben erwähnte Gedicht.

Kantstudien XI.

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die Leipziger Messe mitzumachen. Durch Kants Beistand in dem angegebenen Sinne werde er hier erwünschten Kredit gewinnen; das sei umso nötiger, als er nun auch die Fürsprache entbehren müsse, die ihm der verstorbene Hartknoch zugesichert. Auf diesen Brief hin wurde Nicolovius durch seinen Bruder eine mündliche Antwort Kants in Aussicht gestellt, wie wir dem zweiten Schreiben vom 9.-20. September 1789 entnehmen. Weiter hören wir da, dass der Umzug nach Königsberg nicht vor Ende des Jahres stattfinden kann. Mit der wiederholten Bitte um ein Verlagswerk verbindet Nicolovius den Vorschlag, von den früheren Schriften Kants, die ja jetzt sehr gesucht seien, vor allem die Naturgeschichte und Theorie des Himmels wieder erscheinen zu lassen.

Dass der grosse Denker die Kritik der Urteilskraft, die er damals in erster Linie unter der Hand hatte, nicht dem jugendlichen Anfänger übergab, ist begreiflich; zumal sich die Vollendung des Buches infolge der Streitschrift gegen Eberhard verzögerte und der Druck dann im schnellsten Tempo erfolgen musste, um das Werk noch bis zur Ostermesse 1790 fertigzustellen.1) Weniger begreiflich aber ist, dass es nicht dem alten Hartknochschen Verlage, sondern dem Berliner Lagarde anvertraut wurde.2) Nachdem nämlich Johann Friedrich Hartknoch am 1. April 1789 gestorben war, hatte sein gleichnamiger Sohn das Geschäft übernommen und am 25. April um Kants fernere Gewogenheit gebeten. Vier Monate später, den 15.-26. August 1789, erwähnt er ein Memorandum aus den väterlichen Papieren über eine „Kritik des schönen Geschmacks", deren Druck er besorgen solle. Recht schmerzlich wäre es ihm, wenn das nicht der Fall sein und Kants Freundschaft gänzlich aufhören würde. Thatsächlich hatte auch schon der ältere Hartknoch, nach dem Briefe vom 6. Januar 1788, das Werk erwartet. Kants Verhalten erscheint nun keineswegs einwandfrei. Am 5. September 1789 antwortet er dem Sohne: „Ich habe mir hier angebotene ansehnliche Bedingungen ausgeschlagen,3) in dem ich ungern von alten Verbindungen abgehe. Sobald ich mit meiner unter Händen habenden Arbeit zu Ende bin, werde Ew. [Wohlgeboren] weitere Nachricht erteilen". Leider ist von dem Schreiben nicht mehr bekannt; Hartknoch zitiert die Stelle in seinem Briefe vom 9.-20. Oktober 1790. Gleichzeitig wurde aber mit Lagarde angeknüpft, wie wir den 2. Oktober 1789 vernehmen. Die bittere Stimmung, die bei Hartknoch unter jenem Datum hervorbricht, ist daher recht begreiflich. Dass er übrigens Kant die Unterstützung des von ihm geliebten und hochgeschätzten Nicolovius nicht verdenke, bemerkt er ausdrücklich.

Anfang 1790 also siedelte Nicolovius nach Königsberg über und erhielt zunächst die zweite wichtige Schrift des Jahres, die Polemik gegen

1) Vgl. den Briefwechsel von 1789 und Anfang 1790 zwischen Kant einerseits und Lagarde, Kiesewetter und Reinhold andererseits.

2) Wenn dieser sich nicht anheischig gemacht hätte, das Werk bis zur Ostermesse zu liefern, würde Kant sogar mit einem dritten Buchhändler, Himburg in Berlin, angeknüpft haben; Brief an Kiesewetter vom 21. Januar 1790.

3) Auf welchen Verlag sich das bezieht, ist wiederum nicht bekannt,

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